Kindheit D. Ines Krüger
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Inhalt
Deutscher Frühling, deutscher Herbst
Große Ferien
Onkelpferde
Weihnachten und Stacheldraht
Monopoly
Unglückstage
Zurück in die Steinzeit
Das Rennpony
Lourdes
Der Anruf
Smauri
Der Ernst des Lebens
Komplimente
Das Turnier
Aufbruch
Epilog
Impressum
Die Briefbombe
Meine Mutti weinte. Sie saß auf dem Sofa und zitterte. Das zerknüllte Taschentuch in ihrer kleinen, schmalen Hand mit den rosa lackierten Fingernägeln verhieß nichts Gutes. Wenn meine Mutti weinte, musste etwas Entsetzliches passiert sein.
Ich war noch ganz klein. So klein, dass ich meinen Namen nicht schreiben konnte und viele Dinge nicht verstand. Alle Menschen um mich herum waren riesengroß. Besonders diese Männer, die in unserem Wohnzimmer und im Flur herumliefen und so ganz anders aussahen als unser Milchmann, der im grauen Stallanzug die Milch an unserer Haustür ablieferte, damit ich Kaba trinken konnte, während ich die Sesamstraße schaute. Ich liebte Bibo und Ernie und Bert.
Heute lief bei uns keine Sesamstraße. Meine Hand fasste vorsichtig nach Muttis Arm. Ich streichelte über ihren messingfarbenen, selbstgehäkelten Pullover mit den dunkelblauen, langen Fransen.
Meine Mutter strich mir über das Haar und sagte: „Sei lieb, Ines, das sind die vom Bundeskriminalamt. Sie versuchen, uns zu helfen.“
Dann weinte sie weiter.
Ich beobachtete die Männer, die ganz normale Kleidung anhatten, so wie die meisten Leute da draußen. Da draußen war etwas, das ich nie allein sehen durfte. Draußen war gefährlich. Das hatte ich gelernt – so wie das Zählen bis zehn. Nach draußen durfte ich nie alleine, und nur die Polizisten waren meine Freunde. Da draußen liefen böse Männer herum, die kleine Kinder in Autos zerrten. Papa und Mutti hatten es mir erklärt: Wenn jemand es schaffte, mich in ein Auto zu zerren, dann nannte man das Entführung. Meine Mutti und mein Papa waren dann ganz weit weg. Die Vorstellung war für mich genauso schlimm wie die, dass meiner Schwester etwas zustoßen konnte.
Mir war etwas Trauriges passiert: Bevor ich in die Schule kam, war mein Vater ein Mann geworden, den andere Leute da draußen so hassten, dass sie ihn töten wollten. Ich wusste, was tot ist. Meinem Meerschwein war so etwas passiert. Man sah sich nie wieder, man war nicht mehr da. Meine Mutti hatte es mir erzählt, an dem Tag, an dem ich die große neue Puppe mit den Klappaugen bekommen hatte. Mein Papa war Terroristenjäger. Das war etwas ganz Schlimmes für mich. Zum Trost hatte ich die riesige Puppe von meiner Mutti geschenkt bekommen. Sie hatte langes, blondes Haar, ich nannte sie Birgit. Ich hatte sie zum Spielen, denn mit anderen Kindern konnte ich nicht spielen. Die waren draußen, und ich blieb bei meiner Mutti. Ich verstand: Wenn man in den Kindergarten ging, wurde man entführt.
Die Männer vom Bundeskriminalamt brachten es meiner Mutter schonend bei: Unsere Sicherheit war nicht ausreichend. Die Männer ließen unsere Rollos hoch und wieder runter, ein Techniker im Blaumann hatte unseren Telefonhörer in der Hand. Meine Mutti bot den Männern Kaffee an, sie schüttelten den Kopf.
Das Gesicht meiner Mutti war vom vielen Weinen ganz angeschwollen. Der Puder war verlaufen, er klebte jetzt im Taschentuch.
Vor unserer Haustür war noch mehr los. Polizisten über Polizisten, noch mehr als sonst.
„Was ist passiert, Mutti?“, wisperte ich, eingeschüchtert von all den fremden Menschen um mich herum.
Sie schaute zu mir herunter und schluchzte. „Wir hatten eine Briefbombe vor der Haustür. Von der RAF.“
Ich verstand die Welt nicht mehr. Eine Bombe in einem Brief? Vor unserer Haustür?
„Ist das sehr gefährlich?“, fragte ich.
Meine Mutter brach wieder Tränen in aus. „Kind, bitte geh nach oben in dein Zimmer. Du bist noch zu klein.“
Ich begann laut zu schreien. Meiner Mutti könnte etwas passieren, wenn ich nicht bei ihr war. Ich klammerte mich an ihren Arm und plärrte los: „Ich will bei dir bleiben. Ich hab Angst. Hilfe!“
Einer der Männer vom BKA sah mich merkwürdig an. „Bei dem Geschrei können wir nicht arbeiten”, sagte er in dem typischen rheinischen Tonfall.
„Entschuldigung“, entgegnete meine Mutter. „Die Kleine ist immer so.“
Sie führte mich in die Küche und drückte mir meinen Zeichenblock und die Wachsmalkreide in die Hand. „Hier, mal was!“
Unser Hund kam zu mir in die Küche getapst. Meine Mutti verschloss die Tür.
Ich malte und hörte von draußen durch das Fenster die fiepsenden Geräusche von Funkgeräten und die Schritte schwerer Stiefel auf dem Steinplattenweg vor dem Reihenhaus. Das klang immer so vor unserer Haustür. Da standen Tag und Nacht vier Polizisten in Uniform mit umgehängten Maschinenpistolen.
Unsere Nachbarn konnten uns nicht leiden, denn auf der Straße parkte ständig ein grüner Polizeibus. „Grüne Minna“, nannte meine Schwester das Ding, in das ich nicht hineindurfte. Die Polizisten durfte ich nicht ansprechen, es sei denn, sie fragten mich etwas. Sie waren nicht zum Spielen da, sondern zum Schutz.
Ich wusste nicht, wer die RAF war, aber meine Schwester, die schon auf das Gymnasium ging, Blockflöte spielen konnte und Latein lernte, hatte es mir erklärt: Ich sollte mich vor allem vor Männern in Acht nehmen, die einen Parka und Lederboots trugen und Bärte hatten. Ich hörte aufmerksam zu. Es gab Terroristen, und die mochten uns nicht. Deshalb musste ich zu Hause bleiben und durfte auch nicht mehr zu den Nachbarn in den Garten.
Das war die Ansage, die ich bekommen hatte, als mein Papa befördert worden