Achtsam scheitern. Christin Henkel
als wir unser Haus betraten. Meine Eltern hielten nichts von vorgefertigten Dekoartikeln aus dem Baumarkt. Sie verzierten unseren Flur stattdessen mit Tierpräparaten aller Art. Jeder tote Vogel, den sie fanden, musste ausgestopft und aufs Regal gestellt werden. Das Gleiche galt für Säugetiere, also wurde man beim Eintreten von diversen Uhus, Spechten, Blaumeisen, zwei Füchsen, drei Wieseln und einer fünfköpfigen Dachsfamilie begrüßt. Ich bin heute noch froh, dass meine Eltern nie einen toten Bären gefunden haben. Unseren morbiden Zoo hätte das Glitzermädchen vielleicht noch verkraftet. Der größte Schock durchfuhr sie erst, als wir das Wohnzimmer betraten:
»Habt ihr gar keinen Fernseher?« Ihr hübsches Gesicht hatte das letzte bisschen Farbe verloren, und sie starrte mit offenem Mund auf den Platz gegenüber des Sofas. Anstelle einer Flimmerkiste stand dort eine ausgestopfte Wildkatze. Ich wusste nicht, wie ich angemessen reagieren sollte. Mir graute ja schon vor jedem Montagmorgen, an dem sich die Schulkameraden angeregt über die Mini-Playback-Show austauschten und ich nicht mitreden konnte.
»Klar haben wir einen Fernseher!«, flötete uns meine Mutter aus dem Flur entgegen, die das Gespräch offenbar belauscht hatte. Ich ahnte, was jetzt folgen würde. Schon stand Mutti bei uns im Wohnzimmer, rückte die Wildkatze beiseite und stellte einen braunen Pappkarton mit aufgemalten Knöpfen und einer ausgeschnittenen, viereckigen Öffnung auf die Kommode.
»Macht es euch bequem! Wir haben ganz viele verschiedene Sender!«
Das Glitzermädchen blieb wie angewurzelt stehen, während meine Mutter stolz eine Reihe aneinander geklebter Bilder durch den Monitor zog, um die einzelnen Programme zu präsentierten.
»Auf ARD läuft ein toller Tierfilm und – tadaaa! – auf ZDF eine Dokumentation über bedrohte Pflanzen.« Auf den dazugehörigen Bildern waren zwei Tiger abgebildet und Blumen, die traurig ihre Köpfe hängen ließen. In einer der oberen Ecken standen die Buchstaben der dazugehörigen Sender. Natürlich nur der öffentlich-rechtlichen. Dass nicht mal unser Papp-Fernseher RTL hatte, versteht sich von selbst.
»Und schaut mal hier«, Mutti zog die Rolle ein Stück weiter, »in den Nachrichten wird über die hohe Luftverschmutzung berichtet!« Sie nutzte diesen Aufhänger, um einen ausführlichen Vortrag über Treibhausgase und das Ozonloch zu halten, bis sie ein weiteres Mal »den Sender wechselte«, auf dem (große Überraschung!) schon wieder ein Tierfilm lief. Spätestens jetzt fiel auf, wie einseitig das Fernsehprogramm unseres Pappkartons war. Tiere, Pflanzen, Umweltschutz – und weit und breit kein Disney.
»Was ist denn deine Lieblingssendung?«, bezog meine Mutter nun auch das Glitzermädchen mit ein. Die Kleine hatte immer noch die Sprache verloren, und es dauerte ein Weilchen, bis sie ein leises »Die Gummibärenbande« hervorbrachte.
»Die Gummibärenbande, aha.« Meine Mutter schien enttäuscht. Sie hatte auf eine pädagogisch wertvollere Antwort à la »Als die Tiere den Wald verließen« gehofft. Das war die einzige Kindersendung, die mir meine Eltern erlaubten, wenn ich bei Oma und Opa zu Besuch war. Ich hätte viel lieber etwas Schönes mit Ariel oder einem Märchenschloss geschaut, aber ich war nicht wählerisch. Hauptsache in die Röhre glotzen.
»Na gut!« Meine Mutter hatte eine Idee. »Dann hole ich euch jetzt mal ein paar schöne Buntstifte und ein paar Blätter, und ihr könnt eine ganz tolle Folge dieser Gummitiersendung zeichnen!«
Zwei Minuten später lag ein Stapel umweltfreundliches Papier und eine Federmappe mit unbehandelten Buntstiften auf dem Tisch. Ich hatte Hoffnung, denn ich wusste, wie gern das Glitzermädchen bastelte.
»Da ist ja schon was drauf!«, warf meine Beinahe-Freundin ein und deutete auf die Blätter, deren Rückseite bereits mit dem Slogan »Stoppt die Thüringer-Wald-Autobahn!« bedruckt waren.
»Die kann man doch noch verwenden!«, bediente sich meine Mutter an den Top 3 ihrer Lieblingssätze und legte meinem Besuch eine unbedruckte Vorderseite vor die Nase. Wir legten los, aber schon nach wenigen Minuten wurde dem Glitzermädchen sichtbar langweilig.
»Habt ihr was zu naschen?«, fragte sie zögerlich und erzählte, dass ihre Mutti immer eine Schale mit Schokobons und Mäusespeck bereitstellte, wenn andere Kinder zu Besuch kamen. Jetzt blieb mir der Mund offen stehen. Dort musste es wie im Schlaraffenland zugehen. Meine Mutter wollte Schritt halten und überraschte uns mit einem Teller leckerer, selbst getrockneter Apfelringe, die so zäh waren, dass man sie lutschen anstatt beißen musste. »Hihi! Fast wie Gummibärchen«, feixte sie und wies meinen ahnungslosen Besuch darauf hin, dass Schokobons wirklich unmöglich sind, weil jedes Bonbon einzeln verpackt ist. Abschließend wurde ihr Vortrag mit dem obligatorischen »So einen Plastikmüll kaufen wir nicht!« beendet.
Die Kleine schaute verunsichert drein und malte weiter lustlos auf dem Recycling-Papier herum. »Die Farben sehen alle so komisch aus auf dem grauen Blatt«, bemerkte sie und fragte, ob wir Sticker zum Verzieren hätten. »So einen Plastikmüll kaufen wir nicht«, sagte meine Mutter schon wieder, »aber ihr könnt draußen im Garten ein paar schöne Blätter sammeln und aufkleben.« Damit war der Bogen eindeutig überspannt. Das Glitzermädchen suchte bereits nach einer Exit-Strategie:
»Ähm … Ich muss jetzt nach Hause, ich darf heute noch Super RTL gucken«, sagte sie und schnappte sich ihren pinken Anorak. »Schade«, sagte ich geknickt. »Schade«, hörte ich auch meine Mom sagen, »ihr könnt doch hier schauen!« Doch auch der letzte verzweifelte Versuch, unserem Gast das Recycling-TV schmackhaft zu machen, scheiterte. Für den Rest meiner Grundschulzeit hatte ich nie wieder Besuch. Ich hatte zweifellos den besten ökologischen Fußabdruck aller unter Zehnjährigen, aber Freunde wären mir wirklich lieber gewesen.
Mein Handy klingelt. Das überrascht mich, immerhin befinde ich mich noch in der Brandenburgischen Countryside. »Lübben, Baby! Wir haben sogar Empfang!«, könnte der Slogan der Kleinstadt lauten, die ich gerade mit dem Regio durchquere. Eine WhatsApp-Nachricht hat mich erreicht. Mutti und Vati haben ein Bild gesendet. Mein Dad hält ziemlich stolz und breit grinsend einen Apfel in die Kamera. Im Hintergrund grinsen die ausgestopften Tiere. »Frisch geerntet! Morgen gibt es selbst gemachten Apfelstrudel. Willst du vorbeikommen?«, lautet der dazugehörige Text. Ich speichere das Foto im Ordner mit den anderen fünfzehntausend Bildern ab, auf denen meine Eltern Obst und Gemüse in die Kamera halten, und tippe eine Antwort: »Würde ich gern, aber ich muss morgen um zwölf Uhr zurück in München sein.«
Wirklich schade. Ich hätte die beiden gern besucht und einen Zwischenstopp in der alten Heimat eingelegt. Das mit den nicht vorhandenen Barbies und der geplatzten Karibikreise habe ich längst überwunden. Meine Eltern waren ihrer Zeit einfach nur voraus. Wäre ich im letzten Jahrzehnt im Prenzlauer Berg aufgewachsen, hätte ich es mit Sicherheit in die Top 10 der beliebtesten Kinder im Kiez geschafft. Wir hätten gemeinsam mit unseren ungeschminkten Mamis natürliche Aromaöle hergestellt, in der Waldorfschule hätte ich alle mit meinem Wissen über Flora und Fauna vom Holzhocker gehauen und das DIY zum Recycling-Fernseher wäre auf YouTube in die Trends geschossen. Längst hat sich das Bewusstsein der Gesellschaft zum Positiven gewandelt, und die Glitzermädchen haben die Vorherrschaft verloren, zumindest in den Akademikerhaushalten deutscher Großstädte. Jetzt sind die Montessori-Mathildas an der Macht. Das wäre meine Zeit gewesen.
Ich suche mir den schrumpligsten aller Äpfel aus Denis’ Jutebeutel und schicke meinen Eltern ein Selfie. »Selbst geerntet«, schreibe ich drunter. »Ach nee, doch nich’!«
Tipp 1: Du hast eigene Kinder? Setze Prioritäten! Was ist dir wichtiger?
a) Die Rettung der Erde
b) Eine Schulzeit ohne Mobbing
Tipp 2: Solltest du dich für a) entschieden haben: Nicht nur den Fernseher, auch das iPad Pro 11 kannst du super aus einer alten Pappschachtel selbst herstellen. Jetzt noch schnell die unbehandelten Buntstifte rausholen und ein paar Bilder von den Teletubbies und Peppa Wutz malen – schwups! Fertig ist YouTube Kids.
Ausmisten mit Marie Kondo
Ich finde Chaos voll in Ordnung
Bevor meine Freunde Mona und Manuel ein Paar wurden, wohnten sie bereits zusammen. Von 2010 bis zur ersten dicken Gehaltserhöhung teilten