Drachengabe - Diesig. Torsten W. Burisch
dass dir das gefällt“, sagte Dantra zu ihr und ließ einen tadelnden Unterton hören.
„Es ist ja nicht so, als wäre mir das Leid, das den Bewohnern einst widerfahren ist, egal. Aber sieh doch nur dieses Beispiel für die unbändige Kraft der Natur! Das ist doch faszinierend oder etwa nicht?“
Einen gewissen Eindruck hatte der Anblick auch bei Dantra hinterlassen. Dennoch ließ er ihre Frage unbeantwortet. Denn die, die gerade in ihm aufkeimte, war wesentlich wichtiger. „Wie sollen wir denn hier das richtige Gebäude finden?“
Sie gingen, balancierten oder kletterten über die Zeugnisse vergangener Zeiten, indem sie nach dem wenigen, was sie wussten, Ausschau hielten. Ein einst großes, massiv gebautes Haus mit einem kleinen Turm an der Lavaseite war ihr einziger Anhaltspunkt. Sie durchstreiften die ehemaligen Gassen des Ortes, wobei sie an einigen Stellen stehen blieben, um sich mit viel Fantasie die vor ihnen liegende Ruine als Ganzes vorzustellen. Doch fündig wurden sie nicht.
Es dauerte nicht lange und sie standen vor dem schwarzen Baumwald, der sich einmal quer durch den ganzen Ort zog. Das groteske Bild, das sich ihnen bot, verdeutlichte den Schrecken, der vom schwarzen Baumwald ausging. Es schien, als hätte er sich einfach, ungeachtet der zerstörten Häuser, den schnellsten Weg von Culter nach Lava gesucht. Einige der zerfallenen Häuser standen zum Teil im Wald und zum Teil davor. Wenn man durch einige der noch stehenden Türrahmen blickte, bekam man den Eindruck, als hätte jemand das Licht in der Mitte des Raumes gelöscht. Wenn der Wald nicht ein sicherer Weg in den Tod wäre, dann wäre dieser Anblick äußerst spektakulär. So jedoch vermittelte er den Eindruck, dass man selbst in seinen eigenen vier Wänden nicht sicher vor dem dunklen Schatten war.
Langsam und in die Finsternis spähend gingen sie am Waldrand entlang.
„Ich weiß ja nicht, was ihr sucht“, merkte Inius nach einigen Schritten an. „Aber wenn es dort drin sein sollte, ist es genauso, als würdet ihr es nicht finden. Niemand geht dort hinein und kommt lebend wieder raus.“
Akinna blieb stehen und funkelte ihn böse an.
„Ja, ja. Ich weiß. Du warst schon einmal dort drin und bist lebend wieder rausgekommen“, sagte er zu Dantra. „’tschuldigung, hatte ich kurz vergessen.“
Nichts, nicht ein Satz, nicht einmal ein Wort seiner Entschuldigung hörte sich aufrichtig und ehrlich an. Dantra wusste, dass Akinna Inius noch so sehr drohen konnte, er würde ihm niemals glauben, was er seinerzeit bei E’Cellbra dort drin erlebt hatte. Und ihm war auch klar, dass Akinnas Haltung Inius gegenüber nichts damit zu tun hatte, dass sie ihm bedingungslos glaubte. Sie wollte dem Zerrock nur nicht erlauben, ein schlechtes Wort über ihn zu sagen. Selbst wenn er behauptete, schon einmal auf einem Drachen geritten zu sein, würde Akinna darauf bestehen, dass Inius seinen Worten Glauben schenkte. Es war Zeit, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Sie beide.
„Ich bin damals nur knapp dem Tod entkommen.“ Seine Stimme klang ungewohnt ernst und entschlossen. „Die Verletzungen, die ich mir zugezogen habe, sind noch immer gegenwärtig. Allerdings nur da drin.“ Er deutete auf den Schatten. „Ich habe mir bei meiner Flucht zwei Finger abgerissen.“ Er hielt die linke Hand hoch und sah seine beiden Begleiter mahnend an. Dann tauchte er seinen Arm ins Dunkel des Schattens.
Akinna ließ einen erschrockenen Ton hören und Inius sprang einen Schritt zurück. „Was ist das für eine Hexerei?“, brüllte er los.
„Das ist die Wahrheit, die du nicht glauben willst“, erklärte Dantra gelassen. Mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht schaute er auf die beiden Stumpen, die gerade eben noch seine Finger gewesen waren.
„Du freust dich über diesen grausamen Anblick?“, fragte Akinna ihn irritiert.
„Also, wenn du diesen Anblick schon grausam findest, solltest du lieber nicht in mein Gesicht schauen, wenn es dort drin ist“, erklärte Dantra ihr. „Ich freue mich lediglich über die Feststellung, dass die Verletzungen, die ich mir dort zugezogen habe, anscheinend hier draußen wieder verheilen.“
„Was meinst du?“
„Sieh doch.“ Er deutete mit der anderen Hand auf die Stelle, wo einst die Finger angewachsen waren. „Es ist keine blutende Wunde mehr. Es ist sogar schon ein bisschen Haut darübergewachsen.“ Die Begeisterung der anderen beiden blieb allerdings aus und so zog Dantra seine Hand wieder zurück ins Sonnenlicht. „Ach, und übrigens“, sagte er an Inius gewandt, „Hexen können nicht zaubern. Sie brauen dir zwar eine Brühe, dass du denkst, dir fallen die Finger ab. Aber zu so was“, er fuchtelte mit seiner nun wieder fünffingrigen Hand vor der Nase des Mannes herum, „ist eine Hexe nicht fähig.“
Inius wich angeekelt vor Dantras Hand zurück. „Solche Experimente mit dem schwarzen Baumwald zu machen, ist nicht gut“, sprach er mahnend.
„Gar nicht gut“, pflichtete Akinna ihm bei.
„Überhaupt nicht gut“, stimmte auch Dantra ein, allerdings meinte er etwas anderes. Akinna und Inius folgten seinem Blick, der einige Schritte weiter an einem kleinen, halb zerfallenen Turm inmitten des Schattens hängen geblieben war. „Das ist es.“
Sie standen nun direkt vor dem zweiflügeligen Eingangstor, von dem nur noch die Eisenbeschläge verrostet und krumm in den Angeln hingen. Im Vergleich zu den meisten anderen Häusern jedoch sah dieses relativ gut erhalten aus. Zwar hatte auch hier die Kraft der Natur ganze Arbeit geleistet, aber das Mauerwerk war noch weitestgehend erhalten.
„Das ist es“, wiederholte Dantra. „Das ist das Haus des Hofbaumeisters.“
Auch Akinna war überzeugt, dass ihre Suche beendet war. „Ich denke, da hast du recht“, stimmte sie ihm zu.
Sie gingen in die ehemalige Eingangshalle, von deren einstiger Pracht nun nicht mehr viel übrig war. Sie maß knapp drei Pferdelängen in der Breite wie auch in der Tiefe. Als sie sie durchquert hatten, passierten sie einen wuchtigen Rundbogen. Das Licht in dem sich vor ihnen öffnenden Raum endete bereits zwei Schritte weiter. Ab da begann die ewige Dunkelheit. Das machte es unmöglich, den Rest des Raumes bis zu seiner Rückwand einzusehen. Aber genau an dieser vermutete Akinna die Feuerstelle, in deren Mauerwerk nun schon seit fast 200 Jahren der Dolch des Vertrauens versteckt lag.
„Es können nur ein paar Schritte sein“, schlussfolgerte die Halbelbin optimistisch. „Ich werde es versuchen. Ich muss es versuchen.“
„Du willst da wirklich reingehen?“, fragte Inius ungläubig.
„Nun, im Gegensatz zu dir habe ich keine Wahl. Ich muss dort rein.“
„Ich weiß ja nicht, was du zu finden gedenkst, aber etwas anderes als der Tod wird es nicht sein. Auch wenn Dantra schon einmal dort drin war, bin ich überzeugt, dass er das Glück hatte, welches Tausenden vor ihm fehlte. Die Wahrscheinlichkeit ist daher äußerst gering, dass nun auch dir dieses Glück hold ist und dich der Dämonenschatten allen Widrigkeiten zum Trotz wieder freigibt. Überleg es dir lieber noch einmal.“ Es schien tatsächlich ehrliche Sorge in seiner Ermahnung zu liegen. Dennoch tat Akinna sie mit einer abwertenden Handbewegung ab.
„Er hat recht“, bekräftigte Dantra. „Ich werde reingehen. Du bist zu wichtig, denn du bist auf jeden Fall einer der drei. Bei mir gibt es noch immer Restzweifel. Also bin ich eher entbehrlich.“
Akinna sah ihn erst bewundernd an, was Dantra seinem Mut zuschrieb, bevor ihre Gesichtszüge wieder die gewohnte Skepsis zur Schau trugen. „Netter Versuch“, sagte sie schließlich, „aber der einzige Entbehrliche hier ist der Feigling neben uns.“
Inius begriff natürlich sofort, dass er gemeint war. Aber anstatt sich entsprechend zu rechtfertigen, erklärte er nur: „Ja, hier und jetzt bin ich ein Feigling. Wenn mir hundert brüllende Feinde bis an die Zähne bewaffnet entgegenstürmen, ziehe ich mein Schwert und kämpfe bis zum Tod. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Das hat was mit dunkler Magie zu tun. Mit Übermenschlichem. Und es ist sicher mit unvorstellbaren Qualen verbunden. Seht ihr da vorn die Eiche?“ Er deutete auf einen unterarmdicken Baum vor dem Haus. „Dort werde ich warten. Macht also, was ihr wollt.