Tin Men. Mike Knowles

Tin Men - Mike Knowles


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hatte, um aufzustehen. Os sah seinem dürren Partner nach. Der Vergewaltiger starrte stur geradeaus.

      »Du hättest reden sollen«, sagte Os.

      Der Typ lächelte leicht.

      Os spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Am liebsten hätte er den Typen mit der Fresse zuerst in die Betonwand gedonnert, hart genug, um Zähne rauszuschlagen und Knochen zu brechen, aber das ging hier drin nicht. Im Nebenzimmer stand ein Monitor, auf dem andere Detectives das Verhör verfolgten. Os hatte mehr Stunden auf diesen kleinen Bildschirm gestarrt als auf seinen eigenen Fernseher zu Hause. Er kannte den Kamerawinkel und das ziemlich unscharfe Bild genau und hatte sich absichtlich den linken Stuhl ausgesucht. So saß er mit dem Rücken zur Kamera.

      Die Kamera war nach Durchschnittsmaßen ausgerichtet. Os war mindestens einen Kopf größer und fünfzig Pfund schwerer als alles, was einem Durchschnittsmenschen ähnelte. Seine Übergröße bedeutete, dass die Kamera ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht wurde, wenn sich Os auf den linken Stuhl im Vernehmungsraum setzte. Os war eins achtundneunzig groß, und wenn er sein Jackett über die Stuhllehne legte, hing es auf dem Boden. Dadurch waren seine Füße nicht zu sehen. Woody hatte vor Jahren einen Witz über Os’ XXL-Jackett gerissen: Er würde darin aussehen wie Onkel Fester von der Addams Family. Ein paar Kollegen hatten gelacht, und ein neuer Spitzname war geboren. Der Name überlebte keine Woche, aber Os hatte nie vergessen, was die Kamera sah – und was nicht.

      Er stellte die beiden Kaffeebecher in die Mitte des Tisches, zog sein Jackett aus und setzte sich. »Das Gespräch war ein bisschen einseitig.«

      Der Vergewaltiger beäugte den Kaffee. Nachdem er mit angesehen hatte, wie sein anderer Vernehmer Tasse um Tasse schlürfte, hatte er jetzt natürlich Durst.

      Os sah die Becher an, dann den Mann. Er zuckte die Achseln. »Nur zu.«

      Der Vergewaltiger streckte die mit Handschellen gefesselten Arme aus und hob langsam den Plastikbecher an den Mund. Der Kaffee war besonders schlecht und besonders heiß, wie der Mistkerl zu Os’ großer Freude schnell herausfand. Beim ersten vorsichtigen Schluck verbrannte er sich die Zunge, zuckte zusammen und wollte den Becher wieder abstellen. Als er noch etwa drei Zentimeter über der Tischplatte schwebte, streckte Os das Bein aus und schob den Stuhl des Typen ein Stück nach hinten. Die Bewegung war schnell und behände und an Os’ Oberkörper nicht abzulesen. Der Vergewaltiger hatte seine Aufmerksamkeit auf den Kaffeebecher gerichtet und kapierte einen Sekundenbruchteil zu spät. Die abgerundete Tischkante bot weniger Halt als eine alleinerziehende Alkoholikerin, und schon landete der Becher im Schoß des Vergewaltigers.

      Ein Schrei, dann kippte der Stuhl um, als der Mann aufsprang und an die Wand zurückwich, wobei er krampfhaft versuchte, sich den Stoff seiner Hose vom Körper zu ziehen. Os erhob sich ebenfalls und zog umständlich Papierservietten aus der Tasche. Er hatte oft genug Kaffee auf seinen Anzug verschüttet und immer einen dicken Packen der dünnen Dinger dabei. Da der jammernde Typ keine Anstalten machte, sie zu nehmen, drückte Os sie ihm gegen die Brust und hielt sie dort fest.

      »Du musst besser aufpassen. Die Becher sind echt heiß«, sagte er gerade laut genug fürs Mikrofon.

      Denn Os wusste nicht nur, was die Kamera im Vernehmungsraum sah, sondern auch, was das Mikrofon hörte. Über die Jahre hatte er herausgefunden, dass es im Kabuff eine tote Zone gab, in der nichts aufgezeichnet wurde, was unter normaler Gesprächslautstärke lag. Os drückte dem erstarrten Mann die Servietten an die Brust, ließ sie dann mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung los und bohrte ihm einen Daumen in den Brustkorb. Eine von inzwischen abgekühltem Kaffee noch feuchte Hand landete auf seiner und versuchte, den eingedrungenen Daumen wegzuziehen. Os wandte das Gesicht von der Kamera ab und sagte: »Hoff mal lieber auf einen miserablen Anwalt. Vergewaltiger leben draußen gefährlich. Da können einem schlimme Dinge passieren.« Dabei senkte er seinen schweren rechten Stiefel auf den leichten Nike-Trainer des Vergewaltigers herab und erhöhte den Druck, ohne dass mehr zu erkennen gewesen wäre als ein plötzliches Aufkeuchen, zu leise für das schlechte Mikrofon. »Und jetzt entschuldige dich dafür, dass du den Kaffee verschüttet hast.«

      »T-tut mir leid.«

      Os hob die Stimme, damit das Mikrofon ihn hörte. »Kann ja mal passieren.«

      Er nahm den Fuß weg, gab dem Vergewaltiger einen Klaps auf den Rücken und wandte sich um, um sein Jackett von der Stuhllehne zu ziehen.

      »Setz dich«, sagte Os. »Ich versuch dir jetzt mal einen Anwalt zu besorgen.«

      Als er endlich Feierabend hatte, war es spät geworden. Er hatte gehofft, noch rechtzeitig zum Kampf im Sully’s zu sein. Dort war es nie sehr voll, und auf Os’ Bitte hin schaltete der Barmann immer bereitwillig auf ESPN2 Classic Boxing um. Heute lief Cassius Clay gegen Sonny Liston. Os mochte Liston. Vor seiner Profikarriere war der ehemalige Schwergewichtschampion Knochenbrecher für die Mafia gewesen. Harte Muskeln und ein schwarzes Herz. Und er kämpfte, als hätte er eine Riesenwut auf die Welt. Jeder Schlag sollte wehtun – sogar seine Führhand war aus Dynamit. Clay hatte ihn geschlagen, aber Liston hatte dafür gesorgt, dass er sich den Sieg schwer erkämpfen musste; als Clay aus dem Ring stieg, wusste er, was er hinter sich hatte.

      Os schaute beim Fahren immer wieder nach allen Seiten. Nach Jahren im Streifenwagen und noch mehr Jahren bei der Armee reichte ihm der Blick geradeaus auf die Straße nicht. Er fuhr zu schnell und kam trotzdem nicht weiter, weil irgendein Arschloch bei der Stadt die Ampeln so geschaltet hatte, dass niemand mehr als zwei Grünphasen hintereinander schaffte. Er drehte das Lenkrad seines Jeeps hin und her und verfluchte die Uhr. 23:14. Wahrscheinlich war der Kampf schon zu Ende. Er würde gerade noch mitbekommen, wie Liston das Handtuch warf, und dann seinen Drink zu koreanischem Pingpong leeren müssen. Durch den Vergewaltiger und den verpassten Kampf waren Os’ Nerven angespannt, und als er einen Typen gegen eine Hauswand pissen sah, rissen sie.

      Drei weitere Männer hingen auf der winzigen Rasenfläche vor dem Haus rum und warteten, bis der vierte sein nasses Geschäft verrichtet hatte. In seiner Zeit in Uniform hatte Os die Tür dieses Hauses nach Beschwerden über das darin hausende Pack zweimal eingetreten. Die Tür war immer noch zugenagelt, die vier Typen waren also schlau genug, den Hintereingang zu benutzen. Os parkte drei Häuser weiter und stieg aus.

      Mit gesenktem Kopf ging er die Straße entlang. Er schlug den Kragen seines Wollmantels hoch und stopfte die Hände in die Taschen. Die Temperatur war heute nicht über minus fünf gestiegen, die Nacht schien den Nachmittag als Ansporn zu nehmen und das Thermometer noch mal um zehn Grad zu drücken, nur um auf dicke Hose zu machen. Os’ Klamotten verkündeten nicht Cop, ebenso wenig wie seine Hautfarbe. Die meisten würden einen Schwarzen nicht für einen Polizisten halten. Os war scheißegal, wofür die meisten ihn hielten. Oft nutzte er den allgemeinen Rassismus zu seinem Vorteil; Vorurteile halfen ihm, viel näher an die Arschlöcher ranzukommen. Wenn die zu blöd waren, ihn für einen Cop zu halten – ihr Pech.

      Die vier unterbrachen ihr lautstarkes Gegröle erst, als Os den Gehweg verließ und den schneebedeckten Vorgarten betrat. Der bräunliche Schnee hatte nichts mit dem weißen Zeug auf einer Weihnachtskarte gemeinsam. Die Stadt schüttete Unmengen von Sand und Salz auf die Straßen, und die Schneepflüge schmissen den Brei auf die Grundstücke der Anwohner. Das Gras unter dem Schneematsch überlebte nur, wenn jemand wirklich viel Zeit und tonnenweise Wasser einsetzte. Os vermutete, dass keiner von diesen Junkies irgendwas zum Wachsen bringen konnte.

      »Was willste?« Die Frage kam von einem Weißen, der sich auf der Haustreppe niedergelassen hatte. Ein anderer aus der Gruppe stand auf, ein schwarzer Typ mit dem Gesicht voller Narben und zwei Zahnlücken.

      Os überlegte, was die vier genommen haben mochten. Meth war allerorten, aber wie die Medien berichteten, hatte sich in letzter Zeit auch Fentanyl verbreitet. Die Notfallärzte konnten sich schon mal für die Mischung aus beiden Drogen bereit machen. Dirty hieß das. Os musterte die vier verdreckten Junkies und fragte sich, ob sie auf Ironie standen. In den vier Augenpaaren, die ihn anstarrten, war kein Fentanyl zu erkennen. Jeder der Männer hatte irgendeinen Tick, ein wippendes Knie oder schnelles Blinzeln, was nicht für ein Opiat sprach – es waren Methheads.

      Os verteilte im Kopf Nummern. Der Laberer war Nummer


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