Bildungsdokumentation in Kita und Grundschule stärkenorientiert gestalten. Petra Büker

Bildungsdokumentation in Kita und Grundschule stärkenorientiert gestalten - Petra Büker


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(hier im Bereich des mündlichen Präsentierens) bewusst steuert.

      Im Rahmen der Qualitätsoffensive im Anschluss an die ersten PISA-Ergebnisse haben sich KiTa und Grundschule einander angenähert: In vielfältigen, innovativen Formen des Austausches und der Kooperation bildet die Zielsetzung der Verbesserung von Bildungschancen durch Anschlussfähigkeit von Bildungsprozessen im Übergang die zentrale gemeinsame Orientierung. In diesem Zusammenhang spielt der Gedanke der Anschlussfähigkeit von Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren sowie praktizierter Förder- und Fordermaßnahmen eine bedeutende Rolle – bis hin zu ambitionierten Vorhaben der Entwicklung gemeinsamer und folglich konsistenter Verfahren, welche beispielsweise zur Dokumentation gemeinsamer Lernaktivitäten von Kindergarten- und Grundschulkindern genutzt werden können. Wissenschaftliche Begleitforschungen aus verschiedenen Modellvorhaben belegen allerdings eindrücklich, dass hier Traditionen und Logiken zweier bislang getrennter Systeme aufeinanderprallen (vgl. Bührmann & Büker, 2015; Höke et al., 2017; Urban et al., 2015). Hier entzünden sich ganz grundlegende Fragen nach institutionellen Selbstverständnissen und Professionsaufgaben, nach pädagogischen Grundverständnissen, Orientierungen und Relationierungen (etwa von Beobachtung und Diagnostik, Lernberichten und Berichtszeugnissen, Bildungsangeboten und curricularen Vorgaben, Defizit- und Ressourcenorientierung usw.). Hinzu kommen kontroverse Diskussionen um datenschutzrechtliche Aspekte: Welche Informationen dürfen einrichtungsübergreifend weitergegeben werden, welche nicht? Ist ein unvoreingenommenes Kennenlernen des Kindes durch den/die Grundschullehrer/in dem erfolgreichen Schulstart zuträglicher als die portfoliogestützte Detailkenntnis vorangegangener Ereignisse und Entwicklungsprozesse?

      Diese Fragen verschärfen sich aktuell im Zusammenhang des gesellschaftlichen Auftrags der Realisierung eines inklusiven Bildungssystems. Im Zusammenhang der multiprofessionellen Begleitung von Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf in inklusiv arbeitenden Regeleinrichtungen kommen nun Beobachtungs-, Dokumentations- und Rückmeldepraxen und -traditionen der Sonderpädagogik als eine weitere Disziplin hinzu: Verschiedene Diagnoseinstrumente und verbindliche Förderpläne (vgl. Popp, Melzer & Methner, 2013) halten Einzug in Regeleinrichtungen (image Kap. 3.3). Für Erzieher/innen, Lehrkräfte und Eltern ist es nicht einfach, sich in dem Dschungel verschiedener Kontexte, Ansprüche, Möglichkeiten und Verfahren der Bildungsdokumentation zurechtzufinden. Insgesamt eröffnet sich im Bereich der Beobachtung und Dokumentation kindlicher Entwicklungs-, Lern und Bildungsprozesse ein weites, überaus facettenreiches, in Forschung und Praxis noch weitgehend undurchsichtiges Feld mit hohem Klärungs-, Entwicklungs- und Gestaltungsbedarf.

      Die Beweggründe, warum eine Einrichtung bestimmte Verfahren einsetzt und andere ablehnt, sind vielschichtig und nicht immer allen Beteiligten transparent. Auch wird die Fülle der auf dem Markt befindlichen Beobachtungs- und Dokumentationsinstrumente immer unüberschaubarer. Mittlerweile liegen Forschungsergebnisse zu verschiedenen Facetten von Beobachtung und Dokumentation vor, wenngleich der in den Bildungsplänen angenommene »Mehrwert« bei Weitem noch nicht in der erforderlichen Breite empirisch erfasst ist. So existieren qualitative, quantitative sowie Mixed-method-Studien zur Verbreitung und Nutzung von Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren insgesamt (vgl. Cloos & Schulz, 2011; Viernickel et al., 2013; Viernickel & Völkel, 2015; Weltzien & Viernickel, 2012) und zur Entwicklung und Evaluation einzelner Beobachtungsverfahren, beispielsweise zu ILEA T (vgl. Geiling & Liebers, 2013; Prengel, 2005) und zu BiDoS (vgl. Kammermeyer, Roux & Darting, 2014). Darüber hinaus wurde die Bildungsdokumentation im Kontext inklusiver Settings (vgl. Urban et al., 2015) untersucht. Weitere Studien sind im Zusammenhang der wissenschaftlichen Begleitung von Modellprojekten zur optimierten Kooperation von KiTa und Grundschule entstanden (vgl. Büker, Bührmann, Kordulla & Böhmer, 2013; Höke & Schneider, 2013). Schließlich gibt es grundsätzliche Überlegungen aus wissenschaftlicher Perspektive, die ungeklärte Grundsatzfragen über unbeabsichtigte »Nebenwirkungen« thematisieren. Neben »Kindbildern«, die als Deutungsfolie den Beobachtungen zugrunde liegen, werden im Prozess der Beobachtung z. B. wiederum Bilder vom Kind (einem bestimmten Kind wie auch von Kindern als Statusgruppe) produziert (vgl. Berdelmann, 2016, S. 9). Qua Beobachtung werden zudem Bilder wie das »förderbedürftige Kind« oder die »gute Kindheit« erzeugt und über den wissenschaftlichen Diskurs verstetigt und festgeschrieben (vgl. Eckermann, Heinzel & Kreher, 2016, S. 89). Hinzu kommen Etikettierungs- und Hierarchisierungspraktiken, Probleme fehlender intra- und interinstitutioneller Anschlussmöglichkeiten, Transformations- und Kommunikationsprobleme, die sich aus beobachtungs-, bildungs- und professionstheoretischer Perspektive beleuchten lassen (vgl. Cloos & Schulz, 2011).

      Festzustellen ist: Die Bildungsdokumentation soll Garant für die Qualität in KiTa und Schule sein, wird jedoch insbesondere von Erzieher/innen und Lehrkräften in der Praxis als problematisch angesehen. Zwar halten sie das Kernanliegen, die Erfassung und Sichtbarmachung von Entwicklungs- und Lernständen sowie -prozessen von Kindern zum Zwecke passgenauer Förderung für relevant, befinden sich jedoch sowohl in einem »Umsetzungsdilemma« (Viernickel et al., 2013, S. 146) als auch – was mindestens ebenso schwerwiegend sein dürfte – in einem »Orientierungsdilemma« (Viernickel et al., 2013, S. 146). Bezogen auf die Umsetzung werden die benötigten (bzw. als nötig erachteten) und nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehenden Zeit- und Personalressourcen ins Feld geführt. Gleichzeitig werden konzeptimmanente Widersprüche beklagt, die den Mehrwert einer qualitativen Bildungsdokumentation für die Kinder verhinderten, weil über die eingesetzten Zeitressourcen die eigentliche Beschäftigung mit den Kindern zu kurz käme. Die Sichtweise, dass durch die Aufwendungen für Beobachtung, Besprechungen und Diskussionen »wertvolle Zeit für die Arbeit am Kind verloren« ginge, wurde neben der genannten Studie von Viernickel et al. auch in der Untersuchung zur Praxis der Bildungsdokumentation in deutschen KiTas von Knauf (2015) sowie in einer eigenen Studie im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts Kinderbildungshaus Paderborn (vgl. Büker, 2014) vertreten. Befürchtet werden seitens der Fachkräfte negative Auswirkungen auf die pädagogischen Beziehungen, wenn Beobachtung zur Kernaufgabe avanciert. So wird aus einer Gruppendiskussion mit Erzieherinnen in der Studie von Viernickel et al., 2013, S. 203, zitiert: »Wir beobachten zu viel. Wir haben einen Wust an Beobachtungsbögen und tun die Kinder tot-beobachten.« Unsicherheiten bestehen hinsichtlich des Umgangs mit beobachteten Einschränkungen, als Schwächen oder Defizit zu wertenden Beobachtungen in stärkenorientierten Verfahren (vgl. Büker, 2014; Viernickel et al., 2013). Grundschullehrkräfte sind verunsichert in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Bildungsdokumentation und Zeugnis (vgl. Büker, 2014). Dies wiederum verstärkt die Skepsis von Eltern hinsichtlich der Zustimmung zur Weitergabe von Informationen von der KiTa an die Grundschule (vgl. Backhaus-Knocke, 2020) sowie hinsichtlich der Frage, wie denn nicht-standardisierte Aussagen in Berichtszeugnissen wie beispielsweise die in Bezug auf die Lesekompetenz im obigen Beispiel von James zu interpretieren seien.

      Insgesamt kann in Bezug auf die Bildungsdokumentation eine Schieflage zwischen Anspruch und Wirklichkeit konstatiert werden, gepaart mit einer Fülle irritierender, verunsichernder und somit klärungsbedürftiger Aspekte. Das Thema ist ausgesprochen spannungsgeladen. So verwundert es nicht, dass die Bildungsdokumentation zum Politikum wird: Beispielsweise wurde im Rahmen der NRW-Landtagswahl 2017 von einigen Parteien versucht, mit der Abschaffung bzw. Reduzierung der Bildungsdokumentation in KiTa und Schule Wählerstimmen zu gewinnen. Vor dem Hintergrund der hier umrissenen Ausgangslage setzt sich der vorliegende Band zum Ziel, unter Berücksichtigung ausgewählter Forschungsergebnisse sowie von Praxiserfahrungen einen perspektivreichen Blick auf die Bildungsdokumentation in KiTa und Grundschule zu eröffnen: Insbesondere sollen Hintergründe im Zusammenhang der Bildungsdokumentation aufgezeigt und kritisch beleuchtet werden, die aus unserer Sicht ursächlich zu der beschriebenen Schieflage bzw. zu den skizzierten Verunsicherungen beitragen. So sollen die vielzähligen Erwartungen an die Bildungsdokumentation als »Diskurs der Ansprüche« präsentiert werden, der selbst zur Verschärfung der mit Beobachtung und Dokumentation verbundenen Problemlagen beiträgt. Im Anschluss an eine überblicksartige Darstellung gängiger Verfahren und deren Verbreitung in der Praxis werden typische Probleme identifiziert, welche den professionellen Umgang mit der Bildungsdokumentation erschweren bzw. beeinträchtigen können. Dazu zählen Beobachtungsfallen ebenso wie der fehlende Umgang mit Gütekriterien


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