Achtsam scheitern. Christin Henkel

Achtsam scheitern - Christin Henkel


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war die reinste Abenteuerreise. Vor der Tür tummelten sich unzählige Paar Schuhe: ein wilder Mix aus den Sneakers der Bewohner und einem Potpourri vergessener Latschen von Freunden und Unbekannten, die die letzte Hausparty im Delirium nackt oder unbesohlt (oder beides) verlassen hatten. Man musste sich erst eine kleine Schneise frei treten, um zur Tür zu gelangen, die sich nur einen Spalt öffnen ließ, da sie von zahlreichen Pfandflaschen umstellt war.

      »Wollt ihr die nicht mal wegbringen?«, fragte ich eines Abends zögerlich, als wir die Wohnung gar nicht mehr betreten konnten und unser Bier im Hausflur konsumieren mussten.

      »Ist unsere Altersvorsorge!«, erwiderten meine Freunde schelmisch, und so tranken wir auf der Treppe zum Dachboden, bis wir genug Leergut für ein paar weitere Lebenstage zusammen hatten.

      Auch im Inneren der illustren Behausung gab es immer etwas zu entdecken. Ein sehr, sehr trübes Aquarium im Flur zum Beispiel. Es wurde unermüdlich behauptet, dass darin Fische lebten, obgleich man diese nie zu Gesicht bekam.

      »Die sind nur in den frühen Morgenstunden aktiv. Das ist typisch für Fische. Übernachte doch mal bei mir, dann kannst du dich selbst überzeugen«, hatte mir Denis geheimnisvoll erklärt. Doch auch das Inaussichtstellen einer seltenen Naturbeobachtung konnte mich damals nicht dazu bewegen, die Nacht mit ihm zu verbringen. Ich wusste, dass schon viele Damen vor mir »die Fische beobachtet hatten«, und wollte nicht Teil der Gruppe der Zoobesucherinnen mit gewissen Vorzügen werden.

      Auch tagsüber hatte die Wohnung meiner Freunde fantastische Naturschauspiele zu bieten. Man musste einfach nur den Schrank unter der Spüle öffnen. Darin befanden sich einige Zwiebeln, die über die Jahre in Vergessenheit geraten waren. Hoch ­wucherten die Keime der Knolle gen Himmel, und ihr süßsaurer Duft durchströmte die anliegenden Zimmer. Ob das die Brutstätte für Denis’ grünen Daumen gewesen ist?

      Berge von Geschirr, Stapel aus Schallplatten und unbeantwortetem Papierkram, ein Kratzbaum für die seit Jahren verstorbene WG-Minka und unzählige herumliegende Kleidungsstücke gehörten zum Wohlfühlambiente der zwanghaft hedonistischen Mittzwanziger. Warum auch nicht! Wir waren jung, und es galt der Satz: »Wer eine aufgeräumte Wohnung hat, hat kein Leben.«

      Irgendetwas muss in den vergangenen Jahren passiert sein, denn beim letzten Besuch, den ich Mona und Manuel im Frühjahr abstattete, verschlug es mir die Sprache. In freudiger Erwartung auf ihren Nachwuchs hatten die beiden eine Drei-Zimmer-Dachgeschosswohnung in der Belforter Straße im Kollwitzkiez bezogen und zur traditionellen Einweihungsparty geladen. Vermutlich die letzte Station, bevor ernsthaft über ein Haus im Grünen nachgedacht wurde. Das war mir die Reise von München nach Berlin absolut wert. Es war ihr inzwischen dritter Umzug innerhalb der Stadt, und die Festlichkeiten zum Einzug waren seit jeher berüchtigt.

      Bei den letzten Partys wurden die Flohmarkt-Möbel aus dem Fenster geschmissen, damit man Platz zum dancen hatte, die coolsten Kiez-Hipster waren zu Gast, und irgendein Typ pinkelte jedes Mal in Monas Ikea-Palme, die sich über all die Jahre hervorragender Gesundheit erfreute. Der Abend konnte nur gut werden.

      Doch schon beim Betreten des Hauseingangs wurde ich skeptisch. Alles war ruhig. Keine laute Musik, kein grölender Manuel, kein Mucks weit und breit. Vielleicht hatte ich mich in der Adresse vertan.

      »Willst du auch zur Party?«, fragte ein harmloses Pärchen, das kurz nach mir den Eingang betrat und mich schon in den ersten zwei Sekunden zu Tode langweilte. Er trug eine fetzige Funktionsjacke und sie eine Salatschüssel.

      »Das ist Guacamole. Selbst gemacht. Ganz köstlich«, promotete sie ihr Mitbringsel. »Das ist Hugo vom Aldi. Selbst gekauft. Mega lecker«, promotete ich meins. Meine Freunde und ich waren immer große Fans dieses exquisiten Getränks gewesen, sie würden sich darüber sicher sehr freuen.

      Wir betraten den Aufzug und fuhren nach oben. Da die Sache mit den Gastgeschenken inzwischen geklärt war, hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Das Weibchen beäugte mich argwöhnisch. Warum Pärchen-Frauen jeder anderen Dame, die grad keinen Schatzi im Schlepptau hat, misstrauisch gegenüberstehen, werde ich nie kapieren. Befürchtete sie wirklich, ich könnte ihr den heißen Windjackenträger ausspannen? Das war eine echte Beleidigung. Ich warf ihrem Schatzi ein umwerfendes Lächeln zu, nur so, um sie ein bisschen aus der Reserve zu locken, dann öffnete sich die Fahrstuhltür, und wir standen direkt in der Wohnung.

      Ich war baff. Die Bude war beinahe komplett leer, dabei lag der Umzug Wochen zurück. Mein erster Blick konnte nur ein Sideboard im Skandi-Look, ein helles Ecksofa und drei weitere, offenbar trächtige Paare erhaschen, von denen man nicht sicher sagen konnte, ob nun das Weibchen oder das Männchen schwanger war. In der Ecke entdeckte ich einen in die Jahre gekommenen DJ, der gediegene Lounge-Musik auflegte. Das musste DJ Jondal von Klassik Radio sein.

      »Meine Liebe! Kannst du die Schuhe bitte ausziehen?«, rief Mona panisch und kam auf mich zu gerannt.

      »Hi erst mal, und herzlichen Glückwunsch zur neuen Wohnung und zum Nachwuchs und so«, begrüßte ich meine Freundin und umarmte sie fest.

      Nun gesellte sich auch Manuel zu uns. In der Hand hielt er ein Rotweinglas. »Heeeyyyy! Schön, dass du da bist. Sag mal, könntest du bitte deine Schuhe ausziehen?«

      Widerstand war zwecklos. Ich schlüpfte aus meinen Turnschuhen und drückte den beiden strahlend mein Geschenk in die Hand.

      Mona schaute irritiert: »Meine Liebe, du weißt schon, dass ich schwanger bin, oder?«

      »Klar, aber Manuel doch nicht! Außerdem: Was Mutti und Vati jahrelang gutgetan hat, kann den Babys doch nicht schaden.«

      Beide schwiegen. Verdammt. Ich hatte mal wieder vergessen, dass es nichts Humorloseres gibt als werdende feat. frisch gebackene Eltern. Zu meinem persönlichen Ärger wurde der Guacamole meiner Hausflurbekanntschaft viel mehr Aufmerksamkeit zuteil.

      »Ach, ihr Lieben! Wie lecker! Ich pack die gleich mal zu den anderen Naschereien«, schwärmte Mona und watschelte samt Schüssel in Richtung offene Küche.

      Auch diese machte einen ganz und gar unbewohnten Eindruck. Das sorgfältig angerichtete Fingerfood wirkte künstlich, und ich hatte große Angst, mich daran zu bedienen, da ich auf keinen Fall kleckern und das blitzsaubere Setting zerstören wollte.

      »Bereit für eine Führung, meine Lieben?« Mona schnappte das Avocado-Pärchen und mich und geleitete uns durch die neue Behausung. Jeder weitere Raum sorgte für noch mehr Verwirrung. Im Schlafzimmer befand sich rein gar nichts außer einem cremefarbenen Boxspringbett und einem weißen Einbauschrank. Weit und breit kein Krimskrams, nicht mal ein herumliegender Schlüppi.

      »Tadaaa!« Mona öffnete die Schranktür. »Manu und ich haben das perfekte Ordnungssystem ausgetüftelt. Wir kriegen hier so viel unter, meine Lieben, das glaubt ihr nicht!«

      Im Inneren des Wandschranks waren Kleidungsstücke nach Farbe, Form und Größe sortiert. Es glich dem Inhalt der Pax-Musterversion aus dem Ikea-Katalog.

      »Wow!« Die Avocados waren aus dem Häuschen. Sie wollten wissen, ob Mona die Kleidungsstücke auch nach der Konmari-Methode gefaltet habe. Ich verstand nur Bahnhof. Dann ging es weiter ins Bad. Regendusche, Natursteinboden – auch hier wirkte alles recht ansprechend, aber leer. Außer zwei Bambuszahnbürsten, einer Seife und einer kleinen Kommode konnte ich nichts entdecken.

      »Wo sind denn eure ganzen Sachen? Duschgel und Shampoo und so«, hakte ich nach.

      »Meine Liebe, wir haben alles, was wir brauchen«, betonte Mona und hielt mir das einzige Seifenstück des Hauses unter die Nase. »Riech mal! Ist selbst gemacht. Die kann man zum Körpereinseifen, zum Händewaschen und sogar als Shampoo benutzen. Manu und ich nehmen die beide.«

      »Wow!«, schleimten die Avocados schon wieder, machten bedeutungsvolle Geräusche mit ihren Riechorganen und erzählten, dass auch sie seit einer Weile stolze Besitzer eines gemeinsamen Allround-Produktes sind.

      »Und was ist mit Conditioner?«, blieb ich skeptisch.

      Mona setzte zu einer Belehrung an:

      »Conditioner braucht man überhaupt nicht, meine Liebe. Große Kosmetikkonzerne reden uns das seit Jahren


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