Dekonstruktion. Peter Engelmann
französischen Philosophie verfälschen darf, ist er ein Schlüsseldatum für die Erneuerung der Rolle des Philosophen in der französischen Gesellschaft als öffentlich wirksamer Intellektueller. Philosophen wie Michel Foucault oder Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Michel Serres, François Châtelet und Jacques Derrida wurden neben ihrer fachlichen Bedeutung zugleich auch Figuren des öffentlichen Lebens in Frankreich.
Dieses politische Engagement der Philosophen hat in Frankreich eine lange Tradition, die Michel Serres so beschreibt:
Ich glaube, dass wir seit dem 16. Jahrhundert eine Tradition haben, die man eher Tradition der Denker nennen könnte als Tradition der Philosophen. „Philosoph“ hätte einen eher technischen und akademischen Sinn und Denker, sagen wir, einen eher volkstümlichen Sinn. Montaigne im 16. Jahrhundert, das ist ein Denker, ein Moralist. Für die Franzosen ist er ein Philosoph. Es ist nicht völlig sicher, dass er auch in anderen Ländern als Philosoph gilt. Im 18. Jahrhundert gelten die französischen Aufklärer und Enzyklopädisten, angeführt von Leuten wie Voltaire oder Diderot, als Philosophen. Sie werden im Ausland wenig studiert, in Frankreich übrigens auch. Diese Tradition hat aus Frankreich ein Land werden lassen, in dem sich die Öffentlichkeit für Philosophie interessiert, in dem sie sich sehr für Philosophen interessiert. Denn diese Philosophen benutzen traditionellerweise ein Vokabular der gewöhnlichen Sprache und nicht ein sehr technisches Vokabular, wie das an den Universitäten der Fall ist. Infolgedessen beschäftigt sich die französische Gesellschaft, nicht die ganze Gesellschaft, aber ein großer Teil der französischen Gesellschaft, intensiv mit der Geschichte der Ideen, mit der Geschichte der Kultur oder mit der Geschichte philosophischer Ideen. Diese Gebiete sind hier nicht vollständig eingeschlossen in universitären oder wissenschaftlichen Spezialdisziplinen. Ich glaube, dass dies die französische Tradition charakterisiert. Und ich glaube, dass seit 50 Jahren Frankreich nicht mehr seiner eigenen Tradition folgt. Frankreich folgt nicht seiner eigenen Tradition, weil es versucht, an den Universitäten eine Art von Philosophie zu betreiben, die man in anderen Ländern machte.4
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten in Frankreich Albert Camus und Jean-Paul Sartre in dieser Tradition die Rolle des kritischen Intellektuellen besetzt. Sartres Engagement gegen den Algerienkrieg war weit über Frankreich hinaus wirksam. Allerdings war Sartre politisch noch stark mit der Kommunistischen Partei Frankreichs und ideologisch mit dem Marxismus als kritischer Theorie verbunden. Die wesentliche Erneuerung der Rolle des Intellektuellen in der französischen Gesellschaft ergab sich aber gerade aus dem Bruch mit dem Marxismus als kritischer Theorie und mit der Kommunistischen Partei als selbst ernannte, alleinige Vertretung der kritischen gesellschaftlichen Kräfte. Damit entwickelten sich die Positionen der neuen französischen kritischen Theorie im Einklang mit der französischen Gesellschaft, die spätestens im Mai 1968 aus der Haltung der Kommunistischen Partei Frankreichs schließen konnte, dass diese Teil des Machtapparates war und zu den konservativen Kräften im Land gehörte.
Als im Mai 1968 Studenten und Arbeiter revoltierten und Unruhen Paris und andere französische Städte erschütterten, veränderte sich auch das politische Gefüge Frankreichs. Die Kommunistische Partei Frankreichs, die bis zu diesem Zeitpunkt als Träger kritischen Denkens, aber auch als Sammelpunkt kritischer, politischer Kräfte galt, verbündete sich in dieser Situation mit der gaullistischen Macht und stoppte gemeinsam mit ihr die Mai-Bewegung. Nach dem Mai 68 hat sie bei der Restauration sowohl im universitären Bereich als auch im gewerkschaftlichen Bereich eifrig mitgewirkt. Für die kritische Intelligenz, aber auch für die Arbeiter und für weite kleinbürgerliche Schichten in Frankreich, war dieses Verhalten enttäuschend. Es entstand ein Vakuum im Feld gesellschaftskritischen Denkens und der kritischen politischen Kräfte.
In diesem Vakuum erlangten eine Reihe von Philosophen den Status kritischer Intellektueller, sie wurden in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur in Frankreich, sondern auch darüber hinaus zu wichtigen gesellschaftlichen Kräften. Diese Philosophen befriedigten den Bedarf an Reflexion und Theorieentwicklung, der durch die politische, ganz Frankreich aufwühlende und umwälzende Erfahrung des Mai 68 entstanden war.
Natürlich waren diese neuen Theorien nicht Resultat einer Arbeit, die erst nach dem Mai 68 einsetzte. Es waren Theorien, die zum Teil schon Jahre vorher entwickelt worden waren, etwa von Foucault, die aber im Moment des historischen Bruchs eine Aktualität erlangten, die vorher nicht abzusehen war, und die sich dann im Wechselspiel mit politischen Kräften, die sich jetzt auch auf der Seite der kritischen gesellschaftlichen Kräfte dezentralisierten, weiter entwickelten.
Zu dieser Entwicklung hat sich Foucault ausführlich geäußert:
Wissen Sie, am Anfang der 60er Jahre waren wir einige Leute, die versuchten, einige Probleme aufzuwerfen, die theoretische und geschichtliche Probleme waren, die aber auch Probleme waren, die Institutionen betrafen, die heutige Institutionen und heutige Praktiken berührten. Ich war zum Beispiel nicht der Einzige, der sich interessiert hat für psychiatrische Institutionen, für das Strafsystem, für die Organisation der Medizin, auch für die Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern, für die Situation der Frauen usw. – All das waren Fragen, die damals in der Luft lagen. Charakteristisch ist nun, dass vor 1968 die politischen Parteien diese Art von Fragen nicht aufnehmen wollten in ihre Reflexionen, in ihre Programme und in ihre Aktionen, wenigstens in Frankreich nicht. Das Gleiche gilt für einige Denker, die ein wenig die Rolle eines universellen Bewusstseins spielen wollten. Sie wollten nicht billigen, dass diese Art von Problemen aufgeworfen wird, die sie für nebensächlich oder für marginal gehalten haben. Es ist richtig, dass diese Arbeit bis 1968 eine Arbeit ein wenig im Stillen war, eine Arbeit ohne Echo. Es bedurfte der Studentenbewegung von 1968 und der folgenden Jahre und auch der Bewegung anderer sozialer Gruppen in dieser Zeit, damit diese Probleme voll ans Licht treten konnten, an die Öffentlichkeit gestellt werden konnten und beachtet wurden.
Und die politischen Parteien haben sich erst in diesem Moment um diese Probleme gekümmert . . . Zum Beispiel hat die Kommunistische Partei Frankreichs sich lange Zeit geweigert, sich mit diesen Problemen zu befassen. Und man kann sogar sagen, dass sie sich auch jetzt diesen Problemen nur äußerst widerwillig stellt. Auch die alte Sozialistische Partei, die in den Jahren zwischen 1960 und 1970 im Sterben, in der Agonie lag, wollte sich diesen Problemen nicht stellen. Und es war erst die erneuerte Sozialistische Partei, die ab 1972/73 diese Art von Fragen endlich aufgriff.5
Die politische Entwicklung nach dem Mai 68 kann man am besten als Dezentralisierung der bis dahin relativ einheitlichen politischen Opposition charakterisieren. In dem Moment, wo auf der politischen Ebene ein Prozess der Dezentralisierung vollzogen wurde, hatten Denkweisen, die auch in der Theorie zentralistische Diskurse auflösten und den Nomadismus, die Vielheit, die Einzelheit legitimierten, Konjunktur. Deleuze und insbesondere Foucault waren Denker der Vielheit, der ungebundenen freien Kräfte, der ungebundenen Opposition. Der Verlust der globalen politischen Konzeptionen der marxistischen Theorie und der Kommunistischen Partei führte dazu, dass sich die politischen Kämpfe dezentralisierten. An vielen Orten und in vielen Institutionen wurde aus der aktuellen Situation, aus der aktuellen Betroffenheit heraus Widerstand gegen die Macht der Institution geleistet. Die Texte von Foucault und Lyotard lieferten die theoretischen Überlegungen, die diese neuen politischen Strategien begründeten.
Diese Entwicklung führte allerdings auch zu einem für die antiautoritäre Bewegung typischen Konflikt. Der Widerspruch zwischen dem antiautoritären Selbstverständnis dieser Philosophen und der gleichzeitigen Zuweisung einer Führungsrolle durch die sozialen Bewegungen und antiautoritären politischen Kräfte war von Anfang an deutlich und konnte nie aufgelöst werden.
Die französischen Philosophen des Mai 68 verstanden sich als antiautoritär, wurden aber zugleich in den 1970er Jahren zu Leitfiguren einer antiautoritären Bewegung, sowohl im Bereich der Philosophie als auch im Bereich autonomer, politischer Bewegungen, sei es im Gefängnis, in der Psychiatrie, in den Wohngebieten, bei Bürgerinitiativen und so weiter. Sie selbst lehnten diese Rolle ab, aber sie wussten, dass sie durch ihr Verbleiben in Institutionen der Gefahr ausgesetzt waren, gegen ihren Willen zu diesen Autoritäten zu werden.
Ohne ihr Zutun wurden sie, den herrschenden Rezeptionsgewohnheiten entsprechend, zu Leitfiguren und ihre Theorien wurden als Leittheorien rezipiert. Damit waren sie in die Rolle gedrängt, die sie mit ihren Theorien