Kindheit D. Ines Krüger
erzählt, bis plötzlich vor unserer Haustür die grüne Minna parkte.
„Wie kannst du uns das antun“, schrie meine Mutti meinen Papa an. „Du hast unser Leben zerstört. Deine Karriere ist ja ein Albtraum.“
Ich saß damals auf dem Treppenabsatz in der oberen Etage und hörte zu, wie meine Eltern sich stritten.
„Ich habe das Recht auf meine Karriere“, brüllte mein Vater durchs Haus.
„Und deine Kinder? Was soll aus deinen Kindern werden?“
Mein Vater schwieg. Ich sah es, er hatte Tränen in den Augen.
Eine Tür schlug zu. „Ich lasse mich scheiden und nehme die Kinder mit“, schluchzte meine Mutter im Flur.
„Papa“, sagte ich, „schrei nicht so rum. Ich hab' Angst.“
Er sah aus dem Fenster und schwieg.
Ich versuchte es noch einmal. „Papa, was ist denn los?“
„Wenn Erwachsene miteinander reden, hast du nichts zu sagen. Geh hoch in dein Zimmer“, rief er. Er setzte sich aufs Sofa und sagte kein Wort mehr.
Eigentlich sagte er nie etwas zu mir. Er war ja auch nie zu Hause. Ich wusste kaum etwas über ihn. Als ich noch ganz klein war, hatte er mir ein Malbuch geschenkt mit einem Zwerg vorne drauf, und ich hatte es sehr gern gehabt. Mein Vater aß gerne Tomatensalat und frische Birnen, aber es kam nicht oft vor, dass wir gemeinsam am Abendbrottisch saßen. Und auch dann sprach er kaum mit mir.
Ich verstand diesen Streit nicht. Ich hasste es, wenn meine Mutti weinte. Ich hatte sie doch so lieb. Ich lief zu meiner Mutti und sagte es ihr. Sie lächelte mich an und putzte sich die Nase. Sie erlaubte mir sogar, den Hund mit in mein Zimmer zu nehmen. Unser Hund war aus China, ein Chihuahua, und hatte eine lilafarbene Zunge. Ich bürstete ihm immer das Fell.
Wenn meine Eltern sich stritten, krachte es immer entsetzlich. Dann schrien sie sich an wie irre. Irgendwann war es dann wieder vorbei. Ich wusste das und wartete einfach ab. An dem Tag, als die Grüne Minna vor unserem Haus parkte, hatte ich Glück, weil meine Schwester Evi ins Zimmer kam und mit mir spielte. Sie war schon ein Teenager und sollte das Abitur machen. Mein Papa wollte, dass sie Rechtsanwältin wurde wie er. Sie war so gut in Mathe, dass sie anderen Kindern Nachhilfeunterricht geben konnte.
Meine Mutter ließ sich nicht scheiden. Meine Eltern vertrugen sich auch dieses Mal wieder, und meiner Mutti blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, dass unser Vater Terroristen jagte. Aber meine Mutter hatte etwas Trauriges erfahren: Meinem Vater war seine Karriere wichtiger als seine Familie. Mein Vater wollte nichts anderes als Terroristen jagen, und wenn ich nicht aufpasste, würde mich jemand umbringen. Dann war ich so tot wie mein Meerschwein und die Schildkröte meiner Cousine Helga, die so gut malen konnte und die Beatles auf Schallplatte liebte. „Mausetot“. Das verstand ich. Mein Meerschweinchen hatte aus Versehen mit Spritzmittel vergifteten Kopfsalat gefressen und war daran gestorben.
Was eine Briefbombe war, erklärte mir meine Cousine Helga, die fast zehn Jahre älter war als ich. Sie lebte mit uns unter einem Dach, nachdem ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. „Wenn eine Bombe im Brief ist, und du den aufmachst, dann explodiert dir alles vor der Nase. Dann ist die Hand ab oder der Arm, oder du fliegst ganz in die Luft.“
Ich weinte vor Angst.
Helga beruhigte mich. „Du gehst doch eh nie an den Briefkasten!“
„Und Mutti ...?“
Genau das war das Thema an diesem Tag beim Abendessen. Die Post wurde jetzt, wenn der Briefträger kam, kontrolliert. Meine Mutti hatte entsetzliche Angst und beschloss, in Zukunft keine Versandhauskataloge mehr zu bestellen. Sie fand es zu gefährlich.
Mein Vater redete ihr gut zu. Sie hätte doch jetzt noch mehr Polizei vor der Tür, und das wären extra ausgebildete Antiterrorismuspolizisten, die die Tricks von Terroristen kannten, und sie würden dafür sorgen, dass nichts passiert.
An diesem Abend machte mir meine Mutti ein Butterbrot mit einem gekochten Ei darauf in Scheiben und erklärte mir, dass ich mir, wenn ich es so sehr wollte, zu meinem Geburtstag ein neues Meerschweinchen wünschen dürfe. Sie sah an diesem Abend besonders schön aus. Ihre hellblauen Augen strahlten uns an, ihr blondes Haar war schick nach hinten frisiert, und sie hatte eine wunderschöne Bernsteinkette um den Hals gelegt. Mutti war dünn und ziemlich groß, so groß wie Papa. Früher einmal hatte sie als Model Kleidung vorgeführt, und darauf war sie immer noch stolz.
Ich strahlte. Helga wollte auch ein Schwein. Meine Mutti nickte. Sie sollte auch eins haben.
Nummer fünf
Der Ausflug ins Tiergeschäft war schon ein Fest an sich. Ich durfte mir von der riesigen Menge Meerschweinchen eins aussuchen. Ich fand sie alle so schön. Schließlich zeigte ich auf ein weißes Schweinchen mit Löckchen und roten Augen. Es hatte besonders laut gequietscht.
Die Verkäuferin sagte: „Weibchen, Albino und Rosettenschwein.“
Helga entschied sich für ein braun-weiß geflecktes Glatthaarschwein. Ich nannte mein Schweinchen Astrid und Helga das ihre Billy. Astrid und Billy wurden eingepackt und fuhren mit uns nach Hause. Sie waren jetzt die Haustiere vom Terroristenjäger.
Ich liebte mein Schweinchen. Leider biss Billy Astrid ganz schlimm, so kam sie in einen eigenen Käfig. Astrid knabberte trockenes Brot und schaute mit mir die Sesamstraße. Unser Hund ignorierte sie. Mit Meerschweinchen spielte er nicht. Und meine Puppe Birgit hatte Pech, Astrid ging von nun an vor.
Meine Mutti hatte an meinem Geburtstag eine Überraschung für mich. Sie hatte mir einen rosa Pullover gehäkelt, und dazu genau so einen für meine Puppe. Ich war so glücklich wie noch nie. Meine Schwester und meine Cousine lächelten wohlerzogen. Ich hatte mir eine Kekstorte gewünscht, und weil es die nirgends zu kaufen gab, hatten Evi und Helga heimlich eine für mich gemacht. Sie hatten die Kekse und Schokolade in die Form geschichtet und das Ganze im Kühlschrank versteckt, bis die Schokolade fest wurde und an den Keksen klebte.
Meine Omi aus Kiel hatte meiner Mutti Geld geschickt, damit ich neue Rollschuhe bekam. Ich schnallte sie mir um, und wenn ich mich auf unserer Terrasse am Zaun festhielt, fiel ich auch nicht hin. Draußen durfte ich nicht fahren, das war zu gefährlich.
Dass mein Vater an meinem Geburtstag nicht da war, verstand sich von selbst. Weil ich es nicht anders kannte, dachte ich darüber nicht nach.
Mein Vater brachte mir bei, auf keinen Fall etwas zu tun, was er nicht wolle. Er erklärte es mir so: „Da draußen sind ganz böse Menschen.