Kindheit D. Ines Krüger

Kindheit D - Ines Krüger


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Lau­ne, denn un­ser Va­ter war ja nie da. Sie las eine Un­men­ge Bü­cher, und wenn sie las, durf­te ich sie nicht an­spre­chen. Ich mal­te dann meis­tens. Mut­ti war ein Rie­sen­fan von Ro­land Kai­ser, sie hat­te alle sei­ne Schall­plat­ten zu Hau­se. Sie hör­te ihn auch im Auto, ich kann­te die Song­tex­te aus­wen­dig.

      Mei­ne Mut­ti war im­mer so schön, und sie war krank. So krank, dass sie wie­der zum Heil­prak­ti­ker muss­te. Sie fand im Nach­bar­ort eine The­ra­peu­tin, die sag­te zu ihr: „Sie ha­ben ein Ma­gen­ge­schwür, und zwar vor Kum­mer.“

      Mei­ne Mut­ti war ja auch oft un­g­lü­ck­lich. Mein Papa sag­te ihr zwar im­mer, wie schön sie doch sei, aber er hat­te im­mer­zu schlech­te Lau­ne. Wenn er nach Hau­se kam, war er nicht ge­sprä­chig. Er sag­te, er dür­fe uns nichts von sei­ner Ar­beit er­zäh­len, obers­te Ge­heim­hal­tungs­stu­fe. Wenn er beim Abend­es­sen saß, dreh­te sich das Ge­spräch meis­tens um den Per­so­nen­schutz. Mein Va­ter woll­te auf kei­nen Fall, dass un­ser Pri­vat­le­ben nach au­ßen sicht­bar wur­de.

      Ein­mal hat­te ich mir den Ma­gen ver­dor­ben. Mir war mor­gens so übel, dass ich nicht zur Schu­le konn­te, die ich seit Kur­z­em wie­der be­su­chen durf­te. Ich rief durchs Trep­pen­haus: „Ich hab‘ ge­kotzt.“

      Mein Va­ter war ent­setzt. „Ines“, sag­te er, „wie kannst du dich so aus­drü­cken! Das ha­ben be­stimmt die Po­li­zis­ten drau­ßen ge­hört. Das heißt: Ich habe mich über­ge­ben oder: Ich habe mich er­bro­chen.“

      Wenn mei­ne El­tern sich strit­ten, ver­mie­den sie es, laut zu wer­den. Die The­ra­peu­tin mei­ner Mut­ti sag­te ihr, dass sie ein Op­fer die­ses Per­so­nen­schut­zes sei. Als The­ra­pie be­kam sie von ihr Sprit­zen. Sie wein­te viel und sag­te, ihre Töch­ter hät­ten kein gu­tes Le­ben.

      Mein Va­ter mach­te sich Vor­wür­fe, weil mei­ne Mut­ter so litt. Er habe nicht ge­wusst, wor­auf er sich mit der Ge­fah­renstu­fe ein­ließ. Mei­ne Mut­ter glaub­te ihm nicht. Evi auch nicht. Er wur­de von bei­den an­ge­me­ckert, und er tat mir leid. „Sie mei­nen es nicht so, Papa“, sag­te ich. „Glaub es mir, wir ha­ben dich alle lieb.“ Ich war in der Fa­mi­lie die Frie­dens­stif­te­rin. Ich hass­te es, wenn es Streit gab, und woll­te im­mer, dass sich alle gern hat­ten.

      Aber wir Kin­der be­rei­te­ten stän­dig Kum­mer. Ich konn­te mich in der Schu­le auf gar nichts kon­zen­trie­ren, be­son­ders nicht in Ma­the. Ein­mal stauch­te mich mei­ne Leh­re­rin vor der gan­zen Klas­se zu­sam­men. Wir lern­ten ge­ra­de das gro­ße Ein­mal­eins, und sie frag­te aus­ge­rech­net mich: „Wie viel ist neun­zehn mal vier­zehn?“

      Ich schau­te wie im­mer aus dem Fens­ter und dach­te an mei­ne Mut­ti, wie sie ge­ra­de ein­kauf­te: die Sa­lat­gur­ke für mein Meer­schwein, die To­ma­ten für Pa­pas To­ma­ten­sa­lat und für Evi den ge­misch­ten Auf­schnitt, den sie so ger­ne aufs Brot moch­te. Mein Schwein und ich hat­ten das­sel­be Lieb­lings­es­sen: rohe Gur­ke. Ich leg­te sie mir in dün­nen Schei­ben aufs Brot. Ich sah mei­ne Mut­ti vor mir, wie sie den Ein­kaufs­wa­gen durch den Su­per­markt schob. Wenn jetzt die­se Ter­ro­ris­ten ka­men und mei­ne Mut­ti aus dem Su­per­markt ent­führ­ten ... Ich hat­te sie doch so lieb.

      „Also“, sag­te die Leh­re­rin und blick­te mich böse an. „Hal­te ich den Un­ter­richt hier ohne dich ab?“

      Ich schwieg. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, was sie mich ge­fragt hat­te.

      „Ja, bist du zu dumm?“ Die Leh­re­rin blick­te in die Klas­se. „Wer weiß es sonst?“ Ein Mit­schü­ler hin­ter mir wuss­te im­mer al­les.

      „Ines, das hat Kon­se­quen­zen“, droh­te die Leh­re­rin. „Du schaust im­mer nur aus dem Fens­ter. Ich will dei­ne Mut­ter spre­chen.“

      Auch das noch.

      Es wur­de kein schö­nes Tref­fen für mei­ne Mut­ti. An­geb­lich war ich nie bei der Sa­che. Stän­dig ver­ließ ich das Klas­sen­zim­mer un­ter ir­gend­ei­nem Vor­wand. So oft konn­te doch ein klei­nes Mäd­chen gar nicht auf die Toi­let­te müs­sen. Mei­ne Mut­ter sol­le lie­ber mal mit mir zum Arzt ge­hen.

      Von we­gen Bla­sen­pro­blem. Ich such­te nach ei­ner Ge­le­gen­heit, weg­zu­lau­fen. Mut­ti kann­te das von Bonn und wur­de sehr un­an­ge­nehm. „Mäd­chen, die Leh­re­rin kann uns nicht lei­den. Die lässt dich sit­zen­blei­ben. Da be­kommst du Pro­ble­me.“

      „Und jetzt?“, frag­te ich un­ter Trä­nen.

      „Üben wir erst mal das Ein­mal­eins“, mein­te sie ru­hig.

      Beim Abend­es­sen hör­te sie sich ganz an­ders an. Wir sa­ßen zu viert am Tisch, Vati, Mut­ti, Hel­ga und ich. Wäh­rend mein Va­ter sei­ne To­ma­te in Schei­ben schnitt und ich am Gur­ken­brot kau­te, er­klär­te mei­ne Mut­ti:

      „Die­se Leh­re­rin ist eine Aso­zi­a­le. Das ist So­zi­al­neid. Sie gönnt un­se­rer Klei­nen nicht, dass sie es bes­ser hat.“

      „Du ar­mer Mol­li“, trös­te­te mich mein Va­ter. „Die­se Aso­zi­a­le kann et­was er­le­ben. Du gehst aufs Gym­na­si­um, so si­cher, wie ich hier sit­ze.“

      „Ja, Papa.“ Ich nick­te.

      Als Evi ein­traf, hat­ten sich mei­ne El­tern schon im Wohn­zim­mer aufs Sofa ge­setzt. Mei­ne Schwes­ter er­fuhr von mei­ner Ein­mal­eins-Ka­ta­s­tro­phe und mein­te, dass das sehr schlecht sei. Aus der Grund­schu­le käme ich nicht her­aus. Ich sol­le um Him­mels Wil­len nicht so oft aus Klo ge­hen.

      Ich nick­te.

      Evi pack­te sich dick Auf­schnitt aufs Weiß­brot und kau­te zu­frie­den vor sich hin. „Ich glau­be, ich will nicht mehr in die Schu­le. Da wer­de ich ent­führt.“

      Sie sag­te gar nichts und aß.

      Mir blieb nichts wei­ter üb­rig, als wei­ter zur Schu­le zu ge­hen. Ma­the war mir ver­dor­ben. Ich übte zu Hau­se mit mei­ner Mut­ter. Eine Zeit­lang ging es ei­ni­ger­ma­ßen, bis die Ter­ro­ris­ten in Hun­ger­streik gin­gen und ir­gend­ein Maul­wurf aus der Sze­ne einen Hin­weis ge­ge­ben hat­te, dass sie es auf die Kin­der ab­ge­se­hen hat­ten. Ich ging fünf Wo­chen gar nicht zur Schu­le und durf­te nicht drau­ßen spie­len. Aber ich blieb trotz­dem nicht sit­zen, weil mei­ne Mut­ter sich beim Di­rek­tor be­schwert hat­te. Ich sol­le aufs Gym­na­si­um, hat­te sie ihm ge­sagt, und sie las­se es sich nicht bie­ten, dass man ihr Kind schlecht be­han­del­te. Wir ver­lang­ten kei­ne Ex­tra­wurst und kei­ne Son­der­be­hand­lung, aber wir sei­en eben in Ge­fahr.

      Die gro­ße Pau­se war im­mer be­son­ders ge­fähr­lich. Auf dem Schul­hof frei her­um­to­ben, wie es die an­de­ren Kin­der ta­ten, war für mich un­mög­lich. Ich muss­te im­mer bei der Pau­sen­auf­sicht blei­ben, und es kam so­gar vor, dass ich aus Si­cher­heits­grün­den in ir­gend­ei­nen Auf­ent­halts­raum ein­ge­schlos­sen wur­de.

      Der Di­rek­tor war im­mer ganz höf­lich zu mir, nach­dem mein Va­ter ihm er­klärt hat­te, dass ich so vie­le Pro­ble­me habe und die Kin­der im Dorf nicht mit mir spie­len woll­ten. Das stimm­te ja auch: Die El­tern mei­ner Schul­ka­me­ra­den hat­ten Angst da­vor, dass ih­rem Nach­wuchs et­was pas­sie­ren könn­te.

      Ich muss­te al­lei­ne zu Hau­se spie­len, weil es drau­ßen für mich zu ge­fähr­lich war. Meis­tens saß ich bei mei­ner Mut­ti. Ich war noch kei­ne zehn Jah­re und be­nahm mich wie eine klei­ne Er­wach­se­ne.

      Auch mit Hel­ga


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