Kindheit D. Ines Krüger

Kindheit D - Ines Krüger


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das brav den Nach­bars­kin­dern. Ein klei­nes Mäd­chen, das ich ei­gent­lich be­son­ders gern hat­te, sah mich kurz an und mein­te nur: „Dann muss dei­ne Mut­ti die Evi schon mit acht­zehn Jah­ren be­kom­men ha­ben.“ Ich zuck­te die Ach­seln. War­um denn nicht?

      Ja, Schön­heit war mei­ner Mut­ti wich­tig. Sie hat­te frü­her ge­mo­delt und ach­te­te im­mer sehr auf ihr Ge­wicht. Wäh­rend wir Kin­der mit­tags Pom­mes mit Ketch­up oder Nu­deln oder Kar­tof­fel­brei mit Erb­sen­sup­pe aßen, saß sie da­ne­ben und sto­cher­te in ih­rem Tel­ler mit ro­hem Spi­nat her­um.

      Mei­ne Mut­ti litt auch dar­un­ter, dass ihre Freun­din aus Bonn nicht mehr da war. Wenn wir al­lein wa­ren, fing sie an zu er­zäh­len, Mut­ti hat­te ja nie­man­den au­ßer mir. Sie er­zähl­te von frü­her, als sie selbst noch ein Kind war. Wie sie im Bun­ker ge­ses­sen hat­ten in Kiel, weil die Stadt von den Fein­den mit Bom­ben be­wor­fen wur­de. Wie ihr El­tern­haus völ­lig aus­brann­te. Ihr Va­ter war Zahn­a­rzt ge­we­sen, und nach dem Krieg hat­ten sie sich al­les wie­der neu auf­bau­en müs­sen. Sie hat­te ih­ren Va­ter sehr ge­liebt. Er war dar­an ge­stor­ben, dass er nach dem Zie­hen ei­nes Zahns eine Sep­sis nicht über­lebt hat­te, aus­ge­rech­net er als Zahn­a­rzt! Mei­ne Mut­ti er­klär­te mir, dass es im Krieg ganz schwer ge­we­sen sei und dass man noch nicht mal But­ter aufs Brot ge­habt habe. Ich frag­te sie ganz viel, sie wuss­te ja im­mer al­les. Ich saß stun­den­lang bei ihr und hör­te ihr zu.

      Sie er­zähl­te mir auch, dass sie mei­nen Papa nicht moch­te, weil er im­mer nur Ter­ro­ris­ten jag­te. Wenn sie gute Lau­ne hat­te, durf­te ich mir die Fin­ger­nä­gel mit rosa Lack an­ma­len. Mei­ne Mut­ti sah mich an und sag­te, dass sie mich lieb habe.

      Ich wur­de wie­der ein­ge­schult. Die Dorf­schu­le, auf die ich im Schwa­rz­wald ge­hen muss­te, war für mich ge­nau­so angst­ein­flö­ßend wie die Schu­le in Bonn, es war wie in der Geis­ter­bahn. Je­den Mor­gen wur­de ich im Po­li­zei­au­to zur Schu­le ge­fah­ren. Im Po­li­zei­wa­gen war al­les vol­ler Funk­ge­rä­te, und es roch nach Zi­ga­ret­ten­qualm. Die bei­den Män­ner in ih­ren grü­nen Uni­for­men wa­ren mein Schutz. Ei­ner von ih­nen brach­te mich bis zur Ein­gangs­tür der Schu­le. Dann stand ich mit den an­de­ren Kin­dern auf dem Schul­flur und war­te­te auf den Gong. Und ich dach­te im­mer nur an mei­ne Mut­ti. Dass ihr bloß nichts pas­sier­te. Ob ich sie noch ein­mal wie­der­se­hen wür­de?

      Mei­ne Mut­ter wuss­te, dass ich die Schu­le nicht moch­te. Sie er­zähl­te mei­ner Klas­sen­leh­re­rin, dass ich in Bonn im­mer aus der Schu­le weg­lau­fen woll­te. Des­halb pass­ten die Leh­rer jetzt ganz ge­nau dar­auf auf, dass ich nicht ver­schwand.

      Mut­ti frag­te mich, ob ich in der gro­ßen Pau­se auf dem Hof auch im­mer schön in der Nähe mei­ner Leh­re­rin blie­be. Ich war ehr­lich und sag­te: „Nein, wir Mäd­chen spie­len im­mer mit den Jungs mit ei­ner Cola-Dose Fuß­ball.“ Mei­ne Mut­ter ver­bot es mir und ging gleich am nächs­ten Tag zu mei­ner Klas­sen­leh­re­rin: Ihre Toch­ter sol­le bes­ser be­auf­sich­tigt wer­den. Ich blieb von nun an im­mer ganz nah bei der Pau­sen­auf­sicht.

      Ei­nes Abends kam mein Papa mit ei­nem Pla­kat zu mir und mach­te ein sehr erns­tes Ge­sicht. Auf dem Pla­kat wa­ren die Ter­ro­ris­ten ab­ge­bil­det mit ih­ren Na­men. Ich er­schrak, denn ich wuss­te nicht, dass auch Frau­en Ter­ro­ris­ten sein konn­ten. Ich dach­te im­mer, das sei­en nur Män­ner mit Bart.

      Mein Papa sag­te mir, ich sol­le mir die Fo­tos ge­nau an­se­hen. Ich kann­te nie­man­den von ih­nen. „Wenn du einen von die­sen Men­schen siehst, rennst du weg, so schnell wie mög­lich“, schärf­te mir mein Va­ter ein. Ich nahm es mir fest vor.

      Er er­klär­te mir auch noch an­de­re Din­ge: Wenn ich ir­gend­wo auf dem Geh­weg lief und ein Auto ne­ben mir hal­ten wür­de, sol­le ich – egal wer dar­in saß, und egal, was die­se Per­son er­zäh­len wür­de – so­fort weg­ren­nen. Auch wenn mich je­mand nach dem Weg frag­te oder an­geb­lich Hil­fe brauch­te: Nichts wie weg. Ich durf­te von nie­man­dem Sü­ßig­kei­ten an­neh­men, mich mit nie­man­dem an­freun­den und nie­man­dem et­was über un­se­re Fa­mi­lie er­zäh­len. Auf kei­nen Fall durf­te ich Ge­schen­ke an­neh­men – und auch kei­ne Post oder Pa­ke­te. Mit schwirr­te der Kopf, das konn­te man sich al­les ja gar nicht auf ein­mal mer­ken.

      Auch aus der Schu­le soll­te ich mich von nie­mand an­ders ab­ho­len las­sen, au­ßer ge­nau den Po­li­zis­ten, die mich hin­ge­bracht hat­ten. „Wenn dir je­mand sagt, dass dei­ner Mut­ti et­was pas­siert sei und du des­halb mit­kom­men sollst, dann tust du das nicht! Du rufst im­mer so­fort die Po­li­zei mit ei­nem Er­wach­se­nen an.“

      „Meinst du, Mut­ti pas­siert was?“, frag­te ich halb heu­lend.

      Mein Papa schüt­tel­te den Kopf: „Nein, das sind Lü­gen, die sich je­mand aus­denkt, um dich ir­gend­wo­hin zu lo­cken.“

      Ich nick­te. Jetzt hat­te ich al­les ver­stan­den. Ich warf noch ein­mal einen ganz ge­nau­en Blick auf die Fahn­dungs­bil­der. Ich muss­te doch auf mei­ne Mut­ti auf­pas­sen.

      Mei­ne Mut­ter hat­te die Fo­tos auch schon ge­se­hen, und auch Hel­ga, die die meis­te Zeit in ih­rem Zim­mer saß. Mei­ne Cou­si­ne hass­te den Schwa­rz­wald noch mehr als mei­ne Mut­ter. Sie ging aufs Gym­na­si­um und war dort die Ein­zi­ge, die mit ei­nem Po­li­zei­au­to in die Schu­le fah­ren muss­te. Es gab in ih­rer Schu­le eine Grup­pe Mäd­chen, die sie an­dau­ernd är­ger­ten. Weil sie nicht Ba­disch sprach, weil sie so lan­ge Haa­re hat­te, weil sie nicht gut in der Schu­le war. Sie hat­te kei­ne rich­ti­ge Freun­din, und als sie mit an­de­ren Mäd­chen mit dem Bus in die Kreiss­tadt fah­ren woll­te, durf­te sie es aus Si­cher­heits­grün­den nicht. Mei­ne Cou­si­ne fing an, die Schu­le zu schwän­zen, und mei­ne Mut­ti ließ es ihr durch­ge­hen, weil sie auch al­les scheuß­lich fand.

      Ich hat­te dem­ge­gen­über noch Glück mit mei­ner Klas­sen­leh­re­rin. Sie wohn­te im sel­ben Dorf wie wir und hat­te das Po­li­zei­auf­ge­bot vor un­se­rer Tür ge­se­hen. Sie hat­te Mit­leid mit mir. Mei­ne Mut­ter be­kam dies mit, als ich ein­mal im Auf­satz eine Zwei be­kam, ob­wohl ich so vie­le Wör­ter falsch ge­schrie­ben hat­te.

      Mehr­mals war es vor­ge­kom­men, dass ich ein­fach in der Stun­de auf­ge­stan­den war und ge­sagt hat­te: „Mir ist übel. Ich gehe jetzt nach Hau­se.“ Dann wur­de ich in der Schu­le fest­ge­hal­ten. Es fiel mir schwer, mich zu kon­zen­trie­ren, aber ich war gut in Re­li­gi­on und Mu­sik. Ich moch­te das Fach Schön­schrift, weil ich so ger­ne mal­te. Ich mal­te die Buch­sta­ben nach und be­kam die Note eins. Mut­ti konn­te es kaum glau­ben.

      Ich wur­de von der Mu­sik­leh­re­rin für den Schul­chor emp­foh­len. Aber ich durf­te nicht hin­ge­hen, weil der Sing­un­ter­richt in der Sport­hal­le statt­fand, und da konn­te die Po­li­zei nicht mit­kom­men. Mei­ne Mut­ti sag­te, ich sol­le doch zu Hau­se mit­sin­gen, wenn die Schall­plat­te von Cin­dy und Bert lief. „Das ist doch viel schö­ner als Chor.“ Das mach­te ich dann auch.

      Aber bald gab es wie­der Är­ger mit Hel­ga. Mein Va­ter hat­te im Kel­ler un­se­res Hau­ses ein klei­nes Ar­beits­zim­mer mit ei­nem Schreib­tisch, al­les war vol­ler Ak­ten und Pa­pie­re. Die Pa­pie­re wa­ren nicht ge­heim, aber in frem­de Hän­de ge­ra­ten soll­ten sie auch nicht.

      Ich trau­te mich gar nicht in den Kel­ler, weil ich Angst vor dem Dun­keln hat­te. Au­ßer­dem war da un­ten die Hei­zung, die mach­te so ko­mi­sche Ge­räu­sche. Ich dach­te, sie


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