Nebelmaschine. Elena Messner

Nebelmaschine - Elena Messner


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debattiert, noch einmal nachgelesen, weiter debattiert, sogar gepfiffen und ausgebuht. Niko, der, wie ich verstanden hatte, in der Gruppe die Rolle des Gastgebers innehatte, wollte den offenen Brief, den »die Mazur«, wie sie Magda nannten, verfasst hatte, vorlesen lassen. Edwin hatte über Nacht seine Installation aus Pfandflaschen fertig montiert, die hing den Lesenden direkt über den Köpfen, als sie sich auf die Bühne stellten. Immer wieder gingen die milimetergroßen Lämpchen in dem grünen Glas an, aus, wieder an. Das Licht hinterließ farbige Spuren, nicht nur auf ihren Köpfen, sondern auch auf den aus der Zeitung kopierten Zetteln, die sie in ihren Händen hielten.

      Die Stimmen der Lesenden, unterbrochen von Lachen, Klatschen und Rufen, verkündeten zunächst den Titel des offenen Briefes: »Aufruf zur Solidarität«. Den Text, der dann folgte, kannte ich fast auswendig, Magda hatte ihn mir mehrfach vorgelegt, mich zunächst um Feedback gebeten, dann mit Pflichtmiene um Unterschrift. Er enthielt die Erklärung, dass vor zwei Wochen die Landesregierung verkündet hatte, den Etat der Schauspielensembles des Bundeslandes zu kürzen. Bleibt zu sagen: Die Summe, um die es ging: ein paar Hunderttausende Euro. Vergleichsweise also nichts, wenn man bedachte, dass die Landesverschuldung zu jenem Zeitpunkt bei neunzehn Milliarden lag, und wenn man außerdem bedachte, dass dies dem Zehnfachen des jährlichen Landeshaushalts entsprach. Die damalige Situation lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Die Politik hatte für die landesweit größte Bank gebürgt, die in mehrere Spekulationsskandale verwickelt gewesen war, deren Ausmaße zum damaligen Zeitpunkt kaum jemandem klar waren (oder doch? Man weiß ja kaum, wer wann zu Wissen gelangt). Allerdings ging diese Bürgschaft bereits als ein boshaftes Zukunftsgespenst um, ein toxisches Versprechen, das aus Nichts gemacht worden war, aber keine Nichtigkeit bleiben sollte.

      Im offenen Brief fehlte fast alles, was einen Zusammenhang dieser Bürgschaft und ihren Folgeschäden herstellte, obwohl gerade auf diese Folgeschäden, auf die Verwicklungen, die sie verursacht hatten, wiederum die Reform oder, wie Magda es im Brief nannte, die Abschaffung der Kulturpolitik zurückzuführen war. (Und das sieht man nicht erst retrospektiv so, das hatte dereinst auch Magda so gesehen; sie hatte es mit mir genau so besprochen, aber dann bewusst nicht in den Brief aufgenommen.) All das erhielt im Brief nur kurze Erwähnungen: die Bank als Zockerbude, Kredite als Halsbruch, Verschuldung und Milliardengrab. Stattdessen wurde ausführlich beschrieben, dass die Brauchtumsvereine beziehungsweise ihre den performativen Künsten kaum zuzurechnenden Faschingsumzüge und Volksfeste von den Kürzungen verschont geblieben seien. Ebenso verschont geblieben war als anerkannte Kulturinstitution das Stadttheater. Wogegen freilich nichts zu sagen sei, schrieb Magda, Intendantin ebendieses Stadttheaters, schlimm aber sei es, die kleineren Bühnen zu bestrafen: Der Umfang der Kürzungen sei für die von staatlicher Finanzierung übergangene freie Szene so hoch, dass er sich durch Kartenverkauf nie mehr ausgleichen ließe. Dies bedeute für kleinere Ensembles des Landes zumeist das Ende, und dies wiederum bedeute eine Kampfansage, mehr noch, einen Vernichtungsschlag der Landespolitik gegen die Landeskultur.

      Ich weiß noch, dass mir der Text, an dem ich mitgearbeitet hatte, während er öffentlich vorgelesen wurde, bissig und fremd erschien. Zudem wurde das Vorlesen zu einem Desaster: Man kam durcheinander, wiederholte zu oft, las unterschiedlich schnell, stolperte über die erste Formulierung, dann die zweite und dritte, fand keinen gemeinsamen Rhythmus, keine gemeinsame Linie. Da hieß es sechsmal, die Sparbeschlüsse seien eine Verrohung und Bedrohung des Landes, es hieß dreimal, sie gefährdeten die Existenz und die Freiheit von Kultur, fünfmal, sie beschmutzten das Ansehen des Landes. Dabei passte die Körperhaltung der Menschen auf der Bühne nicht zum Gesprochenen, als ob sie sich dagegen zu wehren versuchten. Ein Mann zum Beispiel, den ich bei den Bargesprächen des Vorabends als still und aufmerksam erlebt hatte (er sollte später den Gerhard Oberbauer spielen, diese unglückselige Gertschi-Figur), ein Mann jedenfalls, dessen feste Schultern ich erinnere, ohne dass mir sein Namen einfällt, krümmte sich beim Lesen übermäßig stark, und was an diesen Schultern zunächst zuverlässig gewirkt hatte, wurde mit jedem ausgestoßenen Ruf weniger und weniger kräftig, er nahm sich zurück, versteckte sich fast, obwohl das Vorgelesene gerade das Gegenteil verlangt hätte. Auch die Jüngste unter ihnen, jene Mateja oder Marjeta, die mir bei den Proben später als schüchtern gespielte Lina immer wieder auffallen sollte, verrenkte sich unbeholfen, während sie vorlas. Als wären ihr die Sätze peinlich oder als stünde sie nicht hinter dem Gesagten: »Retten wir die freien Schauspielhäuser, denn wir Freundinnen und Freunde der Kunst sind fassungslos, dass so etwas in unserem Land möglich sein soll.«

      Am ärgerlichsten war Laura, die mit halb geschlossenen Augen vom Blatt las, ungerührt lächelnd, ironisch wohl (natürlich ironisch, ja sarkastisch sogar, denke ich heute, und es wundert mich, dass sie beim Vorlesen überhaupt mitgemacht hatte), genau wie bei unserer ersten Begegnung, als sie mir ihren Namen hingeworfen hatte, ihr übertriebener Tonfall war schwer auszuhalten, sie dehnte die Laute, leierte mehr, als sie las, ihr Blick drückte Herablassung aus: »Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass einige der innovativsten jungen Theater so massive Einschnitte durch eine kurzsichtige Sparpolitik erfahren, und werden daher mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diesen Kulturabbau vorgehen.«

      Das Dumme daran: In dem Raum gab es plötzlich einen Überschuss an Protest, der lächerlich wirkte. Tonfall und Syntax waren, wie es so heißt, völlig daneben, eine Inszenierung für die Katz. Es dauerte seine Zeit, bis sie einen einheitlicheren Rhythmus fanden. Erst, als die Leute jene Passagen vortrugen, in denen erklärt wurde, dass einige Wochen nach Bekanntwerden der Sparbeschlüsse sich eine Bewegung formiert und zum »Theater auf Lager« zusammengeschlossen hatte, sprich: erst, als von ihnen selbst die Rede war, hörten sie sich wieder einstimmig und überzeugt an, ohne Wiederholung, ohne Überlappung, ohne Übertreibung: »Das Ensemble hat seit dem letzten Wochenende angekündigt, sein Lagertor und die Proben offen zu halten. Es lädt alle Interessierten ein, vorbeizuschauen. Wir werden da sein. Kommen auch Sie!«

      Ich war froh, als das Ganze vorbei war und alle die Bühne wieder verließen. Wie erwartet wurde der Brief an dem Abend zum meistdiskutierten Thema. Es war das erste Mal, dass jemand in einem größeren Medium auf das Theater und seinen Protest hingewiesen hatte. Kein anderer Artikel, keine andere Nachricht oder Wortmeldung in der Presse berichtete genauer über die Sache. Das löste Freude, sogar Begeisterung bei manchen aus. Andererseits habe ich Uneinigkeiten und böse Witze in Erinnerung. Ein paar Szenen empfand ich sogar als angespannt, obwohl ich damals nicht verstand, weshalb. Ich sehe zum Beispiel: wieder die Bar, an der ich stehe und mit einem mir zugeneigten Niko rede, der Whisky oder Wodka trinkt. Die Kommentare, die er abgibt, sind aufmerksam, im Grunde sind wir uns zwar politisch einig, aber ich formuliere meine Meinung ernsthaft, er nur in beschwichtigenden Witzen, mit einem Lachen, das mich beruhigt. Oder ich sehe: noch einmal die Bar, vollgeräumt, der Kühlschrank, leergeräumt, eine Frau grinst mich an, fragt, ob ich alles alleine getrunken hätte und ob ich das am Stadttheater gelernt hätte. Ich sehe auch: Niko, der zu später Stunde auf die Bühne springt, sich bei mir bedankt, Zwischenrufe ignorierend, aber ein Niko, der (was mir bloß aus heutiger Sicht auffällt) weder das Stadttheater noch Magda erwähnt. Ich sehe: Laura, die von einem zum anderen eilt (ich wusste damals nicht, dass sie wie ich zu dem Zeitpunkt erst das zweite Mal im Lager gewesen war). Ich sehe: Iris und zwei Schauspielerinnen, wie sie ihre Köpfe zusammenstecken, während Niko auf der Bühne meinen Namen nennt und auf mich deutet, derweil steht ein Fotograf neben mir und fragt, ob er mich abbilden darf und ob ich ihm mein Einverständnis gebe, die Fotografie an seine Redaktion weiterzuleiten. Ich sehe: mich, die damit einverstanden ist, die Niko zu sich winkt, und ein paar andere, sehe uns umstellt von Leuten, die sich über den Fotografen, oder über uns, die Fotografierten, lustig machen. In dieser Stimmung entstand das Foto, das im Internet manchmal aufploppt, wenn rückblickend über die frühe Phase des »Theaters auf Lager« geschrieben wird. Aber das geschieht selten: Das Ende interessiert, nicht der Anfang.

      Wenn ich an weitere Eindrücke zurückdenke, die diese Stunden bei mir hinterlassen haben, sehe ich indessen vor allem eines: mich, als Technikerin, die den gesamten Abend nur eines im Kopf hat: das Licht. Ich sehe, wie die Halle ständig ihre Farbe wechselt, was sonst kaum jemandem auffällt, sehe, wie immer neue Zonen im Raum entstehen, sobald sie ausgeleuchtet werden, einmal die Bühne, dann die Bar, dann der Zuschauerraum. Ich sehe mich, wie ich Edwin beobachte, der sich hinter seinem Lichtpult versteckt, dann hervorkommt, um etwas zu verkabeln, umzustecken, an Dimmern


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