Hör nichts Böses. Kayla Gabriel

Hör nichts Böses - Kayla Gabriel


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Hexen gefangen gehalten wurde, würde ihr jeder Herzenswunsch erfüllt werden.

      Cassie lebte mittlerweile seit vier Jahren in dem Vogelkäfig, wie die Bewohner der Villa ihn nannten. Nach dem ersten Jahr hatte sie jegliche Fluchtversuche vollständig eingestellt. Pere Mal mochte sie zwar an der kurzen Leine halten und ungefähr einmal die Woche den Gebrauch ihrer Kräfte verlangen, aber ansonsten hatte Cassie ein gewisses Maß an Freiheit gewonnen. Manchmal holte Pere Mal sie sogar aus dem Vogelkäfig raus und nahm sie mit zu schicken Kith-Clubs im French Quarter, wo sie wichtige Leute kennenlernte.

      Cassie machte einen Satz, als ein leises Klopfgeräusch aus ihrem Schlafzimmer drang. Sich auf die Lippe beißend eilte sie in ihr Schlafzimmer und zog den schweren Schrank von der Wand weg. Hinter dem Schrank befand sich ein rundes Loch in der Wand, das ungefähr einen halben Meter im Durchmesser maß.

      In dem Loch kauerte mit einem wilden Blick in den faszinierenden dunkelblauen Augen Alice. Cassies einzige Freundin und Vertraute und ebenfalls Gefangene des Vogelkäfigs. Spatzen, nannten sie sich.

      „Du musst leiser sein“, schimpfte Cassie Alice.

      Alice zog eine dunkle Augenbraue hoch und kletterte aus dem Tunnel, den sie zwischen ihre Schlafzimmer gegraben hatten. Anschließend strich sie über die zwei dunklen Fischgrätenzöpfe, zu denen ihre langen, welligen rabenschwarzen Haare frisiert waren. Alice trug ein schlichtes, aber umwerfendes schwarzes Kleid, dessen Vorderseite von Perlknöpfen und einem weißen Kragen geziert wurde. Es war zweifelsohne genauso teuer wie Cassies Outfit. Vermutlich ein Rag and Bone Kleid, wenn Cassie sich bezüglich des Designers nicht irrte.

      „Wir werden schon nicht erwischt werden“, meinte Alice achselzuckend.

      Cassie schürzte die Lippen und musterte Alice einen Augenblick. Mit sechsundzwanzig war Cassie nur zwei Jahre älter als Alice, aber Alice nahm oft das nervtötende, unbekümmerte Verhalten eines sehr viel jüngeren Mädchens an. Cassie vermutete, dass Alices jugendliche Momente ein Produkt leichten Wahnsinns waren, ein Ort, an den sich Alice zurückzog, wenn die Welt um sie herum bedrohlich oder erdrückend war.

      Oder vielleicht war es auch nur eine Show und Alice verbarg ihr wahres Selbst vor Cassie genauso wie vor allen anderen. Obwohl Alice bereits vor drei Monaten angefangen hatte, ein kleines Loch zwischen ihren Zimmern zu graben und Cassie Botschaften zukommen zu lassen, hatte Cassie noch immer nicht das Gefühl, dass sie die andere Frau ganz verstand.

      „Das kannst du nicht wissen, Alice“, wand Cassie ein, wobei sie sich bemühte, ihre Ungeduld nicht in ihrem Tonfall durchklingen zu lassen.

      „Tatsächlich kann ich das“, sagte Alice und neigte den Kopf zur Seite. „Um dir das zu erzählen, bin ich hergekommen. Ich habe endlich eine Möglichkeit gefunden, einen Hilferuf abzusetzen. Es ist wie das Abschießen einer Leuchtpistole, aber mit magischer Energie.“

      Alice hob ihre Hand und ahmte die Bewegung nach, wie sie einen Schuss über ihrem Kopf abgab, und Cassies Neugier war geweckt.

      „Ich dachte, du könntest die Schutzzauber, die auf dem Vogelkäfig liegen, nicht entfernen“, erwiderte Cassie.

      „Ich kann alles tun, was ich mir in den Kopf setze, Cassandra.“ Alice nannte jeden bei seinem vollen Namen. „Du solltest das doch mittlerweile von allen am besten wissen.“

      Sie hatte natürlich vollkommen recht. Alice hatte den Großteil des Tunnels zwischen ihren Zimmern in einer einzigen Nacht gegraben, nur unter der Verwendung eines Metalllöffels, den sie von einem der Essenstabletts stibitzt hatte, die ihnen von der Küche geschickt wurden. Alice war sowohl entschlossen als auch furchtlos, eine bemerkenswerte und manchmal furchterregende Kombination.

      „Das stimmt allerdings. Du glaubst also, dass du uns wirklich retten kannst?“, fragte Cassie.

      „Ich bin mir so sicher, dass ich dir rate, deine Lieblingssachen einzupacken. Wenn ich ein Signal absetze, wird Pere Mal gezwungen sein, den Vogelkäfig zu räumen und uns alle woanders hinzubringen. Wenn wir erst einmal nach draußen kommen, werden wir unsere Taschen verstecken und dann werde ich für Ablenkung sorgen. Ab da…“ Alice zog ihre Augenbrauen hoch. „Flucht voraus.“

      Cassie dachte eine Sekunde darüber nach.

      „Wohin sollen wir denn gehen?“, fragte sie und schämte sich zugleich. Die Vorstellung von so viel Freiheit auf einmal jagte ihr Angst ein. Anders als Alice hatte Cassie niemanden, außer man zählte ihre Junkie-Eltern mit, die sie mit sechzehn verlassen hatte. Ihr beschissenes Zuhause war der erste vieler Faktoren und großen Peches gewesen, die sich lawinenartig gehäuft hatten, bis Cassie schließlich im Vogelkäfig gelandet war.

      Wenigstens bist du nicht in einem der Blutbordelle auf dem Graumarkt, rief sie sich stets in Erinnerung. Hättest du keine Kräfte, würdest du jetzt genau dort sein.

      „Irgendwohin“, antwortete Alice und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. „Wir können alles tun, was wir wollen.“

      „Und wann setzt du das Signal ab?“, wollte Cassie wissen.

      „Oh…“ Alice blickte Cassie mit großen Augen an. „Vor zehn Minuten, plus minus.“

      „Alice!“, rief Cassie, packte ihre zierliche Freundin an den Schultern und schob sie zurück zur Wand. „Geh zurück in dein Zimmer. Wenn sie den Tunnel sehen, werden sie wissen, dass du das Signal ausgesandt hast.“

      Alice seufzte.

      „Cassandra, du liebes Mädel. Das wissen sie vermutlich bereits. Deswegen müssen wir ja fliehen.“

      Ihrer Freundin einen finsteren Blick zuwerfend, drängte Cassie sie in den Tunnel.

      „Wir treffen uns an der Seite des Hauses in der Nähe des Meerjungfrauen-Springbrunnens“, flüsterte Cassie. „Wenn sie kommen, um dir zu sagen, dass du packen sollst, versuch dir nicht anmerken zu lassen, dass du mit ihnen gerechnet hast, okay?“

      Alice trat ohne ein weiteres Wort den Rückzug an und Cassie schob den Schrank ächzend zurück an die Wand. Einige lange Sekunden lehnte sie einfach nur an dem Schrank, ganz paralysiert vor Schreck, und starrte auf ihre liebevoll ausgewählten Schlafzimmermöbel. Es mochte ihr goldener Käfig sein, aber er war auch mit weiblichen, hübschen Dingen ausgestattet, die Cassie liebte.

      Cassie stieß sich vom Schrank ab, rannte zu ihrem begehbaren Kleiderschrank und fing an, die Sachen herauszuziehen, die sie einfach nicht zurücklassen konnte. Der Haufen nahm innerhalb weniger Minuten gigantische Ausmaße an, weshalb sie gezwungen war, ihn wieder und wieder zu reduzieren.

      Zu dem Zeitpunkt, an dem die Wachen an Cassies Tür hämmerten, hatte sie ihre Auswahl getroffen.

      „Herein!“, rief sie und lief in den Wohnbereich.

      „Du machst einen Ausflug“, erzählte ihr eine grimmige Wache im dunklen Anzug und warf zwei Koffer auf Rollen in den Raum. „Sei in zehn Minuten fertig.“

      Cassie nickte nur, während ihr das Herz wie wild in der Brust schlug. Die Wache knallte die Tür hinter sich zu und das Geräusch ließ Cassie erschaudern. Sie sah sich einen Augenblick in dem Zimmer um und wünschte sich, sie hätte ein paar persönliche Erinnerungsstücke, die sie mitnehmen könnte. Ihre Finger tasteten instinktiv nach ihrer Halskette, ein Silbermedaillon an einer Kette, die so lang war, dass sie den Anhänger unter allem verstecken konnte, das sie anzog. Der Anhänger war das Einzige, das sie von ihrer Familie behalten hatte. Das letzte Geschenk ihrer geliebten Großmutter, die gestorben war, als Cassie zwölf gewesen war.

      Sie schleifte ihre Koffer zum Schrank und verbrachte die nächsten Minuten mit Packen. Nachdem sie ihre Kleider eingepackt hatte, wühlte sich Cassie bis auf den Boden ihres Schranks vor und zog mehrere dicke Geldbündel hervor. Diese hatte sie im Verlauf der letzten Jahre sorgsam angesammelt, indem sie so getan hatte, als würde sie die Gegenstände, nach denen sie verlangt hatte, umtauschen und sie stattdessen verkauft hatte.

      Nachdem sie die Stapel aufgeteilt und in T-Shirts eingewickelt hatte, legte sie einen Teil des Geldes in jeden der Koffer, falls sie einen verlieren sollte. Anschließend rollte sie


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