Hör nichts Böses. Kayla Gabriel
Rhys wölbte eine Braue und seine Lippen zuckten auf eine Weise, die in Gabriel die Mordlust weckte. „Ich schätze, wir sollten den Wagen vorfahren und mitnehmen, was hier rumliegt für den Fall, dass wir die Falschen erwischen. Gefährtinnen sind sehr speziell, weißt du. Wir wollen schließlich nicht, dass ihr gleich auf dem falschen Fuß anfangt.“
„Hol einfach das verdammte Auto“, murrte Gabriel und hob die Frau in seinen Armen höher. „Es gefällt mir nicht, derartig auf dem Präsentierteller zu sein. Pere Mal könnte uns noch mehr Männer auf den Hals hetzen.“
„Wohl eher ihr“, grunzte Aeric, der sich bereits entfernte.
Gabriel trottete Aeric hinterher, denn er war erpicht darauf, ins Herrenhaus zurückzukehren. Er war sich nicht sicher, was der andere Wächter damit gemeint hatte, aber er hatte das Gefühl, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn er es herausfand.
3
Cassie öffnete langsam ihre Augen und stellte fest, dass sie auf einem luxuriösen Ledersofa lag und ihre Hände auf ihrem Bauch ruhten. Sie befand sich in einem riesigen, hell erleuchteten Raum. Das reichlich vorhandene Sonnenlicht bedeutete, dass sie länger als eine Handvoll Minuten weggetreten gewesen war. Sie kniff die Augen vor dem Schmerz zusammen, der hinter diesen pochte, und versuchte sich daran zu erinnern, was genau passiert war.
Ganz plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Die Wachen, die sie aus dem Vogelkäfig zerrten. Ein wütend aussehender Bärengestaltwandler war in Erscheinung getreten, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, woher er gekommen war. Sie war vor ihm weggerannt und hatte sich dann darauf verlegt, ihn um ihre Sicherheit anzuflehen. Und siehe da, der Bär hatte sich in ihn verwandelt.
Den Mann ihrer Träume, denjenigen, den sie wieder und wieder in ihren Visionen gesehen hatte… allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, ihn ausgerechnet heute zu sehen. Und in ihren Träumen war er nicht ganz so… nun, heiß gewesen.
Obwohl Cassie für eine Frau recht groß war, hatte sie im Vergleich zu ihrem Traummann beinahe wie ein Zwerg gewirkt. Er war buchstäblich groß, dunkel und gut aussehend. Sein dichtes schokoladebraunes Haar war von goldenen Strähnen durchzogen und so lang, dass es bis knapp unterhalb seines Kinns reichte. Ein Tag alte Stoppeln zierten sein Gesicht und betonten seine Attraktivität. Sein Kiefer und Wangenknochen waren hoch und scharfumrissen, seine Augenbrauen dunkel und dicht, seine Augen die dunkelste Schattierung von Mitternachtsblau, die man sich vorstellen konnte. Er hatte die Größe und Statur eines Linebackers gepaart mit dem Gesicht und den wohldefinierten Muskeln eines Armani Unterwäschemodels.
Sie wusste all das über ihn, weil sie so oft von ihm geträumt hatte. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie mehr getan hatte, als nur von ihm zu träumen. Isoliert und einsam im Vogelkäfig war ihr Retter die einzige wiederkehrende Fantasie gewesen.
„Sie ist wach. Du bist wach.“ Eine Frau trat in Cassies Sichtfeld und Cassie drehte ihren Kopf, um sie zu betrachten.
Sie war eine umwerfende Frau Mitte sechzig und gekleidet in einen fließenden weißen Kaftan und eine weiße Kopfbedeckung. Ihre Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, die so typisch war für kreolische Nachfahren, und ihr starker New Orleans Akzent bestätigte ihren Hintergrund. Im Moment starrte die Frau mit skeptischer Miene auf Cassie hinab.
„Ich bin wach“, stimmte Cassie zu und stemmte sich vorsichtig in eine aufrechte Position.
Vier weitere Personen saßen an einem riesigen Eichentisch auf der anderen Zimmerseite, drei Männer und eine Frau. Die drei Männer hätten sich auf den ersten Blick nicht unähnlicher sein können, aber irgendetwas an ihnen kam ihr vertraut vor. Die Frau war Cassie unbekannt, eine kurvenreiche, hübsche Blondine mit einem belustigten Gesichtsausdruck.
In dem Augenblick, in dem Cassie ihn sah, ihren „Mystery Man“, entspannte sie sich etwas.
„Ich rede mit dir“, giftete die Kreolin und fuchtelte mit einer Hand vor Cassies Gesicht herum.
„Äh…“, sagte Cassie und sah zu ihr hoch. „Okay.“
„Ich bin Mere Marie“, stellte sich die Frau vor, wobei Ungeduld klar und deutlich in ihrer Stimme mitschwang. „Du befindest dich im Herrenhaus, das von den Alpha Wächtern beschützt wird.“
Mehrere Dinge fügten sich für Cassie plötzlich zu einem Bild zusammen. Die Tatsache, dass ihr Traummann ein Schwert getragen hatte und dass ihr seine Kameraden so bekannt vorkamen. Das ergab jetzt alles Sinn, da Pere Mals Wachen im Vogelkäfig eine ganze Wand mit Fotos und Informationen zu den Wächtern gehabt hatten, aufgrund derer sie die Wächter sofort erkennen sollten.
„Cassie. Cassandra, meine ich. Chase“, sagte Cassie, während sie versuchte, Herrin ihrer Gedanken zu werden.
Mere Marie packte ihre Hand, drückte sie fest und Cassie keuchte auf, als Energie zwischen ihnen ausgetauscht wurde. Die Augen der anderen Frau weiteten sich und sie starrte Cassie einen langen Moment an.
„Orakel“, sagte Mere Marie und ließ Cassies Hand los. „Kein Wunder, dass Pere Mal dich hinter Schloss und Riegel hielt.“
Die hübsche blonde Frau meldete sich zu Wort, womit sie Cassies Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Hast du gesagt, dein Name sei Cassandra?“
„Das bin ich“, bestätigte Cassie nickend und sah sich ein wenig in dem Zimmer um. Es war nach dem Prinzip eines offenen Grundrisses gebaut worden und umfasste Wohn-, Ess- und Arbeitsbereiche zusammen mit einer wirklich hübschen Edelstahlküche. In der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers stand noch ein Mann. Dieser trug einen Smoking mit einem Schwalbenschwanz-Sakko und eine missbilligende Miene.
„Ich bin Echo“, stellte sich die Frau vor, erhob sich und trat näher, um Cassie zu mustern. Sie deutete der Reihe nach auf den blonden Mann, den Mann mit dem rötlichen Bart und dann Cassies Mystery Man. „Das sind Aeric, Rhys und Gabriel.“
Gabriel, murmelte Cassie zu sich selbst. Ihr Blick verhakte sich erneut mit seinem und ihr Verlangen, in seiner Nähe zu sein, wurde noch ein Stückchen größer.
„Sie muss das Zweite Licht sein“, erklärte Echo Mere Marie.
Cassie widmete Echo wieder ihre Aufmerksamkeit.
„Was weißt du darüber?“, fragte Cassie überrascht. Cassie hatte nie außerhalb ihrer Visionen von den Drei Lichtern gehört, weshalb es sie überraschte, die Worte laut ausgesprochen zu hören. Der beiläufige Tonfall der Frau hinterließ bei Cassie den Eindruck, dass die Drei Lichter ein völlig normales Gesprächsthema unter den Wächtern waren.
Die Blondine zuckte mit einer Schulter und errötete leicht.
„Nicht viel, außer, dass ich das Erste Licht bin. Oh, und meine Mutter und Tante waren diejenigen, die uns diese Situation überhaupt erst eingebrockt haben, glaube ich.“
„Wie lange hat Pere Mal dich festgehalten?“, mischte sich Mere Marie ein und ihre kastanienbraunen Augen hefteten sich auf Cassies Gesicht.
„Vier Jahre, glaube ich“, antwortete Cassie.
„Bittet er dich oft um Visionen?“, wollte Mere Marie wissen.
„Ja“, erwiderte Cassie. „Manchmal mehrmals in einer Woche. Aber damit wir uns hier nicht falsch verstehen, die Visionen kommen vom Orakel, nicht von mir.“
„Ich bin mir sicher, ich weiß nicht, was du meinst“, schnaubte Mere Marie.
„Das Orakel ergreift Besitz von mir, ich bin nur das Gefäß. Sie hat die Visionen, ich stelle nur… ich weiß nicht, eine körperliche Manifestation zur Verfügung. Sie lebt in der Geisterwelt und nutzt mich, um Zugriff auf das Reich der Menschen zu haben“, erklärte Cassie.
„Also könntest du theoretisch eine Visionsanfrage verweigern?“, warf Echo ein. „Wenn du es wollen würdest, könntest du dich weigern, deinen Mund zu öffnen oder so etwas, stimmt’s?“