Stehaufmenschen. Brigitte Gogl
keinerlei Beschwerden.“ Als ihre Eltern eine Woche später aus dem Urlaub nach Hause kommen, beschließt man, den Knoten doch im Krankenhaus anschauen zu lassen. Antibiotika machen das Gewächs nicht kleiner, und so erfolgt eine Biopsie, schließlich wird der Knoten komplett entfernt.
Den Tag der Befundbesprechung wird Lisa nie mehr vergessen: „Meine Freundin wurde rausgeschickt, dann sind die Ärzte gekommen und haben mir gesagt, es handelt sich um Lymphdrüsenkrebs. Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war ein Schock, dann sind auch Tränen geflossen.“ Wirklich realisiert hat Lisa die Diagnose allerdings erst, als ihre Schwester ins Zimmer gekommen ist und geweint hat. Da ist ihr wirklich klargeworden, wie ernst es um sie steht. „Muss ich jetzt sterben?“, fragt Lisa die Ärzte, aber das kann ihr zu diesem Zeitpunkt niemand sagen.
Zwischen Juli und Weihnachten 2018 wird Lisa Zöhrer vier Chemotherapien und 17 Bestrahlungszyklen erhalten. Davor muss Lisa weitreichende Entscheidungen treffen. In alle Behandlungsschritte, jede Operation und jede Therapie muss sie selbst per Unterschrift die Einwilligung geben, zumal sie gerade volljährig geworden ist. Sie hat ihr Leben vor sich, sie will unbedingt eine Familie und Kinder haben – und jetzt kann ihr niemand sagen, ob das nach der Krebstherapie überhaupt noch möglich sein wird. Lisa entscheidet sich dazu, Eizellen einfrieren zu lassen, für alle Fälle, denn die Chemiekeulen werden ihren jungen Körper mehr schädigen, als sie es sich vorstellen kann.
Während der Chemotherapien ist sie hart im Nehmen: Stark bleiben, nicht aufgeben, kämpfen, durchbeißen – das sind ihre Devisen, die sie schon als Mädchen im Leistungssport so sehr verinnerlicht hat. „Wenn du als Kind mit einem Riesenrucksack und zwei paar Skiern tagelang ohne Eltern am Gletscher beim Skitraining bist, dann bist du einfach diszipliniert und hältst auch im Leben einiges aus“, sagt Lisa.
Zum anderen bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig, als die Behandlungen mit allen Höhen und Tiefen zu ertragen: „Natürlich habe ich mir jeden Tag gewünscht, gesund zu sein. Trotzdem wusste ich immer, dass ich eben schwer krank bin und dass es aus dieser Situation keinen Ausweg gibt. Man muss die Behandlungen über sich ergehen lassen, um eine Chance auf Heilung zu haben“, erinnert sich Lisa. Wenn man in diese schwierige Lebenslage gerät, dann lerne man intuitiv, damit umzugehen: „Ich versuche, stets nach dem Leitsatz zu leben, dass alles aus einem bestimmten Grund passiert. Und auch wenn es in vielen Situationen kaum vorstellbar ist, dass sich hinter einer so misslichen Lage etwas Positives verbirgt, muss ich sagen, dass ich so viel gelernt habe, weil ich es lernen musste.“
Lisas erster Gedanke nach der Diagnose ist beispielsweise, die Krebserkrankung alleine durchzustehen, den Leuten nichts zu sagen, ihre Familie so wenig wie möglich damit zu belasten: „Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich habe mich fast dafür geschämt, krank zu sein“, erzählt die junge Studentin.
Doch schneller als befürchtet wird ihre Krebserkrankung offenbar. Eine Woche nach der ersten Chemotherapie fallen Lisas lange, blonde Haare aus. Sie geht aktiv mit der Situation um: „Ich wusste, dann will ich sie abrasieren.“ Gemeinsam mit ihrem Freund macht sie kurzen Prozess, und die beiden können sogar lachen in diesem tragischen Moment. „Zu zerbrechen war für mich keine Option, ich bin zu jung, ich werde kämpfen und den Krebs auch besiegen“, beschließt Lisa, jetzt mit Glatze.
Während der monatelangen Therapie gibt es für die junge Frau viele schlimme Tage, auch wenn sie rückblickend überrascht ist, wie viel normales Leben in dieser Zeit für sie möglich ist. Zwischen den Behandlungen kann sie einiges unternehmen, auch mit Freunden, in der Natur Kraft tanken, und sie kann sogar ihr Logopädie-Studium weiterführen. Diese wenigen Stunden der Normalität zählen für Lisa zu den schönsten Momenten ihrer Krankheit, die sie sehr oft in die Klinik zwingt, obwohl die Anti-Krebs-Behandlungen meist ambulant erfolgen können.
Ihr Freund ist an den Therapietagen, die so sehr an ihre Substanz gehen, immer bei ihr. Er kümmert sich um alles, studiert die Liste der Nebenwirkungen, die sie selber gar nicht wissen will, und ist insgesamt ein aufmerksamer und einfühlsamer Begleiter. Die beiden können auch während der Chemotherapie noch scherzen: „Einmal war mein Freund kurz draußen und erzählte dann, was er im Gang für einen üblen Beutel gesehen hat, mit einer blauen Folie und einem gelben Schlauch und einem UV-Schutz rundherum.“ Im nächsten Moment geht die Tür auf, und ausgerechnet bei Lisa wird der Beutel mit dem Totenkopf an den Infusionsständer angehängt. Worauf beide richtig lachen müssen.
Die Ängste allerdings, die kommen immer wieder schmerzlich hoch. „Man hat sich mit 19 oder 20 Jahren ja noch nicht wirklich mit dem Tod beschäftigt“, sagt Lisa Zöhrer und erzählt davon, wie man laufend gezwungen wird, dem eigenen Tod ins Auge zu schauen.
Bei einem längeren Klinik-Aufenthalt sitzt sie mit einer Freundin in der Krankenhaus-Cafeteria, um wieder etwas Kraft zu tanken, längst ohne Haare und sichtlich von den vielen Medikamenten in Mitleidenschaft gezogen, da kommt ein Mann an ihren Tisch und wünscht ihr freundlich eine gute Besserung. Und merkt in einem Nachsatz an: „Wenn das überhaupt noch möglich ist.“ Für Lisa ist diese Aussage wie ein Keulenschlag, wieder einmal wird sie mit der Möglichkeit des baldigen Todes konfrontiert, der Satz brennt sich förmlich in ihr ein, sodass sie ihn nie wieder vergessen wird.
Zurück in ihrem Zimmer hat sie eine neue Zimmernachbarin, die nach der Chemotherapie mit großer Übelkeit zu kämpfen hat. „Bei 35 Grad im Zimmer war das nicht auszuhalten, ich bin in den Aufenthaltsraum geflüchtet.“ Da wird sie vertrieben, weil gerade eine Mitpatientin gestorben ist und die Familie in diesem Raum von der Seelsorgerin betreut werden sollte. „Alles in allem war dieser Tag einfach nur furchtbar für mich. Ich habe mich an keinem anderen Tag schlechter und kranker gefühlt als an jenem Tag. So offensichtlich als krank und scheinbar hoffnungslos erkannt und angesprochen zu werden und am selben Tag dem Tod noch so nahe sein zu müssen, war eine furchtbare Erfahrung.“
Ihre Familie will Lisa nicht mit ihren Ängsten konfrontieren. Auch ihrem Freund gegenüber empfindet sie das als schwierig: „Wieso redest du über sowas, das ist jetzt nicht relevant, du überlebst das!“ Für Lisa sieht es danach aus, als gäbe es die Möglichkeit, dass sie so jung sterben könnte, für ihr Umfeld gar nicht.
Dass das Lebensalter für die Überwindung einer Erkrankung immer ausschlaggebend ist, glaubt Lisa nur bedingt. Einmal wurde sie von einem 83-jährigen Mann auf der Chemoambulanz angesprochen. Er meinte, wie unfair es sei, dass sie bessere Heilungschancen hätte als er. Dass es nicht fair sei, dass sie aufgrund ihres Alters eine bessere Chance hätte, die Erkrankung zu überleben, als er. Im ersten Moment war Lisa schockiert von dieser Aussage: „Wie kann ein 83-Jähriger es unfair empfinden, dass eine 20-Jährige bessere Chancen hat, eine Krebserkrankung zu überleben? Ich bin froh, wenn ich nur halb so alt werden darf wie er. Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf gegangen ist.“ Durch dieses Erlebnis wurde Lisa klar, dass man sich nie „alt genug“ zum Sterben fühlt. Ihr wurde bewusst, dass ein 83-jähriger Mann dieselbe Angst vor dem Tod haben kann wie ein junger Mensch. Und dass er genauso weiterleben möchte wie ein 20-jähriges Mädchen. „Daher glaube ich, dass die Lebenseinstellung einen großen Einfluss auf die Verarbeitung der Erkrankung hat“, sagt Lisa. Sie habe einige ältere Patientinnen und Patienten kennengelernt, die viel mehr mit ihrem Schicksal gehadert hätten als die jüngeren Patientinnen und Patienten.
Lisa spricht über ihre Sorgen immer wieder mit der Psychoonkologin an der Klinik, über die nagende Angst, den 21. Geburtstag nicht mehr erleben zu dürfen. Aber welche Gedanken können da überhaupt helfen, was hat für Lisa die Angst vor dem Tod beherrschbar gemacht? „Es war allein schon die Tatsache, das alles einmal laut aussprechen zu können, den Worstcase, dass der Tod eintreten könnte. Was sie mir geraten hat, weiß ich heute gar nicht mehr, es war einfach so befreiend, selber meine Gedanken offen zu formulieren“, erinnert sich Lisa Zöhrer, wie sich ihr Bezug zum Thema Sterben und Tod in dieser Zeit stark verändert hat. Von einer wirklichen Panik und dem Bemühen, den Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen, kommt sie hin zur beruhigenden Überzeugung, dass das Sterben jedem Menschen irgendwann einmal passiert, dem einen früher, dem anderen später.
Und so bewältigt sie noch während der Therapien die Angst vor dem Sterben – auch, indem sie erkennt, dass es für sie eigentlich die Sorge ist, so viel im Leben zu verpassen: Niemals eine Familie aufbauen, nie einen