Dekonstruktion. Peter Engelmann

Dekonstruktion - Peter  Engelmann


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20. Jahrhundert nichts entgegensetzen konnte. Es war die unabweisbare Aufgabe jeder Theoriebildung und damit auch der Philosophie, zu verstehen und zu erklären, wie es im aufgeklärten Europa zu Holocaust, Krieg, Massenmord und Vertreibung hatte kommen können.

      Insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die zeitgenössische französische Differenzphilosophie versuchten, eine Wiederholung der Grauen totalitärer politischer Systeme zu verhindern, indem sie zu erklären versuchten, wie die Entwicklung totalitärer politischer Systeme mit dem Wesen der europäischen Kultur verknüpft ist.

      Wenn vor der Aufklärung die gleichen Schrecken zu beobachten sind wie nach der Aufklärung, dann liegt der Gedanke nahe, dass es gemeinsame Strukturen vor der Aufklärung und nach der Aufklärung gibt, die durch die Aufklärung nicht verändert wurden. Die Aufklärung hätte dann ihre Ziele nicht erreicht und müsste weitergeführt werden. Hier intervenieren Postmoderne und Dekonstruktion als aktuelle Formen der Aufklärung oder als zeitgenössische Form der kritischen Theorie. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die französischen Differenzphilosophie sind zwei verschiedene Versuche, die Ziele und Werte der Aufklärung dadurch zu retten, dass man die Aufklärung einer Fundamentalkritik aussetzt. Diese Fundamentalkritik der europäischen Aufklärung stellt dabei nicht die Werte und Ziele der Aufklärung infrage, sondern versucht, sie neu zu begründen und abzuleiten.

      In ihrer Theorie der Dialektik der Aufklärung interpretierten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die totalitären Entwicklungen des 20. Jahrhunderts als dunkle Kehrseite des europäischen Fortschrittsglaubens.9 Die Jüngere Kritische Theorie der Frankfurter Schule, mit ihrem Hauptvertreter Jürgen Habermas, verlor jedoch den skeptischen, kulturkritischen Grundton Adornos und verengte die Kritische Theorie auf den sogenannten westlichen Marxismus, eine Sonderform des Marxismus, die sich rhetorisch von den Schrecken des realen Sozialismus absetzte, dabei aber als Marxismus tief mit ihm verwoben blieb. Die jüngere Frankfurter Schule versuchte bis zum Zusammenbruch des Ostblocks, den westlichen Marxismus trotz seiner Komplizenschaft mit dem realen Sozialismus als kritische Theorie zu vermarkten.

      Die französische Differenzphilosophie kritisierte diese Verwandlung der Kritischen Theorie Adornos zu einem verharmlosten westlichen Marxismus, der noch dazu als kritische Theorie verkauft wurde und knüpfte direkt an die Kulturkritik Adornos an. In Frankreich entwickelte sich ein neuer Ansatz kritischer Theorie, der es schließlich ermöglichte, auch den Marxismus jeder Ausprägung als Teil einer westlichen Kultur zu verstehen, die die Abstraktion über das Individuelle setzt und damit die ideologische Basis totalitärer Politiken bereitstellt, die im Extremfall zu Holocaust, Massenmord und Terror führen.

      Im zeitlichen Abstand zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kann man erkennen, dass die philosophischen Konzepte von Deleuze, Lyotard und Derrida, bei aller Unabhängigkeit voneinander, alle um ein neues Denken der Differenz kreisen. Dieses Denken der Differenz soll philosophisch Alternativen zur Metaphysik finden sowie politisch und kulturell Alternativen zu den verschiedenen Formen des Totalitarismus eröffnen.

      Die Differenzphilosophie erkennt als Kern des Problems der Aufklärung, dass diese ihre eigene Bindung an die Metaphysik nicht reflektiert. Die Metaphysikkritik der französischen Differenzphilosophie weiß, dass auch die Aufklärung als emanzipatorisches Projekt der Moderne metaphysisch strukturiert ist. Die Struktur emanzipatorischen Denkens ist nicht verschieden von vormodernen oder modernen Strukturen, wie Lyotard in Das postmoderne Wissen analysiert.10 Die Strukturübereinstimmung verdankt sich der Tatsache, dass die Metaphysik dieser Strukturen an deren Sprachlichkeit festgemacht wird. So ist es möglich zu behaupten, dass die marxistische Utopie strukturell beispielsweise nicht verschieden ist von der Struktur eschatologischen Denkens des Christentums. Denn Utopien verweisen auf ein Jenseits und sind in diesem Sinne metaphysische Konzepte. Auch emanzipatorische Politik, wenn sie nach dem Schema der Utopie funktioniert, ist deshalb metaphysisch.

      Während Lyotard diese Zusammenhänge mit dem politisch-philosophischen Begriff der Postmoderne analysierte, steht bei Derrida die philosophische Metaphysikkritik im Zentrum. Die politische Bedeutung der Metaphysikkritik als Kritik des Totalitarismus wird erst als Ergänzung in politisch motivierten Texten angesprochen.

      In seiner Untersuchung Deconstruction and the ‚Unfinished Project of Modernity‘ rückt Christopher Norris die Dekonstruktion in die Nähe der Aufklärung. Er sieht die Dekonstruktion in einer „affinity with the project of enlightened critique set forth by Kant and taken up – albeit with significant modifications – by Jürgen Habermas“11. In diesem Buch hingegen wird Dekonstruktion nicht nur in der Nähe des Projektes der Aufklärung, sondern als zeitgenössische Realisierung des Projektes der Aufklärung gesehen und diese Ansicht begründet.

      Die theoretische Grundlegung der Metaphysikkritik im Rückgriff auf die Wissenschaft der Semiotik und deren kritische Weiterentwicklung zur Wissenschaft der Grammatologie durch Derrida zeigen, dass die Metaphysik nicht ein äußerliches Merkmal bestimmter Formen unseres Denkens, unseres Wissens oder unserer Diskurse ist, sondern dass sie sich der Struktur unserer Sprache verdankt.

      Diese Einsicht ist von äußerst großer Tragweite. Denn welchen Bereich kann man noch metaphysikfrei nennen, wenn die metaphysische Prägung durch unsere Sprache erfolgt und nicht erst durch eine bestimmte Art zu sprechen? Welche Form unseres Wissens entgeht der Prägung durch die Metaphysik? Unsere Wissenschaften, die sich als Gegenentwurf zur Metaphysik etablierten, erweisen sich als Teil dieser Metaphysik. Und schlimmer noch, wenn all unsere Sprache metaphysisch ist, dann ist es auch die Sprache der Kritik dieser metaphysischen Sprache. Es gibt in diesem Sinne kein Außerhalb der Metaphysik. Auch der Begriff der Kritik gehört zum System der Metaphysik.

      Was bedeutet diese Einsicht aber nun für die Beurteilung der Aufklärung und die Beantwortung der Frage, wie die Grauen des 20. Jahrhunderts trotz Aufklärung geschehen konnten?

      Die Differenzphilosophie Jacques Derridas ist der Versuch, eine sich selbst zurücknehmende, ihre Allgemeingültigkeit selbst bezweifelnde, auf die Berücksichtigung der Besonderheiten des Gegenstandes und des Kontextes ausgerichtete Methode zu entwickeln. Dabei ist Derrida klar, dass Dekonstruktion, so der Name für dieses Verfahren, keine Methode im traditionellen Sinne sein darf. Denn auch der traditionelle Begriff der Methode gehört zum System der Metaphysik, da die Methode allgemeine Regeln über die Besonderheiten der Gegenstände setzt.

      Das Verfahren der Dekonstruktion widersetzt sich der Herrschaft der uneingeschränkten und nicht hinterfragbaren allgemeinen Begriffe und kann daher als Kampfansage an jede Form totalitärer Ideologie und Politik verstanden werden.

      Positiv formuliert ist Dekonstruktion ein Plädoyer für eine Haltung, welche die Vielfalt der Welt und die Eigenheit der Menschen, Kulturen und Religionen so differenziert wie möglich bedenkt und auf die Verschiedenheit mit Toleranz reagiert, statt den Versuch zu machen, alles gleichförmig zu gestalten. Tatsächlich hat Derrida seine philosophische Arbeit stets als Widerstand gegen jede Form von Totalitarismus und als Parteinahme für die Anerkennung und Berücksichtigung der Vielfalt verstanden.

      Der Fortschritt der Aufklärung als Dekonstruktion besteht darin, dass die Verteidigung der Werte der Aufklärung auf eine neue Reflexionsebene gehoben wird. Die Dekonstruktion weiß, dass auch die Kritik totalitärer Strukturen und die Etablierung emanzipatorischer Werte dem System der Metaphysik angehören. Die Dekonstruktion ist sich des Zirkels der Metaphysikkritik bewusst, in dem auch sie sich befindet.

      Dekonstruktion verhält sich daher einerseits wie die traditionelle Aufklärung, indem sie totalitäre Strukturen kritisiert und emanzipatorische Werte vertritt. Ihr Wissen um ihre Befangenheit in der unhintergehbaren Metaphysik unserer Sprache hält jedoch das Bewusstsein wach, dass auch Kritik und Emanzipation aus diesem strukturellen Grund ständig der Gefahr ausgesetzt sind, selbst zu totalitären Systemen zu erstarren.

      Dekonstruktion muss aber deshalb nicht auf Kritik und Werte verzichten. Dekonstruktion kann vielmehr als Aufklärung verstanden werden, die sich der strukturellen Gefahr bewusst ist, selbst so zu werden, wie das von ihr Kritisierte. Gerade dieses Bewusstsein macht den kleinen, aber entscheidenden Unterschied aus, den wir mit der Dekonstruktion gegenüber früheren Formen der Aufklärung gewinnen.

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