Kindheit D. Ines Krüger

Kindheit D - Ines Krüger


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Mein Herz klopf­te wie ver­rückt. Ir­gen­d­et­was Furcht­ba­res muss­te pas­siert sein. Er sah mich mit rot­ge­wein­ten Au­gen an und sag­te: „Sie ha­ben mei­nen Freund er­schos­sen. Bu­back ist tot. Sie ha­ben ihn er­schos­sen.“

      Mir blieb die Luft weg. Herr Bu­back war der di­rek­te Vor­ge­setz­te mei­nes Va­ters und Ge­ne­ral­bun­des­an­walt. Ich hat­te ihn im letz­ten Herbst ken­nen­ge­lernt. Ich sam­mel­te so ger­ne Kas­ta­ni­en und bun­te Blät­ter, und rund um den Bun­des­ge­richts­hof stan­den jede Men­ge al­ter, wun­der­schö­ner Kas­ta­ni­en­bäu­me. Mein Papa hat­te die Idee, mich mit­zu­neh­men, und ich durf­te dort die Kas­ta­ni­en auf­sam­meln. Es war ein si­che­rer Ort. Der BGH war rund­um mit ho­hen Si­cher­heits­zäu­nen ge­si­chert und dazu Sta­chel­draht­rol­len oben­drauf. Am Ein­gang war eine Si­cher­heits­bar­rie­re, durch die kei­ner kam, es sei denn, man ver­such­te es mit ei­nem Pan­zer. An die­sem Tag be­geg­ne­te mir und mei­nem Papa Herr Bu­back. Mein Papa ging mit mir zu ihm hin, ich gab ihm die Hand und sag­te „Gu­ten Tag“. Stolz zeig­te ich ihm die Plas­tik­tü­te mit den frisch ge­sam­mel­ten Kas­ta­ni­en, und er sag­te et­was Lie­bes zu mir.

      Nun war die­ser Mann tot. Er­schos­sen, hat­te mein Papa ge­sagt. Er hat­te es im Ra­dio ge­hört. Wie be­täubt stieg mein Va­ter aus dem Auto und ging ganz lang­sam ins Haus.

      Mei­ne Mut­ti war fas­sungs­los, als sie hör­te, was pas­siert war. Bu­back habe doch so viel Per­so­nen­schutz ge­habt. Mein Va­ter saß im Ses­sel und wein­te hem­mungs­los. Mei­ne Mut­ti hat­te ganz zit­te­ri­ge Hän­de und sag­te, dass ihr ar­mer Mann auch noch um­kom­men wür­de: „Auf die­ser Ar­beit beim BGH liegt ein Fluch“, schluchz­te sie. „Uns kann nur noch der lie­be Gott hel­fen.“ Ich wein­te auch. Wür­den sie Papa auch er­schie­ßen? Wer wür­de dann bei mir und Mut­ti sein?

      Die Per­so­nen­schüt­zer wa­ren ge­nau­so er­schüt­tert, hat­te Bu­back doch ma­xi­ma­len Per­so­nen­schutz ge­habt.

      Mein Va­ter sag­te den Per­so­nen­schüt­zern, wir wür­den so­fort pa­cken und nach Hau­se fah­ren. Es war nicht nur auf Bu­back ge­schos­sen wor­den, son­dern auch auf sei­nen Fah­rer und eine wei­te­re Per­son. Die bei­den Män­ner, die mit uns in den Ur­laub ge­fah­ren wa­ren, hat­ten bei­de klei­ne Kin­der. Mir wur­de schlecht.

      Zwei Stun­den spä­ter sa­ßen wir im Auto. Die Fahrt nach Hau­se war die Höl­le. Mei­ne El­tern über­leg­ten, was sie ma­chen soll­ten. Man ging da­von aus, dass eine gan­ze Se­rie von At­ten­ta­ten der RAF be­vor­stand. Ich saß vor Angst zit­ternd auf dem Rück­sitz und sag­te kein Wort. Ir­gend­wann nachts ka­men wir wie­der im Schwa­rz­wald an.

      In den nächs­ten Ta­gen er­fuhr ich die grau­sa­men De­tails. Ich las die Schlag­zei­len der Bild-Zei­tung, so viel konn­te ich in­zwi­schen le­sen. Bu­back war in sei­nem Dienst­wa­gen auf dem Weg von sei­ner Woh­nung zum Bun­des­ge­richts­hof. Der Mer­ce­des stand an ei­ner ro­ten Am­pel, als ein Mo­tor­rad mit zwei Per­so­nen dar­auf ne­ben ih­nen hielt. Eine der Per­so­nen dar­auf schoss auf den Wa­gen. Bu­back war von den Ku­geln der RAF re­gel­recht durch­siebt wor­den. Von dem net­ten Mann im Park des Bun­des­ge­richts­hofs war nichts mehr üb­rig. Die Lei­che soll­te ob­du­ziert wer­den, um fest­zu­stel­len, wie vie­le Ku­geln er ab­be­kom­men hat­te. Der Fah­rer Bu­backs sta­rb eben­falls noch am Tat­ort, er war drei­ßig Jah­re alt. Auf dem Rück­sitz saß der Lei­ter der Fahr­be­reit­schaft der Bun­des­an­walt­schaft. Auch auf ihn wur­de ge­schos­sen, er sta­rb ein paar Tage spä­ter im Kran­ken­haus.

      Mei­ne El­tern kon­do­lier­ten der Wit­we Bu­backs und der ge­sam­ten Fa­mi­lie. Die Mit­tel­meer­bräu­ne war vom Ge­sicht mei­nes Va­ters ver­flo­gen, er war krei­de­blass. Er war so ge­knickt, dass man ihn bes­ser gar nicht an­sprach. Stän­dig ver­schwand er in den BGH zu ir­gend­wel­chen Kri­sen­sit­zun­gen. Mei­ne Schwes­ter Evi, die sonst im­mer so zu­frie­den mit sich und der Welt war, zog die Stirn in Fal­ten. Und mei­ne Cou­si­ne Hel­ga war noch mehr in sich ge­kehrt als zu­vor. Sie sah mich nur noch wü­tend an mit ih­ren dun­kel­brau­nen Au­gen und knall­te die Zim­mer­tür vor mir zu. Als die Schu­le wie­der an­fing, blie­ben Hel­ga und ich aus Si­cher­heits­grün­den erst ein­mal zu Hau­se. Ich saß im Wohn­zim­mer und muss­te mit mei­ner Mut­ti ler­nen, da­mit ich in der Schu­le nicht den An­schluss ver­pass­te.

      Die Be­er­di­gung von Bu­back war ein ein­zi­ges Grau­en. Mein Va­ter sprach da­nach ta­ge­lang kaum noch ein Wort. Er saß abends zu Hau­se und starr­te vor sich hin. „Es war ein Feh­ler, an den BGH zu ge­hen“, jam­mer­te mei­ne Mut­ti, und mein Va­ter sah so aus, als däch­te er ge­nau­so.

      Der Per­so­nen­schutz wur­de ver­schärft. Bei uns bis an die Haus­tür durch­zu­kom­men, war so gut wie un­mög­lich. Da stand nun an je­der Ecke ein Po­li­zist mit Ma­schi­nen­pis­to­le. Ich hat­te mehr Angst als zu­vor. Zum Trost hat­ten mei­ne El­tern einen zwei­ten Hund ge­kauft, und weil der mich be­son­ders gern hat­te, schlief er meis­tens mit mir im Zim­mer.

      Das Jahr 1977 ließ un­se­re Fa­mi­lie vor Angst nicht mehr zur Ruhe kom­men, es war das Jahr der Ka­ta­s­tro­phen, das Jahr des „Deut­schen Herbs­tes“: Erst die Er­mor­dung von Bu­back, sei­nem Fah­rer und dem Be­am­ten von der Bun­des­an­walt­schaft, dann die Schüs­se auf Jür­gen Pon­to, dem Vor­stands­spre­cher der Dresd­ner Bank. Es folg­ten die Ent­füh­rung von Ar­beit­ge­ber­prä­si­dent Hanns Mar­tin Schley­er, die sich so grau­en­haft lang hin­zog, und die Ent­füh­rung der Luft­han­sa-Ma­schi­ne „Lands­hut“ und die Er­eig­nis­se von Mo­ga­di­schu. Ich sah mei­nen Va­ter kaum noch. Aber was mir in die­sem Jahr den aller­größ­ten Schre­cken ein­jag­te, war der ver­such­te An­schlag auf das Ge­bäu­de der Bun­des­an­walt­schaft in Ka­rls­ru­he, dem Dienst­sitz mei­nes Va­ters, am 25. Au­gust 1977. In ei­ner Woh­nung im Haus ge­gen­über hat­ten Ter­ro­ris­ten einen Ra­ke­ten­wer­fer zu­sam­men­ge­bas­telt, der auf das Ge­bäu­de ge­rich­tet war. Gott sei Dank war das 150 Kilo schwe­re Ding nicht los­ge­gan­gen, sonst wä­ren wohl mein Va­ter und vie­le wei­te­re Men­schen ge­tö­tet wor­den.

      Ich hat­te so ent­setz­li­che Angst. Mein Papa war nir­gend­wo si­cher. Im Auto fuh­ren Per­so­nen­schüt­zer im Pan­ze­r­wa­gen hin­ter ihm her, und wenn er im Büro war, woll­te ihn dort je­mand in die Luft spren­gen. Ich konn­te es nicht mehr er­tra­gen, wenn im Fern­se­hen ein Kri­mi lief. Ich lief aus dem Zim­mer und ver­steck­te mich ne­be­n­an im Ess­zim­mer, mein Schwein auf dem Arm. Ich hat­te so schreck­li­che Angst.

      Mei­ne Mut­ter hat­te mir ge­zeigt, wie man be­tet: Da oben im Him­mel gab es den lie­ben Gott, und wenn ich ihn um et­was ganz Wich­ti­ges bat, dann kam das so. Mei­ne Mut­ti hat­te es mir ganz ge­nau er­klärt: Wenn man be­tet, müs­se man ganz ge­nau er­zäh­len, wo­für.

      Vor dem Ein­schla­fen fal­te­te ich jetzt im­mer die Hän­de und fing an zu be­ten: „Bit­te, lie­ber Gott, hilf mir, ich weiß, dass du es kannst. Ich bin Ines und ich bin hier in mei­nem Schlaf­zim­mer. Bit­te pass auf, dass mei­ne Mut­ti nicht ent­führt wird und die Ter­ro­ris­ten mei­nen Papa nicht er­schie­ßen. Du bist doch der lie­be Gott, du kennst ihn. Und bit­te pass auf mei­ne Schwes­ter und mei­ne Cou­si­ne auf und auf die Hun­de und mein Schwein. Ich will auch al­les rich­tig ma­chen und ganz brav sein, lie­ber Gott. Aber bit­te, bit­te, hilf!“

      Vom Be­ten war ich meis­tens so er­schöpft, dass ich so­fort ein­sch­lief. Wenn ich noch ein­mal auf­wach­te, fing ich wie­der an zu be­ten – wer weiß, ob mein Ge­bet auch er­hört wor­den war. Eine Klas­sen­ka­me­ra­din


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