Stehaufmenschen. Brigitte Gogl

Stehaufmenschen - Brigitte Gogl


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Er trainiert seine Lungenflügel heimlich mit dem Mundstück der Posaune und seine Musikantenfreunde halten ihm den Platz in der Gruppe frei. „Das Gefühl, dass sie mich nicht vergessen haben, war so wichtig für mich; das Wichtigste ist natürlich die Familie, die Frau, die mich immer besucht hat, die Söhne, aber die Musik, die hält mich tatsächlich auch am Leben“, sagt Margreiter.

      So schafft er unter größten Anstrengungen das Unglaubliche: Pünktlich am 17. Dezember ist er zur Eröffnung der Skischule in Alpbach wieder im Einsatz, mit vielen Abstrichen zwar, aber er ist zurück im Leben, bei seiner Arbeit, seiner Familie – und bei seiner Posaune.

      Wenige Tage später, am 24. Dezember, tritt er mit den Alpbacher Bläsern zum ersten Mal wieder vor einer großen Öffentlichkeit auf – bei der „Liabsten Weis“ im Fernsehen. „Als ich damals in den ORF gekommen bin, waren alle Freunde da, und alle hatten feuchte Augen“, erinnert sich Sepp Margreiter.

      Er spielt wieder, und er spielt wieder mit den Alpbacher Bläsern genauso wie mit der Alpbacher Kirchtagmusig und der Bundesmusikkapelle Alpbach. Dafür trainiert und übt er täglich hart, damit seine Lunge mitspielt und auch sonst alles passt: „Ich könnte es nicht ertragen, dass sie mich nur aus Mitleid mitnehmen, das wäre etwas vom Schlimmsten für mich.“

      Sepp hat sich seinen Platz in der Musikwelt wieder zurückerobert. Und er spielt sogar am Berg, dort, wo andere nur in kräfteraubenden, stundenlangen Fußmärschen hinkommen: „Zweimal haben mich meine Kollegen auf einen Gipfel zur Bergmesse gebracht, einmal mit dem Hubschrauber, einmal mit einem Spezialgefährt zur Holzbringung.“ Fast vier Stunden brauchen sie, um den Sepp mit vereinten Kräften auf den Berg zu befördern, und als oben die ersten Töne erklingen, da rinnen dem Sepp die Tränen über die Wangen. Sein großer Traum ist in Erfüllung gegangen, noch einmal hier oben zu musizieren.

      „Ich bin weicher geworden durch den Unfall, der hat mich regelrecht aufgeweicht, und das ist gut so, denn wir sind alle so hart aufgewachsen, viel zu hart eigentlich. Heute betrachte ich es als Stärke, solche Gefühle zu zeigen, früher hätte ich es als Schwäche gesehen und oft wird man heute noch als Schwächling gesehen deshalb“, sagt Margreiter. „Die Gefühle rauszulassen ist heilend, das könnte ich durchaus auch empfehlen. Ich würde sagen, dass es manchen Menschen psychisch besser gehen würde, wenn sie ihre Gefühle mehr zeigen würden, das ist meine Erfahrung durch den Unfall.“

      Körperliche Fitness ist für Rollstuhlfahrer mindestens ebenso wichtig wie für Menschen, die auf zwei Beinen durchs Leben gehen. Sepp Margreiter bleibt deshalb nicht nur im Skischulbüro, sondern lernt im zweiten Jahr schon Monoskifahren. Er unterrichtet dann selbst behinderte Menschen – und wird auch darin schnell über die Grenzen hinaus bekannt. Zwei, drei Stunden trainiert Margreiter täglich im eigenen Fitnessraum. Und sobald es das Wetter zulässt, schwingt er sich in sein Handbike und ist auf und davon. Für seinen Ehrgeiz und seine Zähigkeit ist Sepp Margreiter seit jeher bekannt – und der Unfall hat diese Eigenschaften eher noch verstärkt. Bis heute ist er mehr als 80.000 Kilometer mit seinen Händen geradelt und hat dabei über 600.000 Höhenmeter bewältigt. Sein größter Erfolg: Er befuhr mit 61 Jahren mit dem Handbike und ohne Motor die Großglockner-Hochalpenstraße – beobachtet von staunenden Radfahrern, die wesentlich jünger sind als der Sepp, die mit zwei gesunden Beinen radeln und oftmals trotzdem scheitern. „Ja, zumindest in meinem Alter wird es eher keinen geben, der das geschafft hat“, sagt Sepp Margreiter ganz bescheiden zu der Leistung, die andere als wahre Sensation werten.

      Sepp Margreiter war schon vor seinem Unfall mit vollem Einsatz bei der Sache. Als staatlich geprüfter Skilehrer trainierte er damals sogar den englischen Skinachwuchs und das britische Armeeteam. Freundschaften aus dieser Zeit führten ihn nach seinem Unfall sogar zum Tee mit Prinz Charles auf dessen Landsitz in Highgrove. „Meine Frau und ich sind behandelt worden wie die Könige, das war ein wirklich unvergessliches Erlebnis“, schmunzelt Sepp Margreiter, der als einer von ganz wenigen Österreichern persönliche Beziehungen zum Prinzen haben dürfte. „Ich habe ihm dann auch zur Hochzeit mit Camilla gratuliert, und er hat mir persönlich geantwortet.“

      Das Leben von Sepp Margreiter ist voller schöner Erinnerungen – und es ist ein lebenswertes Leben geblieben. Das erzählt er auch immer wieder Schulklassen und auch frisch verunfallten Menschen an der Innsbrucker Klinik. „Wenn ich denen sage, es gibt ein Leben danach, es ist noch so viel möglich, ich bin heute selber mit dem Auto hier, ich fahre Rad, ich fahre Ski, dann beginnen die ausdruckslosen Augen plötzlich zu leuchten“, erzählt Sepp Margreiter. Er schaut selbst auf ein Leben in Bewegung, das nur kurz einmal stillgestanden ist: „Ich kann heute alles wieder machen, außer gehen.“

      Sepp Margreiter bewältigte als Querschnittgelähmter mit dem Handbike die Großglockner-Hochalpenstraße (1) und sattelte als Skilehrer auf den Monoski um (2). Freunde bringen ihn noch einmal auf einen Berggipfel (3) und auch die Musikerkollegen nahmen ihren Sepp im Rollstuhl wieder mit offenen Armen auf (4).

       Fotocredit: 1 und 3 Toni Silberberger

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       ADI SPANNINGER

      JAHRGANG 1940

      Wie viele Schicksalsschläge kann ein Mensch ertragen, ohne daran zu zerbrechen? Diese Frage hat sich Adi Spanninger nicht nur einmal im Leben gestellt. Als Vierjähriger verlor er seinen Vater, später starb ein Bruder bei einem Unfall und wenige Wochen später eine Schwester durch einen Blitzschlag. Und Adi Spanninger wurde viele Jahre später noch einmal vom Schicksal schwerst getroffen. Der Blitztod schlug in der Familie ein zweites Mal zu, und das auf grausamste Weise: Adi Spanninger verlor dabei seinen eigenen Sohn. Dass ihn trotzdem der Lebensmut nie verlassen hat, schreibt Spanninger seinem unerschütterlichen Glauben zu.

      „Es tut mir gut, dort zu sein, wo er den letzten Atemzug getan hat“

      Schon als Kind muss Adi Spanninger tapfer sein. Er wächst während des Zweiten Weltkrieges in der Oststeiermark auf und erlebt zahlreiche Bombenalarme. „Ich bin mit meinen jüngsten Geschwistern unter dem Kittel der Mutter im Keller gekauert. Aber gezittert haben wir trotzdem, vor Kälte und vor Angst.“ Die Kinder hören in ihrer Höhle aus Stoff die Bomben fallen und getrauen sich kaum zu atmen, bis das Gedonner der U-52 wieder abgezogen ist.

      Doch die klarste Erinnerung hat Adi an den Tag, als die Mutter ihre große Kinderschar anheißt, sich vom Vater zu verabschieden. „Der Vater verlässt uns für immer“, sagt sie, er hat eine so schwere Lungenentzündung, dass es zur damaligen Zeit keine Heilung gibt und er stirbt. Die Kinder beten auf dem Friedhof für den Vater, große Trauer liegt dann auf dem kleinen Bauernhof, der gerade genug abwirft, um die 14 Kinder zu ernähren, die in den letzten 20 Jahren geboren worden sind, alle 18 Monate eines.

      „Wie das die Mutter dann gemacht hat, weiß ich nicht, aber wir hatten immer zu essen“, erinnert sich Adi. Die Mutter ist eine sehr starke, gottesfürchtige Frau, die es dauerhaft schafft, ihre Kinder alleine durchzubringen. Und nicht nur ihre eigenen. Eines Tages findet sie in der Nähe des Bauernhauses ein weggelegtes Neugeborenes, das sie zu sich nimmt und wie ihr eigenes Kind aufzieht. Und es werden noch zwei weitere Pflegekinder dazukommen, Kinder, die kein Zuhause haben und die keiner haben will. „Hedwig, nimm du sie, du kannst das“, sagt der Pfarrer, und die Hedwig nimmt auch sie auf und hat dann für nicht weniger als 17 Kinder alleine zu sorgen.

      Die starke Mutterfigur ist prägend, für Adi genauso wie für die anderen Geschwister. „Sie hat nie gejammert und nie einen Unterschied zwischen uns Kindern gemacht, alle waren wie ihre eigenen, ganz genau gleich. Wir empfinden das bis heute alle als großes Geschenk und sind auch immer noch in Kontakt“, sagt Adi Spanninger. Auch wenn nicht mehr viele der Geschwister am Leben sind. „Meine Mutter musste bis zu ihrem eigenen Tod insgesamt sieben ihrer


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