Kindheit D. Ines Krüger

Kindheit D - Ines Krüger


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dann pas­sier­te, war wie in ei­nem scheuß­lich-trau­ri­gen Film. Kaum eine hal­be Stun­de nach­dem sie los­ge­fah­ren wa­ren, klin­gel­te ein Po­li­zist an un­se­rer Haus­tür. In der Hand hielt er Hel­gas Lama-Woll­pon­cho, der mit Blut be­fleckt war. Er brach­te es mei­ner Mut­ter scho­nend bei: Der Po­li­zist am Steu­er hat­te auf der mit Laub be­deck­ten, re­gen­nas­sen Stra­ße die Kon­trol­le über das Fahr­zeug ver­lo­ren. Das Auto hat­te sich mehr­fach über­schla­gen und war schließ­lich auf dem Dach ge­lan­det. Mei­ne Cou­si­ne leb­te, aber sie war schwer ver­letzt. Sie war in die Un­fall­kli­nik ge­bracht wor­den.

      Wir fuh­ren so­fort hin. Mei­ne Cou­si­ne lag mit ei­ner Hirn­quet­schung auf der In­ten­sivsta­ti­on. Sie wür­de nicht ster­ben, das war si­cher, aber sie muss­te in der Kli­nik blei­ben. We­nig spä­ter er­fuh­ren wir, dass sie auf ei­nem Auge einen Teil ih­rer Seh­kraft ver­lo­ren hat­te.

      Der Fah­rer des Wa­gens be­haup­te­te, mei­ne Cou­si­ne hät­te aus Spaß und Über­mut Brems­übun­gen ab­sol­viert, die Po­li­zis­ten ver­nein­ten das aber. Es wur­de eine Un­ter­su­chung des Vor­fallsver­an­lasst, die im San­de ver­lief. Für uns war das Wich­tigs­te, dass mei­ne Cou­si­ne am Le­ben war.

      Als sie wie­der nach Hau­se kam, mach­te sie mei­nen El­tern Vor­wür­fe. Wenn mei­ne Mut­ter sie an je­nem Tag hät­te schwän­zen las­sen, wäre sie nicht ver­un­g­lückt. Mein Va­ter hat­te an­geb­lich eben­falls Schuld an dem Un­g­lück, denn we­gen ihm habe sie im Po­li­zei­au­to fah­ren müs­sen. Hel­ga klag­te über un­er­träg­li­che Kopf­schmer­zen. Sie wur­de von Gut­ach­tern un­ter­sucht, ob blei­ben­de Schä­den ent­stan­den wa­ren. Wo­chen­lang lag sie mit Schmer­zen auf dem Sofa, und als mei­ne El­tern sie wie­der zur Schu­le schick­ten, be­stand sie dar­auf, nur noch mit mei­ner Mut­ter im Auto zu fah­ren. Die Po­li­zei fuhr im Auto hin­ter­her.

      Die Kopf­schmer­zen be­ein­träch­tig­ten das Ler­nen. Am Ende gab es eine Un­ter­re­dung mit dem Schul­lei­ter. Sie ging mit Haupt­schul­ab­schluss von der Schu­le ab, zog bei uns aus und be­gann ein so­zi­a­les Jahr in ei­nem Be­hin­der­ten­heim. Mein Va­ter hat­te al­les ver­sucht, sie dazu zu brin­gen, auf der Schu­le zu blei­ben. Er war Ter­ro­ris­ten­jä­ger und sei­ne Nich­te ver­ließ die Schu­le mit Haupt­schul­ab­schluss! Aber er hat­te kei­ne Chan­ce, jetzt war es Hel­gas Ziel, Kran­ken­schwes­ter zu wer­den. Die Ar­beit in dem Be­hin­der­ten­heim war schwer, aber sie ließ sich durch nichts in der Welt da­von ab­brin­gen. We­nigs­tens konn­ten mei­ne El­tern be­ru­higt sein, dass Hel­ga einen bür­ger­li­chen Be­ruf er­lern­te, der ihr Freu­de mach­te und von dem sie le­ben konn­te. Nach al­lem Kum­mer und Är­ger, den sie un­se­rer Fa­mi­lie be­rei­tet hat­te, blieb das Ver­hält­nis zu ihr je­doch di­stan­ziert und der Kon­takt re­du­zier­te sich auf das Al­ler­not­wen­digs­te.

      Evi wie­der­um hat­te gro­ßen Är­ger mit mei­nem Va­ter, weil sie kei­nen Per­so­nen­schutz auf dem Weg zur Uni­ver­si­tät woll­te. Ihre ver­beul­te Ente war gras­grün an­ge­sprayt und über und über mit Son­nen­blu­men- und Anti-AKW-Auf­kle­bern ver­ziert. Sie ging auf De­mos ge­gen Atom­kraft und ge­gen das Waldster­ben, sie or­ga­ni­sier­te In­fo­stän­de und häng­te abends Pla­ka­te auf. Die gan­zen Atom­kraft­wer­ke müss­ten so­fort ab­ge­schal­tet wer­den, er­klär­te sie. Evi war fest da­von über­zeugt, dass ihr kein Ter­ro­rist et­was tun woll­te. Sie sei für die Ter­ro­ris­ten un­in­ter­es­sant, sag­te sie. Sie hat­te Ka­ra­te ge­lernt, und da­mit wür­de sie je­den um­hau­en. Au­ßer­dem kön­ne sie ja schlecht mit Po­li­zei­schutz bei den Grü­nen an­rü­cken. Mein Va­ter konn­te nur den Kopf schüt­teln über so viel Leicht­sinn. Er woll­te nicht, dass sei­ner Lieb­ling­s­toch­ter et­was pas­sier­te.

      Evi hat­te sich in einen Stu­den­ten ver­liebt, der mit ihr Che­mie stu­dier­te, doch es gab kein Hap­py End. Evi, die so ger­ne Wurst auf Brot aß, war ziem­lich dick, und von der Schup­pen­flech­te hat­te sie Aus­schlag am gan­zen Kör­per. Mei­ne Schwes­ter hat­te al­len Mut zu­sam­men­ge­n­om­men und ih­rem Schwarm vor­ge­schla­gen, zu­sam­men ins Kino zu ge­hen. Er kam mit, aber zu­sam­men mit ei­nem an­de­ren Stu­den­ten. Kurz dar­auf hat­te er eine an­de­re Freun­din, die war dünn und hat­te ma­kel­los schö­ne Haut. Mein Va­ter schimpf­te, dass die­ser Stu­dent ja das Letz­te sei und wie er dazu kom­me, sei­ne tol­le Toch­ter zu ver­schmä­hen. „Es sind doch die in­ne­ren Wer­te, die zäh­len“, sag­te er sicht­lich ent­täuscht. Mein Va­ter war sehr stolz auf Evi und im­mer sehr be­sorgt um sie. Sie glänz­te an der Uni und war eine von den Stu­den­tin­nen, die al­les im­mer so­fort ver­stan­den.

      Mei­ne Mut­ter ver­such­te zu trös­ten. Evi hat­te ganz schön Ober­wei­te, und mei­ne Mut­ti mein­te zu ihr: „Das ist ein Plus­punkt. Zieh mal einen tie­fen Aus­schnitt an. Viel­leicht gibt es bei den Grü­nen einen, dem du ge­fällst.“

      Ich sag­te dazu lie­ber nichts. Wenn man nicht wuss­te, dass die Haut­fle­cken von der Schup­pen­flech­te ka­men, hät­te man den­ken kön­nen, es sei an­ste­ckend. Das war aber nicht so, denn wir hat­ten es nicht. Die Heil­prak­ti­ke­rin mei­ner Mut­ter hat­te Evi Rin­gel­blu­men­sal­be ver­schrie­ben, aber die half nicht. Sie hat­te sie wo­chen­lang auf­ge­tra­gen, aber die ro­ten Fle­cken wur­den nicht bes­ser. Das Tote Meer kön­ne hel­fen, hieß es, ein Bad dar­in wür­de sie hei­len; aber das war zu weit weg. Ich sag­te zu mei­ner Schwes­ter, dass ich sie sehr lieb hät­te, und sie lä­chel­te ein biss­chen.

      Aus Ent­täu­schung aß mei­ne Schwes­ter noch mehr und wur­de noch di­cker. Mei­ne Mut­ti mach­te sich Sor­gen um ih­ren Ge­müts­zu­stand. Zum Trost schenk­ten mei­ne El­tern ihr das Rei­se­geld für eine Zelt­tour durch Eng­land. Sie kam be­geis­tert zu­rück, und ihr Lie­bes­kum­mer war vor­bei.

      Ich be­te­te zum lie­ben Gott, dass er uns hel­fen und ihr einen Freund schi­cken sol­le. Schließ­lich wuss­te er doch ganz ge­nau, wer mei­ne Schwes­ter war.

      An der Uni kam für mei­ne rund­li­che Schwes­ter mit den di­cken Brüs­ten un­ter ih­rem grü­nen T-Shirt nie­mand in­fra­ge. Aber un­ter un­se­ren Per­so­nen­schüt­zern vor der Haus­tür war ein jun­ger Po­li­zist mit ei­nem be­son­ders hei­te­ren Ge­müt, er lach­te im­mer über al­les. Er war blond, dünn und nicht sehr groß, und er moch­te mei­ne di­cke Schwes­ter. Wir brach­ten den Per­so­nen­schüt­zern je­den Tag Ge­trän­ke vor die Tür, im Win­ter hei­ße und im Som­mer kal­te. Meis­tens schick­te mei­ne Mut­ti mich los, oder eben mei­ne Schwes­ter. Und da­bei hat­te sich das fro­he Ge­müt vor un­se­rer Haus­tür in die di­cke Evi mit der Schup­pen­flech­te im Ge­sicht und auf den Ar­men ver­liebt.

      Weil der Mann dach­te, dass man so ein Per­so­nen­schutz­fa­mi­li­en­mit­glied nicht ein­fach so an­spre­chen kön­ne, wand­te er sich an mei­ne Mut­ter und frag­te sie, ob er viel­leicht mal abends mit mei­ner Schwes­ter aus­ge­hen dür­fe. Da gab es doch die­sen gro­ßen Jahr­markt, wo man Ka­rus­sell fah­ren konn­te.

      Mei­ne Mut­ti war ganz an­ge­tan. Sie ver­sprach dem net­ten Po­li­zis­ten, Evi zu fra­gen.

      Wir hat­ten alle ge­dacht, dass Evi sich dar­über freu­en wür­de. Aber nein, sie woll­te auf kei­nen Fall mit ihm aus­ge­hen.

      Mein Va­ter war ver­är­gert. „War­um gibst du dem net­ten jun­gen Po­li­zis­ten nicht eine Chan­ce? Der steht je­den Tag stun­den­lang vor un­se­rer Tür, und du gibst ihm einen Korb?“

      Doch Evi gab nicht nach. Sie hat­te ab­so­lut kein In­ter­es­se.


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