Drachengabe - Diesig. Torsten W. Burisch
was sie tun sollten. Akinnas Entschlossenheit, jede noch so kleine Chance, von hier wegzukommen, zu ergreifen, ließ sie beide das Angebot der Magierhexe annehmen. Denn ein erneuter Fluchtversuch war kein erfolgversprechender Plan, um dieses Ziel zu erreichen. Vielleicht hatte Mortuus ja wirklich etwas von ihnen gehört, das sie dazu bewegen konnte, sie aus ihrem Reich herauszulassen.
Von dem Feuer ging eine wohltuende Wärme aus. Diese beschränkte sich nicht nur auf das Äußere, sondern oder vor allem auf die inneren Empfindungen. Das Gefühl, alles Gute in einem würde sich zum Schlechten wandeln, glückliche Erinnerungen würden verblassen und damit die schlechten hervorheben, schien zu verschwinden. Es war genau jenes Gefühl, das Dantra gespürt hatte, als E’Cellbra ihn damals aus dem schwarzen Baumwald herausgeholt hatte, er auf dem warmen Waldboden seine Besinnung wiedergefunden und die Sonne ihn in beiden Augen geblendet hatte. Beide Augen?
„Wie ist das möglich?“ Dantra fasste sich an die eben noch durch Narben verunstaltete Stelle in seinem Gesicht. Die Haut war nun wieder glatt, das Auge unversehrt. Auch die Leiden in seinem Bein schienen wie alle anderen zuvor noch schmerzenden Stellen seines Körpers wie durch ein Wunder geheilt zu sein. Seinem fragenden Blick begegnete Akinna mit einer ebenso verwunderten, aber gleichzeitig erleichterten Miene. Er sah wieder aus, wie er es immer außerhalb dieses dunklen Ortes tat.
„Ich dachte mir, es würde dir gefallen, wenn ich dir die Verletzungen nehme“, sagte Mortuus in einem schon fast mütterlichen Ton.
„Ja, natürlich“, antwortete Dantra verblüfft. „Aber wie hast du das gemacht? Das ist ja schon fast keine Magie mehr. Das grenzt schon an“, Dantra suchte mit einem umherschweifenden Blick das richtige Wort, „ein Wunder“, sagte er schließlich und starrte Mortuus an, als wäre sie das Gegenteil von dem, was sie wirklich war ‒ eine Heilige.
Die Anerkennung, die Mortuus sichtlich gefiel, ließ diese noch etwas auf sich wirken, bevor sie schließlich mit ihrer Erklärung begann. „Was in diesem Wald, in meinem Reich geschieht, erfolgt nicht nur auf mein Geheiß. Es ist eher wie mein verlängerter Arm, die umgehende Umsetzung meines Willens. Kurz, egal, was geschieht oder wo es geschieht, es geschieht durch mich.“ Mortuus machte eine kleine Pause, um das Gesagte wirken zu lassen. Als Akinna und Dantra sie erneut fragend ansahen, fuhr sie fort. „Anders als bei euch Menschen, Elben oder überhaupt allen Lebewesen da draußen vor den Toren meines Reiches kann ich hier drin jede von mir gefällte Entscheidung wieder rückgängig machen. Also, wenn ich dir diese Verletzungen zufüge, so kann ich sie dir auch wieder nehmen. Ich könnte dir sogar die Erinnerung an das damals Geschehene nehmen, aber“, ihre Stimme glitt wieder etwas ins Bedrohliche, Mahnende ab, „manche Erfahrungen sind unbezahlbare Bereicherungen.“
Natürlich wussten beide, Akinna und Dantra, sofort, wie sie das meinte. Egal, wie freundlich sie gerade zu ihnen war, ihr Leben, solange sie sich im schwarzen Baumwald aufhielten, lag in den Händen von Mortuus.
„Allerdings möchte ich von meinen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen, wenn es darum geht, das eben Erlebte rückgängig zu machen. Im Gegenteil. Ich möchte, dass ihr euch daran erinnert, um meine Aufrichtigkeit in dieser Sache zu erkennen, indem ich etwas mache, was ich nur vom Hörensagen kenne. Ich möchte mich bei euch für die Unannehmlichkeiten entschuldigen. Es tut mir leid.“
Die von ihr erwarteten erstaunten oder gar begeisterten Blicke der beiden blieben aus. Sie waren doch eher fragend und gefasst auf den nun sicher folgenden großen Paukenschlag, der das wackelige Gerüst, auf das sich ihr Bedauern gründete, zum Einsturz bringen würde.
Mortuus verdrehte genervt die Augen. „Also schön“, sagte sie in dem dazupassenden Ton. „Ich wusste gar nicht, dass eine ehrlich gemeinte Entschuldigung so anstrengend sein kann. Ich hätte die mit eurem Erscheinen veränderte Lage natürlich sofort erkennen müssen. Aber wisst ihr, wie lange schon niemand mehr hier drin war? Mich niemand mehr mit seinem qualvollen Tod unterhalten hat? Jetzt mal von dir abgesehen“, sagte sie mit Blick auf Dantra. „Aber das war was anderes. Ich hatte mir schon gedacht, dass du mit E’Cellbra an den Rand meines Reiches gekommen bist und dass es ihre Idee war, dich hier hereinzuschicken. Es war also eine Frage der Höflichkeit gegenüber dir beziehungsweise E’Cellbra, dich wieder lebend herauszulassen.“
„Das hört sich ja fast an, als würdest du E’Cellbra kennen“, sagte Dantra erstaunt.
„Natürlich“, erwiderte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte Dantra sie gefragt, ob sie schon einmal ein Grillhähnchen gegessen hätte.
„Natürlich?“, meinte Dantra überrascht. „Woher?“
Sie sah ihn an, wie es Schwester Melk immer getan hatte, wenn sie nicht begreifen konnte, dass er sich die gestellte Frage nicht selbst beantwortete. Und genau wie sie es damals immer getan hatte, beantwortete Mortuus die Frage nun nicht selbst, sondern gab sie an einen anderen Schüler weiter. In diesem Fall war das natürlich Akinna. „Hast du bereits begriffen, was ich euch bisher erklärt habe? Und kannst du ihm somit seine Frage beantworten?“
Akinna fiel es schwer, ehrlich zu sein. Eigentlich hätte sie Nein sagen müssen, um Dantra besser dastehen zu lassen und der Magierhexe, die sie gerade noch hatte umbringen wollen, nicht recht in ihrer Annahme zu geben. Aber andererseits wollte sie die Unterrichtsprozedur so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„E’Cellbra war in ihrem Reich“, erklärte sie Dantra. „Und wer oder was auch immer hier hereinkommt, wird entweder getötet oder nach eingehender Befragung über sein bisheriges Leben mit einer kleinen Erinnerungslücke wieder herausgelassen.“
„Sehr schön“, freute sich Mortuus anerkennend, „das hast du wunderbar erklärt.“ Ihr überschwängliches Lob nervte Dantra und er verzog das Gesicht in gleicher Weise, wie er es schon früher in solch einer Situation getan hatte. „Da ich E’Cellbra für eine außergewöhnliche Hexe halte“, ergänzte Mortuus, „und ihre gewonnenen Erkenntnisse über mein Reich als sehr unterhaltsam empfinde, habe ich mich dazu entschlossen, sie nicht zu töten. Auch“, sie hob tadelnd ihren Finger, „wenn ihre Annahme, dass diese Tinktur, die zweifelsohne penetrant nach Flieder riecht, hier drin irgendetwas bewirken könnte, natürlich völliger Blödsinn ist.“
Akinna sah Dantra vorwurfsvoll an, was dieser jedoch nur mit einem seine Unschuld beteuernden Achselzucken beantwortete. Erst der Dolch des Vertrauens, der wie aus dem Nichts erneut in den Händen Mortuus’ lag, lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Geschehen.
„Lasst uns nun zum Tod ...“ Mortuus stockte und ihre Augen, schwarz und funkelnd wie dunkle Perlen, schweiften umher. Dann begann sie den Satz erneut. „Lasst uns nun zu eurer überaus bedeutsamen Berufung kommen. Ihr glaubt, ihr seid zwei der drei Auserwählten, die in der Wegsagung ihre Bestimmung finden.“ Akinnas verärgertes Knurren wegen ihres ungewollten Verrats aller von ihr sorgsam gehüteten Geheimnisse drang bis an Dantras Ohr. „Und für diesen Zweck wollt ihr den Dolch haben?“, fragte Mortuus, wohl wissend um die Antwort.
Akinna nickte stumm, während Dantra ein leises „Richtig“ hinzufügte.
„Nun“, Mortuus beugte sich nach vorn und hielt Akinna den Dolch wie bei einer feierlichen Übergabe auf ihren flach ausgestreckten Handflächen entgegen, „dann sollt ihr ihn haben.“
Akinna zögerte. Sie wartete auf das Aber. Doch erst in dem Moment, als sie tatsächlich zugreifen wollte, kam es.
„Aber nur“, begann Mortuus streng, „wenn ihr mir versprecht, nach der Erfüllung eurer Bestimmung hierher zurückzukommen beziehungsweise dorthin, wo dieses Waldstück dem großen Strom am nächsten ist, um mir Bericht zu erstatten. Und zwar so schnell es euch möglich ist.“
Dantra und Akinna sahen sich an. Wenn dieses Versprechen bedeutete, dass sie hier lebend rauskamen und sogar den Dolch mitnehmen konnten, stellte sich ihnen die Frage nach der Zustimmung gar nicht. Zumal die Magierhexe nach allem, was sie bisher gehört hatten, draußen in der Welt der Lebenden keine Magie anwenden konnte, die ihnen schadete, wenn sie nie wieder zu diesem finsteren Ort zurückkehren würden. Sie sahen also Mortuus an und nickten bereitwillig.
Deren Blick strahlte