Political Scholar. Alfons Söllner

Political Scholar - Alfons Söllner


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Wurzeln, die für Löwenthal auf Maimonides zurückverweisen, und Progression, weil in denselben Wurzeln ein vorwärtsweisendes Element, das messianische Bewusstsein wiederentdeckt wird: die „Sehnsucht nach dem gelobten Land“, die der Kern des „nationaljüdischen Geschichtsbewusstseins“41 sei.

      Aber diese Entwicklungslinie hier abzubrechen, hieße Heine auf ein nationalistisches Missverständnis festschreiben. Löwenthal kommt es auf die Fortsetzung der geschichtsphilosophischen Dynamik an: „Heine nimmt den Begriff der Befreiung auf und versteht ihn zunächst genau so, wie ihn die Reform verstanden hat – als die Befreiung der Juden aus unwürdiger Knechtschaft. Aber sehr bald wächst ihm dieser Begriff der jüdischen, der nationalen Befreiung zur menschheitlichen Befreiung.“42 Und daraus wiederum ergibt sich der weitere Abstraktionsschritt, der in der Geschichte des Vormärz tatsächlich gegangen worden ist, der die engagierten Demokraten aus Deutschland herauskatapultiert und nach Frankreich, ins Abenteuer der Revolution hineingeführt hat. Aber bevor Löwenthal auf Karl Marx und sein Verhältnis zum Judentum zu sprechen kommt, macht er einen bemerkenswerten Umweg, der den Konflikt zwischen Ost- und Westjudentum noch einmal aufnimmt und jetzt sogar entschieden bewertet: Ferdinand Lassalle, immerhin der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, ist für ihn das Paradebeispiel für einen nichtauthentischen Revolutionär, der seine ostjüdische Abstammung nicht loswurde, „weil es ihm niemals gelungen ist, jenes Grunderlebnis des geächteten jüdischen Volkes umzuschmelzen und zu läutern zur Reinheit einer von allem Persönlichem und allem zufällig Biographischen gereinigten Idee“.43

      Das genaue Gegenteil sieht Löwenthal in Karl Marx verkörpert, der „als die wirkliche Fortsetzung der in Maimonides kulminierenden Rationalisierung des Judentums“ gefeiert wird: „Er führt in grandioser Einseitigkeit und denkerischer Überlegenheit die Linie des universalistischen Erkenntnisprozesses fort.“44 Während Lassalle in einem lächerlichen Duell um eine Adlige zu Tode kam, hat Marx die Diskriminierung der Juden positiv verarbeitet und in eine ethische Haltung zu transformieren vermocht, mit der die „menschliche Emanzipation, die Befreiung der ganzen Menschheit von der Last der unterdrückenden Gewalt“ zum politischen Manifest wurde.45 Auffällig ist hier, dass Löwenthal seine Darstellung von Marx fast ausschließlich mit der umstrittenen Frühschrift „Zur Judenfrage“ bestückt, die für ihn das Gegenteil eines „jüdischen Selbsthasses“ ist, während die ökonomischen und klassentheoretischen Schriften kaum erwähnt werden. Der Grund dafür ist ziemlich klar: Löwenthal bleibt ganz auf den Neukantianismus verpflichtet, der in seiner letzten Phase den Übergang in die sozialistische Politik anvisierte, sich diesen aber nur im Horizont eines ethischen Universalismus vorstellen konnte.

      Löwenthal fügt dem allerdings ein starkes Treibmittel hinzu, und das ist eben die messianische Finalisierung des Geschichtsdenkens, die er als das eigentliche Substrat jüdischer Intellektualität behauptet. Dieser Zusammenhang wird überdeutlich im Artikel über Hermann Cohen, der offensichtlich der Höhepunkt und zugleich das Fundament der gesamten Serie ist – jetzt bewegt sich Löwenthal wieder in seinem Element, nämlich in der angestammten jüdischen Religionsphilosophie, und er verlässt den essayistischen Stil zugunsten einer eher systematischen Argumentation. Hermann Cohen ist für Löwenthal nicht weniger als der „moderne Maimonides“, der für den idealen Konvergenzpunkt zwischen Philosophie, Politik und Religion steht, oder moderner und konkreter gesprochen: der das dynamische Zusammenspiel von Kantianismus, Sozialismus und Judentum verkörpert und diese Elemente zu einer universalen „Wissenschaft vom Menschen“ verdichtet hat.46 Deren Aufbau führt Löwenthal in einer Art von Kategorienlehre vor, die über vier Stationen verläuft:

      „Mit der Vernunft […] beginnt die jüdische Religionsphilosophie“, lautet die erste Stufe, und natürlich denkt man sofort zurück an den umgekehrten Beginn, den die Baader’sche Theogonie in Löwenthals Dissertation genommen hatte. Aber immerhin: Die Religion kommt an zweiter Stelle, wobei die Wendung gegen jede Art von Polytheismus oder Pantheismus als selbstverständlich vorausgesetzt wird; denn mit der dritten Stufe ist das Judentum angesprochen, das weniger als eine „mögliche“ Konkretion der Religion ins Spiel kommt, sondern als diejenige Religion, in der „der Begriff Gottes an erster Stelle steht“, und zwar in der bestimmtesten Bedeutung als strenger Monotheismus, der sich kein Abbild Gottes erlaubt und damit seine Erkennbarkeit auf ein abstraktes Prinzip reduziert. Spätestens an dieser Stelle wird offensichtlich, dass Löwenthal nichts anderes im Sinn hat als ein Kondensat dessen zu präsentieren, was Hermann Cohen in seiner Schrift „Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ als Vermächtnis hinterlassen hat. Und doch scheint Löwenthal vor allem zeigen zu wollen, dass dieses Vermächtnis noch nicht ganz eingelöst, dass die darin steckende Botschaft noch nicht bis zum Letzten enträtselt ist. Eben dies, das Versteckte zu enthüllen, scheint Löwenthals Ehrgeiz zu sein, und er setzt damit wieder einen durchaus eigenen Akzent geschichtsphilosophischer Art.

      Zwar gehören die Schlüsselbegriffe, die dabei ins Spiel kommen, noch ins konventionelle Repertoire der Religionsphilosophie – Diesseits und Jenseits, Gesetz und Sünde, Schuld und Erlösung –, aber die Perspektive, die Löwenthal nunmehr mit Cohen aufmacht, avisiert „das vierte und letzte Grundthema, das der Erlösung“ in einer ganz bestimmten Form: Sie verknüpft die dominante historische Erfahrung des jüdischen Volkes, seine „Leidensgeschichte“ nicht nur mit der Idee der eigenen Erlösung, sondern mit der „Erlösung aller Menschen vom Leiden“ überhaupt. Es ist dieser eigentümliche Universalisierungsprozess, der darauf hinausläuft, die Sphäre der Religion hinter sich zu lassen oder besser, die theologische Spekulation so weit zu treiben, dass der messianische Endzustand ins Diesseits-Materielle zurückschlägt. Diese Konsequenz ist möglich geworden, weil vorher schon der eigentliche Inhalt des religiösen Wissens letztlich als ein erkenntnisförmiger oder besser als ein ethischer Kanon festgelegt wurde: „Religion und Ethik stehen nicht in dem Verhältnis von Diesseits und Jenseits, sondern von Erfülltheit und methodischem Hinweis. ,Die Korrelation von Mensch und Gott begründet das Reich der Sittlichkeit, das Gottesreich auf Erden.‘ (Cohen)“47

       Ausblick auf die „bürgerliche Geschichtsphilosophie“

      Überblickt man den Denkweg, den Leo Löwenthal in den 1920er Jahren zurückgelegt hat, so zeigt sich eine widersprüchliche, aber auch eine zielgerichtete Bewegung. Während das stärkste Kontinuitätselement in der Religionsphilosophie liegt, stellt sich das dynamische Zentrum in der geschichtsphilosophischen Reflexion dar, die aus dem Umkreis der jüdischen Geschichtsspekulation stammt und diese in eine ganz bestimmte Richtung vorantreibt. Dabei werden zwei Denkmotive miteinander verwoben, von denen das eine von Anfang an subkutan präsent ist und das zweite sich erst am Ende gleichsam Durchbruch verschafft. Während der Gedanke des Messianischen – der terminus a quo – zunächst noch ganz von der theologischen Sprechweise geprägt ist und somit in den Gedankenkreis einer dogmatischen Religionsphilosophie (christlicher wie jüdischer Prägung) eingeschlossen bleibt, zeigt der vom Neukantianismus herrührende, aber erst später explizit gewordene Gedanke der ethischen Universalisierung eine bemerkenswerte Sprengkraft, die von der religiösen Jenseitsfixierung weg- und zur Diesseitsbindung des Erlösungsgedankens hinführt. Die Ausrichtung der Geschichtsvorstellung auf ein Endziel unterliegt damit einer fortschreitenden Säkularisierung.

      Der terminus ad quem, auf den diese Entwicklung hinausläuft, kann hier nur mehr angedeutet werden. Es besteht im Umschlagen einer krypto-materialistischen Geschichtsphilosophie in ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm, wie es von Max Horkheimer dann für das Institut für Sozialforschung entwickelt wurde. Aber auch dieser Weg ist kein einfacher und direkter, sondern verläuft über eine geistesgeschichtliche Zwischenstation, die im intensiven Studium der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und besonders der französischen Aufklärungsepoche besteht. Und in diesem Zusammenhang ist ein Blick auf Leo Löwenthal noch einmal von besonderem Interesse: Hatte er schon 1926 nebenberufliche Kontakte mit dem Institut für Sozialforschung geknüpft, so nahm er dort 1930 eine hauptberufliche Tätigkeit auf und trat damit ganz offiziell in den Kreis um Max Horkheimer ein. Wechselseitige Einflüsse und parallele Interessen sind aber schon vorher manifest. Auf sie soll abschließend nur unter dem retardierenden Gesichtspunkt hingewiesen werden, wie stark „alte“ Motive in der „neuen“ Ausrichtung noch fortwirken.

      Ein erstes Beispiel


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