Sophienlust Staffel 14 – Familienroman. Elisabeth Swoboda
Irene war zu keiner Antwort fähig. Sie nickte nur.
Otmar schloss sie in seine Arme. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich die letzten Wochen für mich waren«, sagte er dabei.
»Doch, ich kann es mir vorstellen«, erwiderte Irene leise. »Sie waren auch für mich nicht angenehm.«
»Du hast mich also doch noch ein bisschen lieb?«
»Ja, ein bisschen.«
»Wein’ doch nicht. Jetzt wird alles wieder gut. Wir wollen ganz neu anfangen. In Zukunft steht nichts mehr zwischen uns.«
Irene hatte die Tränen nicht länger zurückhalten können. Die Anspannung war einfach zu groß für sie geworden.
Otmar streichelte und tröstete sie. »Komm, wir wollen Anselm suchen. Hoffentlich freut er sich, wenn er erfährt, dass er mit uns kommen soll.«
»Leicht wird ihm der Abschied von Sophienlust und den Kindern nicht fallen«, meinte Irene.
»Ja, doch jetzt hat er Eltern, die ihn gern haben und für ihn sorgen. Meinst du nicht, dass er sich daran gewöhnen wird?«, fragte Otmar ein wenig besorgt.«
»O ja«, beruhigte Irene ihn.
»Und wo ist Billie? Er darf nicht fehlen. Ich hoffe, er nimmt sich an seinem Frauchen ein Beispiel und verzeiht mir ebenfalls.
»Wir werden Billie gleich holen. Es ist nicht weit.«
Gemeinsam mit Anselm machten sie sich auf den Weg nach Bachenau. Anselm war gar nicht so sehr überrascht, als er erfuhr, dass sein Vati und Tante Irene ihn zu sich nehmen wollten. Es war doch sein Wunsch gewesen, dass Vati und Tante Irene heiraten sollten, und auf geheimnisvolle Weise schien dieser Wunsch in Erfüllung gegangen zu sein.
Während sie durch den Wald gingen, erzählte Anselm von seinen Spielen und Abenteuern in Sophienlust. Sowohl er als auch Irene sprachen dabei über Frau von Schoenecker mit einer geradezu schwärmerischen Verehrung, sodass sich Otmar bewogen fühlte, Einspruch zu erheben: »Mir gegenüber war sie nicht sehr freundlich.«
»Ach!« Mehr sagte Irene nicht. Sie beschloss aber bei sich, Otmar im Wald warten zu lassen, während sie Billie abholte. Sie hatte die Absicht, ihm eine Begegnung mit Andrea von Lehn zu ersparen, denn sie fürchtete, dass diese noch weit unfreundlicher zu Otmar sein würde als Frau von Schoenecker. Sie würde ihm rückhaltslos ihre Meinung kundtun, falls man ihr Gelegenheit dazu bieten würde.
Wie recht sie mit diesen Befürchtungen hatte, erfuhr Irene nicht. Als Denise am nächsten Tag Andrea erzählte, dass sich Irene und Otmar versöhnt hatten, kritisierte Andrea: »Ihr habt ihn viel zu leicht davonkommen lassen. Ich hätte es ihm schwerer gemacht und ihn noch eine Weile zappeln lassen. Überhaupt – schade, dass ich ihn nicht kennengelernt habe. Von mir hätte er einiges zu hören bekommen.«
Denise lächelte und meinte: »Das kann ich mir vorstellen. Aber ich denke, dass Herr Wieninger all das, was du ihm gern gesagt hättest, ohnedies weiß.«
Die junge Frau wirkte nervös. Immer wieder zog sie den kleinen Jungen auf ihrem Schoß zärtlich an sich. Immer wieder strich sie ihm mit der Hand über die dunkelblonden Locken.
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Frau von Schoenecker, wenn Sie Uwe für einige Zeit behalten könnten. Selbstverständlich kommen wir für die Unkosten auf.« Die schönen dunklen Augen der jungen Mutter flehten.
Denise von Schoenecker, die das Kinderheim Sophienlust für ihren Sohn Nick verwaltete, nickte. »Gern. Uwe wird sich bestimmt wohlfühlen. Die Kleinen sind alle gern hier. Manchen von ihnen ist Sophienlust zur Heimat geworden.« Denise sah lächelnd auf den hübschen kleinen Kerl, der keine Ahnung davon zu haben schien, dass hier über ihn verhandelt wurde. Er lehnte das Köpfchen an den Oberkörper seiner Mama und strahlte sie aus dunklen Augen glücklich an.
»Man hört viel Gutes von Ihrem Heim. Deshalb hatte ich auch den Mut, hierherzukommen«, meinte Inge Hellbach leise. »Uwe soll nur vorübergehend bei Ihnen bleiben. Vielleicht für vier oder sechs Wochen. Genau weiß ich es noch nicht. Mein Mann ist Dirigent und tritt mit seinem Orchester eine Auslandstournee an. Er besteht darauf, dass ich ihn begleite. Und da er, wie vielleicht alle Künstler, sehr sensibel ist, möchte ich ihm diesen Wunsch nicht abschlagen. Uwe aber ist für derartige Strapazen noch zu klein. Er hätte auf dieser Reise keine Ruhe. Jeden Tag in einer anderen Stadt, jeden Abend in einem anderen Bettchen, das möchten wir ihm nicht zumuten.«
»Das verstehe ich sehr gut. Ich erinnere mich, kürzlich über Ihren Mann in der Zeitung gelesen zu haben. Norbert Hellbach, nicht wahr? Er soll sehr begabt sein. Man sagt ihm eine großartige Zukunft voraus.« Wieder fiel Denise auf, dass die Besucherin sehr unruhig war. Angst spiegelte sich in ihren schönen dunklen Augen. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich das lange blonde Haar aus der Stirn.
Inge Hellbach war hübsch. Aber ihr gekünsteltes Lächeln konnte Denise von Schoenecker nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie traurig und bedrückt war. Es musste etwas geben, das sie quälte. »Es muss schön für Sie sein, mit einem so berühmten Mann verheiratet zu sein«, meinte Denise vorsichtig.
Inge Hellbach wich Denises Blick aus. Sie fühlte genau, dass sie Vertrauen zu dieser Frau haben konnte. Doch auch sie konnte ihr nicht helfen. Niemand konnte es.
»Ich habe meinen Mann sehr lieb. Doch es ist oft nicht leicht mit ihm. Die vielen Konzerte fordern seine ganze Kraft. Da bleibt wenig Zeit für ein Privatleben.« Flüchtig streifte Inge mit der Wange das seidenweiche Haar ihres Kindes. Am liebsten hätte sie den kleinen Uwe stürmisch in die Arme gerissen, ihn krampfhaft festgehalten. »Deshalb …, deshalb fällt mir auch die Trennung von meinem Kind so schwer.« Tränen glänzten in ihren Augen.
»Das verstehe ich sehr gut. Jeder Mutter erginge es so. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Uwe Sie kaum vermissen wird. In diesem Alter gewöhnen sich Kinder sehr rasch an die neue Umgebung. Unsere fröhlichen Kleinen werden Uwe ablenken.«
Inge Hellbach nickte voll Dankbarkeit. »Ich bin sehr froh, dass Uwe bei Ihnen Aufnahme findet. Sophienlust ist wunderschön. Man sieht sofort, dass man die Kinder hier wirklich gernhat.«
»Wie alt ist Uwe?« Der kleine Kerl mit seinen dicken Bäckchen und dem drolligen Stupsnäschen hatte Denises Herz längst gewonnen, obwohl er nur Augen für seine Mama hatte.
»Zweieinhalb.«
»Das habe ich geschätzt. Damit ist er vorläufig unser jüngstes Kind. Ich fürchte fast, die Großen werden ihn sehr verwöhnen.«
»Sie haben auch große Kinder?«
»O ja! Da ist zum Beispiel Irmela. Sie ist schon fast erwachsen, besucht das Gymnasium und möchte später einmal Medizin studieren. Sie verlor sehr früh den Vater. Ihre Mutter hat wieder geheiratet und lebt in Mumbai. Irmela will hier das Abitur machen und studieren. Auch Angelina, die von allen nur Pünktchen gerufen wird, ist schon ein großes Mädchen. Sie hat ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren und lebt seitdem hier.«
»Sie haben eine wundervolle Aufgabe, Frau von Schoenecker«, meinte Inge Hellbach begeistert. »Was sagt denn Ihr Mann dazu?«
»Er kümmert sich natürlich in erster Linie um Gut Schoeneich. Aber er nimmt auch regen Anteil an allem, was Sophienlust betrifft. Er hat die Kinder gern, und sie verehren ihn stürmisch. Wir haben eine große Stütze an ihm.« Flüchtig dachte Denise an jene Zeit, da sie mit ihrem Söhnchen Nick das Gut Sophienlust als Erbe von Nicks Urgroßmutter übernommen hatte. Sie war damals so vielen Anfeindungen ausgesetzt gewesen, dass sie fast aufgegeben hätte. Doch dann hatte sich Alexander von Schoenecker an ihre Seite gestellt, und alles war leichter geworden. Aus Freundschaft hatte sich Liebe entwickelt, man hatte geheiratet. Es war eine überaus glückliche Ehe geworden.
»Auch Nick, mein Sohn aus erster Ehe, kümmert sich eifrig um alles, was Sophienlust betrifft.