Kindheit D. Ines Krüger
anziehen. Meine Eltern gaben nach, ihre Nichte sah nun aus wie ein Förster oder Waldarbeiter. Ich mochte lieber rosa Kleider anziehen und meinen roten Pulli.
In dieser Zeit spielte ich besonders gern Friseur. Ich durfte meiner Mutti und manchmal auch Helga die Haare kämmen oder flechten, und ich hatte dabei immer ganz rote Backen vor Begeisterung. An einem dieser Nachmittage ließ sie ihr langes Haar hängen, und ich bürstete es überglücklich, als sie mir sagte, ich sei schon ein großes Mädchen, und sie wolle mit mir einen Freundschaftsvertrag schließen. Ich solle ihr versprechen, dass ich alle Geheimnisse für mich behalten würde, auch vor meinen Eltern, und dass ich außer ihr keine andere Freundin haben dürfe. Dafür, dass sie meine Freundin sein wolle, verlange sie von mir mein Meerschwein Astrid.
Ich wollte mein Schwein nicht hergeben, andererseits wollte ich gerne meine Cousine als Freundin. Ich war sechs Jahre alt und sie schon fünfzehn. Ich sagte ganz vorsichtig: „Ja, aber ohne das Schwein.“
Sie beharrte auf dem Schwein, aber ich wollte doch lieber mein Schweinchen Astrid behalten.
Helga war sehr verärgert. „Na ja, du bist einfach zu doof“, erklärte sie und erzählte mir, dass die Polizisten vor der Tür nicht nett zu ihr gewesen seien. Und die Schule sei doof. Und überhaupt alles. Sie forderte noch mal mein Schwein.
„Nein“, rief ich, „mein Schwein ist meins!“
„Du, Ines“, sagte sie, „die Terroristen sind nur deshalb so wütend, weil ihnen ganz viel Unrecht geschehen ist. Da wurden Menschen umgebracht. Die RAF will an die Macht, damit der Staat in Ordnung kommt. Die werden gewinnen.“
Ich sah sie mit großen Augen an. „Wieso?“
„Weil sie intelligenter sind als wir. Weißt du, was die immer singen?“
Ich schüttelte den Kopf.
Sie stimmte einen merkwürdigen Singsang an: „Für jedes Richterschwein eine Zelle ganz allein. Bullen, Richter, Staatsanwalt, alle in die Haftanstalt.“
Meine Cousine hatte keine schöne Stimme. „Woher kennst du das?“, wollte ich wissen.
Sie wisperte mir ins Ohr: „Ich habe jetzt neue Freunde, die kenne ich vom Schulhof. Und die sind in Ordnung. Da halten wir zusammen.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Meine Cousine machte sich Sorgen, dass ich nicht dichthalten könne. „Hör mal, wenn du das weitererzählst, kannst du was erleben!“
„Mein Schwein kriegst du nicht“, schrie ich und weinte los.
Helga versuchte mich zu beruhigen. Schließlich stand sie auf und lockte mich nach oben in ihr Zimmer. Sie öffnete die Schublade und überreichte mir eine ganze Tafel Nougatschokolade.
„Hier, nimm! Aber hör sofort auf zu heulen, sonst nehm‘ ich sie dir wieder weg.“
Ich riss die Verpackung auf und biss hinein.
Meine Cousine beobachtete mich und sagte: „Du musst dir das Gesicht kalt abspülen, sonst merkt Mutti, dass du geheult hast.“
Ich wusch mein Gesicht, und dann aß ich die Schokolade auf. Bis auf einen Riegel. Helga war erleichtert.
„Mit dir kann man keinen Vertrag machen“, meinte sie schließlich. „Jetzt wirst du niemals meine Freundin. Ich glaube, du wirst nie eine Freundin haben.“
Ich war traurig. Vor unserer Tür standen die Polizisten, und meine Mutti war nicht da. Wenn ich Pech hatte, war sie jetzt entführt und kam nie wieder nach Hause. Papa war auch nicht da, ich wusste kaum noch, wie er aussah. Ich überlegte: groß und immer im Anzug, der meistens mausgrau war.
Als meine Mutti nach Hause kam, war sie besonders gut gelaunt. Sie hatte uns Kindern eine Packung Luftballons mitgebracht. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei.
„Ja“, antwortete meine Cousine und sagte meiner Mutter, dass sie mir ihre Nougatschokolade gegeben habe. Mutti nickte. Eigentlich mochte ich lieber Nussschokolade, aber Nougat war auch in Ordnung.
Kurz darauf kam mein Vater überraschend für eine Woche nach Hause. Und meine Cousine, die sich mit ihren eigenartigen Gesängen meistens nachmittags in ihr Zimmer zurückzog, hatte einen passenden Moment erwischt, so richtig Mist zu bauen.
Die Sache flog dadurch auf, dass unser Telefon plötzlich nicht mehr funktionierte. Der Telefonhörer war eigenartig leichter als sonst.
Es kam schon wieder jemand vom BKA und untersuchte unser Telefon. „Da fehlt was. Wer hat Zugang zu diesem Telefon?“
Mein Vater zuckte ratlos die Achseln. Er, seine Frau und die Kinder. Die Kleine telefonierte noch nicht. Meine Eltern waren das mit dem Apparat nicht, also blieben nur Evi und Helga. Evi erklärte sofort, sie habe nichts mit dem Telefon gemacht. Also blieb nur meine Cousine.
Der Mann vom BKA fragte sie, was sie mit dem Telefon angestellt habe. Sie bekam einen knallroten Kopf und sagte gar nichts. Der Techniker erklärte, sie solle doch bitte das fehlende Teil aus dem Telefon wieder hergeben.
„Das geht nicht. Ich habe es jemand anders gegeben“, stotterte sie.
Mein Vater wurde ungeheuer wütend. Schnell verabschiedete er den Fachmann vom BKA, der versprach, uns das Telefon wieder in Ordnung zu bringen. Meine Cousine wurde von meinem Vater zur Rede gestellt. Sie gab es nur widerwillig zu: Sie hatte auf dem Schulhof irgendwelche jungen Männer kennengelernt, die zu einer Gruppe gehörten, die behaupteten, terroristische Ziele zu verfolgen. Meine Cousine hatte sich diesen Menschen anvertraut und sich bereit erklärt, aus dem Telefon unserer Familie zu Hause Teile zu besorgen, mit denen man angeblich eine Bombe basteln könne. Wer die jungen Männer waren, wollte sie nicht sagen.
Mein Vater rastete aus. Kurze Zeit später wurde meine Cousine von Polizisten verhört. Mein Vater machte sich Sorgen darum, dass unser Sicherheitsrisiko erhöht war, weil meine Cousine womöglich wichtige Dinge über uns preisgegeben hatte. Die Männer von der Polizei machten besorgte Gesichter, und meine Mutter weinte.
Unser Telefon wurde wieder in Ordnung gebracht. Als die Techniker das Haus verlassen hatten, knallte mein Vater meiner Cousine eine krachende Ohrfeige ins Gesicht. Helga heulte. Die Schulleitung wurde verständigt: Meine Cousine durfte nicht mehr mit diesen Menschen in Kontakt kommen.
Meine Eltern waren enttäuscht. Sie konnten den Umzug nach Karlsruhe kaum mehr erwarten.
Ich sagte meiner Mutti, dass ich nicht mit Helga