Dekonstruktion. Peter Engelmann

Dekonstruktion - Peter  Engelmann


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totalitärer Herrschaft festgestellt werden kann. Das hegelsche System wird wiederum als Form eines Diskurstyps betrachtet, der als Identitätsphilosophie Philosophien der Differenz gegenübersteht. Die Frage lautet hier, ob totalitäre Herrschaft an den einen oder anderen Typ philosophischer Diskursivität gebunden ist.

      Die Dekonstruktion geht aber über diese Frage noch hinaus. Sie argumentiert, dass nicht die Diskurstypen Identitätsphilosophie oder Differenzphilosophie über die Nutzbarkeit in Legitimationsdiskursen totalitärer politischer Strukturen entscheiden. Denn beiden sei gemeinsam, dass sie dem gleichen Typ der elementaren Bedeutungskonstitution auf der Ebene des Zeichens zugehören. Diskurstypen seien auf einer grundlegenderen Ebene hinsichtlich der Bedeutungskonstitution nicht verschieden. Die Frage müsse in der Perspektive der Dekonstruktion daher auf der Ebene der elementaren Bedeutungskonstitution des Zeichens wiederholt werden und dort lauten, ob es eine Weise der elementaren Bedeutungskonstitution gibt, die auf der komplexeren Ebene diskursiver Systeme eine Verwendung als Legitimationsdiskurs totalitärer Politik unmöglich macht, oder, wenn das nicht der Fall ist, wenigstens Widerstände gegen diese Verwendung erzeugt.

      Ich werde weiter der Frage nachgehen, ob es auf der Ebene des Zeichens Eigenschaften des Prozesses der Bedeutungskonstitution und sich aus diesen Eigenschaften ergebende Strukturen gibt, die sich mit Legitimationsmustern totalitärer Herrschaft vergleichen lassen – oder ob es Möglichkeiten gibt, den Prozess der elementaren Bedeutungskonstitution so zu denken, dass er die Sprache widerständiger gegen eine Verwendung in Legitimationsdiskursen totalitärer Herrschaft macht. Jacques Derrida beansprucht mit seinem Konzept der différance eine solche Möglichkeit entwickelt zu haben, wenn auch nicht im Sinne eines handlungsleitenden Konzepts.

      Das hegelsche System erfuhr im Marxismus eine explizit politische Interpretation mit großer politischer Gestaltungskraft und Wirkung bei der Legitimation eines totalitären politischen Systems. Deshalb ist es für eine vergleichende Analyse mit jenem philosophischen Konzept geeignet, das beansprucht, eine Möglichkeit zu entwickeln, seiner Verwendung als Legitimationsdiskurs für totalitäre Politik zu widerstehen.

      Ziel meiner Untersuchung ist es, den Zusammenhang von Allgemeinem und Besonderem in unserer philosophischen Kultur zu untersuchen. Von Hegel aus muss sich diese Untersuchung auf den Referenzraum Hegels ausdehnen, denn die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist eine der durchgehenden Fragen der abendländischen Philosophie. Hier müssen auf der einen Seite der Gründungsgestus der neuzeitlichen, subjektzentrischen Erkenntnisdisposition durch Descartes angesprochen werden, auf der anderen Seite aber auch die Philosophien Schopenhauers und Nietzsches, die als die Auflösungsformen dieses Dispositivs gelten.

      Das erste Kapitel dieses Buches bestimmt Differenzphilosophie als kritische Theorie autoritärer gesellschaftlicher Strukturen. Ihre zeitgenössischen Formen sind Postmoderne und Dekonstruktion. Postmoderne und Dekonstruktion werden dabei als zwei Ansätze zeitgenössischer kritischer Theorie unterschieden und es wird begründet, warum wir hier vor allem Dekonstruktion näher untersuchen. Anschließend wird der gesellschaftliche Kontext der Entstehung von Postmoderne und Dekonstruktion anhand von Statements von Michel Serres, Michel Foucault und Jacques Rancière aus zum Teil unveröffentlichten Gesprächen näher betrachtet. Am Ende dieses Kapitels wird schließlich Dekonstruktion als zweite Aufklärung von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule abgesetzt.

      Das zweite Kapitel gibt eine vorläufige Bestimmung des hier verwendeten Begriffs von Differenzphilosophie. Wir untersuchen, ob es im Rahmen der Differenzphilosophie möglich ist, Heterogenität anders zu denken als in der identitätsphilosophischen Tradition und sie in diesem Feld unter Berücksichtigung der diskursiven Probleme ihrer Selbstbehauptung zu eigenständiger Geltung zu bringen. Abschließend untersucht dieses Kapitel den Stil der Differenzphilosophie. Zu diesem Zweck werden literarische und philosophische Diskursivität miteinander verglichen, der bewusste Umgang der Differenzphilosophie mit verschiedenen Diskursformen herausgearbeitet und gezeigt, dass dieser begründet ist.

      Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der philosophischen Genealogie der Dekonstruktion. Es wird gezeigt, dass die Dekonstruktion, wie sie Derrida entwickelt hat, nicht nur in der subjektkritischen und metaphysikkritischen Tradition von Nietzsche und Schopenhauer, sondern auch von Hegel steht. Die offenliegende genealogische Linie der Subjektkritik als Metaphysikkritik muss durch die hegelsche Kritik des neuzeitlichen Subjektzentrismus ergänzt werden. Hegels Argumentation steht daher in diesem Kapitel im Zentrum der Aufmerksamkeit. Seine Analyse der grundlegenden Sprachlichkeit des Gegebenen in der Phänomenologie des Geistes wird eingehend untersucht und das Prinzip der bestimmten Negation als Bewegungsprinzip des Wissens in einem nicht mehr subjektzentrischen System des Wissens erarbeitet. Gegen Hegels System des Wissens entwickeln sich die differenzphilosophischen Motive und Ansätze bei Schopenhauer und Nietzsche, die die Leiblichkeit gegen das reine Denken in Anschlag bringen und auch bei Heidegger, der die Seinsvergessenheit beklagt. Schon in diesen genealogischen Untersuchungen sind die systematischen Gesichtspunkte leitend, die später weiter entfaltet werden.

      Das vierte Kapitel befasst sich mit der titelgebenden semiotischen Wende der Philosophie. Zu Beginn werden zwei Begriffe von Nomenklatur unterschieden. Diese Unterscheidung wird gebraucht, um die Begründungsbewegung einer autonomen Sprachwissenschaft und die Grundlegung der semiotischen Wende der Philosophie bei Derrida beschreiben und erklären zu können. Nach der Analyse semiotischer Motive bei Leibniz werden hier die systematischen Überlegungen Saussures und Derridas untersucht, die zur Grundlegung einer differenziellen Semiotik bei Saussure und schließlich zur neuen Wissenschaft der Grammatologie bei Derrida führen. Mit der Grammatologie versucht Derrida eine Argumentation zu gewinnen, die es ermöglicht, Bedeutungskonstitution, abweichend von der metaphysischen Tradition, nicht als referenzielle sondern als differenzielle zu verstehen. Dieses differenzielle Verständnis von Bedeutungskonstitution bildet wiederum die Grundlage für die metaphysikkritische Argumentation Derridas im Rahmen der Philosophie. Es stellt die eigentliche philosophische Neuerung Derridas gegenüber seinen metaphysikkritischen Vorgängern dar, auch wenn sich etwa bei Nietzsche Versuche in Richtung differenzieller Bedeutungskonstitution finden.

      Im fünften Kapitel finden sich abschließend Überlegungen zur antitotalitären politischen Motivation und zu den politischen Konsequenzen der Dekonstruktion. Zuerst werden Hannah Arendts und Hermann Lübbes Gedanken zum Zusammenhang von Philosophie und Totalitarismus angesprochen. Danach wird der Zusammenhang zwischen der hegelschen Dialektik und ihren politischen Derivationen genauer betrachtet – als dialektischer Materialismus einerseits, als totalitäre politische Konzepte und totalitäre Praxis in den Staaten des sozialistischen Lagers andererseits. Im Gegenzug wird schließlich Derridas Argumentation zum Verhältnis von Dekonstruktion und Politik untersucht. Im Hinblick auf das Problem des Totalitarismus geht es nicht um jene Arbeiten Derridas, die um die Begriffe Gerechtigkeit und Freundschaft kreisen und als Beiträge zu einer praktischen Philosophie verstanden werden können, sondern um die im Zusammenhang mit der Affäre Paul de Man von Derrida untersuchte Frage, ob die als Kritik totalitärer Diskurse und Politiken auftretende Dekonstruktion ihrerseits in der Lage ist, totalitäres Denken und totalitäre Politik strukturell zu vermeiden.

      1. Differenzphilosophie als

      kritische Theorie

       1.1Postmoderne und Dekonstruktion als zeitgenössische Kritik autoritärer Strukturen

      Etwa Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts verdichtete sich in Frankreich ein philosophisches Denken, das die Frage nach der Möglichkeit des Holocaust aus der Mitte des aufgeklärten Europas heraus, die Kritik an den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts sowie an den autoritären, zentralistischen Strukturen in Staat und Parteipolitik, zu einer Kritik zugrundeliegender philosophischer Konzepte weiterzuführen versuchte. Neben den lange Zeit unangefochten vorherrschenden orthodox marxistischen Konzepten der Gesellschaftskritik entstanden, neben neuen marxistischen Ansätzen, wie etwa dem von Luis Althusser, auch kritische Ansätze, die den Rahmen marxistischer Gesellschaftstheorie und Philosophie sprengten und neue Wege gingen. Wirkungsmächtig wurden neben der Arbeit Michel Foucaults, die eher historisch und auf neue soziale Bewegungen ausgerichtet war, vor allem die Ansätze von Jacques Derrida und Jean-François Lyotard.

      Ideengeschichtlich


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