Dekonstruktion. Peter Engelmann
dass sie einerseits radikale Theorien entwickelten, diese dann andererseits in den Institutionen verträten, die ihnen der Staat zur Verfügung stellte.
Weder Foucault noch andere wurden wirklich von dieser Kritik getroffen, denn dass sie als Autoritäten fungierten, lag weniger an ihrem eigenen Auftreten, vielmehr setzte sich in dieser Betrachtungsweise die Autoritätsfixierung sowohl ihrer Anhänger als auch ihrer Kritiker durch.
Michel Foucault hat seine Sichtweise der Rolle des Intellektuellen folgendermaßen beschrieben:
Ich habe gesagt, die Rolle eines Intellektuellen heute scheint mir nicht die eines Propheten zu sein, welcher der Geschichte den Weg zu zeigen hat, den sie nehmen muss, oder der festzusetzen hat, welche Gesetze sich die Gesellschaft geben müsse. Man weiß sehr gut, wohin diese Rolle des Intellektuellen als Prophet im 19. und besonders im 20. Jahrhundert hat führen können. Die intellektuelle Prophezeiung, die Funktion des universellen Intellektuellen, der seine Gesetze diktiert, das scheint mir nicht nur eine Rolle zu sein, die aus der Mode ist, sondern auch eine gefährliche Rolle. Dagegen scheint mir, dass der Intellektuelle, in dem Maße, in dem er auf einem bestimmten Gebiet arbeitet, das notwendigerweise ein begrenztes ist – sei es das Gebiet der Medizin, das Gebiet des Rechts, das Gebiet der Geschichte usw. – dass dieser Intellektuelle eine Erfahrung des Wissens hat, die er nutzen kann, die er zirkulieren lassen kann, die er mit anderen Formen der Erfahrung und mit anderen Formen des Wissens kommunizieren lassen kann, und dass er hier eine Rolle spielen kann, die sehr wichtig ist. Sehen Sie, was sich in Polen abgespielt hat. Die Intellektuellen haben in der Gewerkschaft Solidarność eine sehr wichtige Rolle gespielt. Diese Rolle hat nicht darin bestanden, dem polnischen Proletariat zu sagen, in welche Richtung es die Dinge voranzutreiben habe. Die Rolle der Intellektuellen war genau die Rolle von Experten. Man nannte sie Experten und sie nannten sich selbst Experten. Das heißt, ausgehend von ihrem eigenen Wissen konnten sie einer sozialen Bewegung, einer politischen Bewegung, einer gewerkschaftlichen Bewegung Elemente liefern, die wichtig waren. Ich glaube, dass man hier ein Beispiel für die Rolle des spezifischen Intellektuellen hat.6
Die heftigste Kritik daran, dass die französischen Philosophen des Mai 68 sich nicht aus den Institutionen zurückgezogen haben, kam von denjenigen, die das vertraten, was Jacques Rancière in dem weiter unten ausführlicher zitierten Gespräch mit mir das „institutionalisierte revolutionäre Dogma“ genannt hat. Diese Kritiker haben sich selbst nicht gescheut, sich in den Turbulenzen der 1970er Jahre in den Institutionen zu etablieren, mussten dann aber zusehen, wie die französischen Philosophen des Mai 68 auch in den Institutionen, insbesondere bei den Studenten, immer mehr an Einfluss gewannen, während der Einfluss marxistischer Theoretiker zurückging.
Die Hartnäckigkeit mit der Foucault und andere französische Philosophen von marxistischen Kritikern aller Prägungen bekämpft wurden, erklärte sich dadurch, dass sie einen direkten Angriff auf das im ganzen 20. Jahrhundert angemaßte Kritikmonopol marxistischer Theorie und kommunistischer oder sozialistischer Parteien darstellten. Die französischen Philosophen des Mai 68 haben die geschichtlichen Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent in eine Kritik marxistischer Theorie und Praxis umgesetzt, damit den Alleinvertretungsanspruch marxistischer Theoretiker auf kritische Theorie und Praxis gebrochen und sowohl neue kritische Theorien als auch neue kritische politische Dispositive geschaffen.
Jacques Rancière sagte in dem genannten Gespräch mit mir über Vincennes (Universität Paris VIII), über die Institution also, in der die meisten hier genannten Philosophen gelehrt haben:
Vincennes wurde als eine Art Geschenk der gaullistischen Regierung an die Linken gegründet, anstelle der alten, verstaubten Sorbonne-Kultur, die zurückgewiesen wurde. Vincennes war das, was das Avantgardistischste und Neueste sowohl im theoretischen als auch im politischen Sinne in der französischen Kultur war, insbesondere in der philosophischen Kultur. Michel Foucault stand an der Spitze des Instituts für Philosophie, umgeben von Althusserianern oder eher von ehemaligen Althusserianern. Foucault war im Grunde ein wenig der Prototyp eines neuen kämpferischen Intellektuellen, der von der marxistischen Tradition abwich. Vor 1968 hatte Foucault den Ruf eines strukturalistischen Denkers, des Mannes des Antihumanismus’, des Mannes des Antiidealismus, ein wenig des Anti-Sartre...
Nach 1968 hat er seine Rolle gewechselt. Er repräsentierte jetzt einen neuen Typus des Intellektuellen, des Intellektuellen auf dem Terrain, der zur gleichen Zeit theoretisch über die Probleme dieses Terrains nachdachte. Ich glaube, er hat eine doppelte Rolle gespielt: einerseits als Philosoph, der ausgehend von der Geschichte die Genesis und das Funktionieren unserer Systeme des Denkens zu verstehen suchte. Und andererseits als kämpferischer Intellektueller, der die soziale Ordnung und Unordnung in Kategorien zu denken versuchte, die nicht mehr die traditionellen Kategorien waren wie die der Bourgeoisie, des Proletariats oder der Revolution.7
Und noch deutlicher wird Rancière in dem folgenden Statement, wenn er die Bedeutung von Foucault und den anderen hier genannten Philosophen beschreibt, die sie für die Kritik des Marxismus und den Übergang zu neuen theoretischen und praktischen Formen der Kritik hatten:
Ihre Rolle war, glaube ich, vor allem eine Rolle gegenüber dem Marxismus. Das heißt, sie waren die Befreier, oder wenn man es negativ ausdrücken will, die Liquidatoren des Marxismus’. Ihre politische Rolle hatten sie im Wesentlichen im Bereich der linken Bewegungen. Sie haben versucht, sich an solche Formen des Protestes, an solche Formen der politischen Aktion anzuschließen, die nicht mehr in die marxistischen Kriterien des Klassenkampfes hineinpassten. Sie haben insbesondere versucht, all die Formen des Protestes ins Licht zu rücken, die als nebensächlich betrachtet wurden: Foucault den Protest der Frauen, den Kampf der Häftlinge und die Problematik des Gefängnisses. Selbstverständlich waren auch die Problematik der Psychiatrie und die Problematik der sexuellen Befreiung sehr wichtig bei Foucault und Deleuze. Sie beschäftigten sich also mit allen diesen Bewegungen. Es ist sicher, dass sie versucht haben, sich diesen Bewegungen anzuschließen. Sie haben sich nicht einfach an diese Bewegungen angehängt – es handelt sich nicht um Opportunismus! – sondern sie haben versucht, über das subversive Gewicht nachzudenken, das diesen Bewegungen zukommt, die nicht in die revolutionären Normen passen. Sie haben also ein wenig das zerstört, was man das institutionalisierte revolutionäre Dogma nennen könnte.8
1.3Dekonstruktion und Aufklärung
Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurde, sind die zeitgenössischen französischen Differenzphilosophien in einer Umgebung verfestigter Strukturen entstanden, die sich aus allgemeinen Prinzipien legitimierten. Sie sind zu einem Zeitpunkt entstanden, an dem die totalitären oder die Demokratie aushöhlenden Aspekte solcher Strukturen zunehmend sichtbar wurden, und sie wurden breitenwirksam, als das Bewusstsein über diesen Zusammenhang sich ausbreitete. In dem Maße, wie sich in den 1960er Jahren die neuen differenzphilosophischen Ansätze durchsetzten, verlor die bis dahin vorherrschende kritische Theorie des Marxismus an Boden.
Im 20. Jahrhundert waren der Marxismus und die kommunistischen Parteien der Sammelpunkt der kritischen Intelligenz, die sich als Hüter der Ideale der europäischen Aufklärung verstand, welche sie um den Gesichtspunkt der sozialen Gleichheit erweitern wollten. Die Ablösung des Marxismus als kritischer Theorie durch Postmoderne und Dekonstruktion war ein Paradigmenwechsel kritischer Theoriebildung. Wie veränderte sich bei diesem Paradigmenwechsel kritischer Theorie ihr Verhältnis zur Aufklärung? In welchem Verhältnis stehen die zeitgenössischen Differenzphilosophien und insbesondere die hier untersuchte Dekonstruktion zur Aufklärung?
Als Derrida 1967 mit seinen ersten Büchern an die Öffentlichkeit trat, lagen die schreckliche Erfahrung des Holocaust und der Zweite Weltkrieg gerade zwanzig Jahre zurück. Frankreich war dabei, die traumatischen Erfahrungen der Dekolonisation und des Algerienkrieges zu verarbeiten. Das sowjetische Imperium hatte sich über halb Europa ausgebreitet, die Welt war nach 1945 durch den Kalten Krieg geprägt. Wie hingen diese Ereignisse zusammen, wie ließen sich diese Entwicklungen erklären?
Die Geschichtswissenschaft, die Politikwissenschaft, die politisch interessierte europäische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch jede kritische Theorie mussten angesichts der Erfahrungen der Verwüstung Europas im Namen