Drachengabe - Diesig. Torsten W. Burisch
und setzte sich erst einmal in Ruhe bequemer hin, bevor er fortfuhr. „Von jedem Zerrock existiert eine Blutprobe in Form eines kleinen, blutgetränkten Stück Stoffes, welches in Steppenstockbaumblätter eingeschlagen im ewigen Eis aufbewahrt wird. Vor jedem ...“
„Was meinst du mit dem ewigen Eis? Wo werden diese Blutproben genau aufbewahrt?“, unterbrach ihn Akinna.
„Über solche geheimen Informationen verfügt ein normalsterblicher Zerrock nicht“, erwiderte er und sah Akinna mit entschuldigender Miene an.
„Nun“, entgegnete sie ihm und ihre Augen verengten sich dabei drohend, was nicht weniger einschüchternd wirkte als das Zähnefletschen eines Kampfhundes, „aber wir beide wissen doch wohl, dass du kein normalsterblicher Zerrock bist, oder?“
„Warst“, warf Dantra ein.
„Was?“ Akinna sah ihn leicht genervt an.
„Du meinst, dass er kein normalsterblicher Zerrock war. Er ist nun keiner mehr.“
Mit einem Knurren wandte sie sich wieder von ihm ab und schaute Inius fordernd an. Als dieser merkte, dass Akinna ihm auch dieses Mal nicht den Gefallen tat, auf Dantras Einwand hin ein Wortgefecht entstehen zu lassen, welches von ihm und seinem Verhör abgelenkt hätte, nahm er resigniert den Faden wieder auf.
„Es ist eine in den Berg geschlagene Kammer. Sie hat ungefähr die Tiefe von drei aneinandergereihten Flussfrachtschiffen und liegt oberhalb der Schneegrenze des Parvusgebirges.“
„Nur ein Berg ist hoch genug, dass er im Calorviertel Schnee trägt. Es ist der Gipfel, der im äußersten Dron liegt. Der Cortina“, stellte Dantra laut denkend fest. Akinna und Inius sahen ihn verwundert an. „Was?“, schimpfte er los. „Ihr seid nicht die Einzigen, die etwas wissen. Vielleicht habe ich keine Ahnung von Elben und so. Oder von dem Leben als Zerrock, aber ich habe eine Schule von innen gesehen. Und auch wenn sie uns dort einiges nicht gelehrt haben, aus dem ich heute viel Nutzen ziehen könnte, so war dennoch das eine oder andere Brauchbare dabei.“
Ein zustimmendes Kopfnicken von Inius und ein überrascht klingendes „Sieh an!“ von Akinna ließen Dantras Empörung weitersteigen. Dennoch beließ er es bei einigen leisen, vor sich hin gemurmelten Flüchen, was Akinna dankbar annahm, da sie so wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf Inius’ weitere Erklärungen richten konnte.
„Wo war ich?“, sagte dieser und runzelte die Stirn. „Ach ja. Bevor also eine Suche beginnt, von der man befürchten muss, sie könnte gefährlich werden, nimmt Sagium den Geruch der Blutproben aller an der Suche beteiligten Männer auf, um über sie zu wachen. Er kann dieses natürlich auch im Nachhinein tun. Sollte also ein Zerrock überraschend verschwinden, ist das Verfahren dasselbe. Er nimmt die Witterung auf und sucht die Umgebung des vermeintlichen Tatorts ab.“
„Damit kann er doch nicht viel mehr als ein Spürhund“, bemerkte Dantra.
„Wenn die falschen Ohren diesen Vergleich hören, könnte das deinen Tod bedeuten. Dessen bist du dir doch wohl bewusst, oder?“ Inius sah den Jungen skeptisch an, wobei sein belehrender Ton für Dantras Empfinden mehr als nur ein einfaches „Ja“ verdiente.
„Ich bin mir nicht nur dessen bewusst, ich bin auch davon überzeugt, dass es hier keine falschen Ohren gibt, die das hören könnten. Oder irre ich mich etwa damit?“
Wieder war es Inius’ Gesichtsausdruck, der die ehrlichste Antwort gab: „Selbst wenn ich kein Zerrock mehr bin und somit keinen Dienstgrad mehr habe, dem man den gebührenden Respekt entgegenzubringen hat, möchte ich mir dennoch nicht von einem Jungen, der nicht einmal halb so alt ist wie ich, dumme Gegenfragen anhören müssen.“ Sein Mund aber hielt sich zurück und äußerte stattdessen nur beschwichtigend: „Du hast natürlich recht. Hier gibt es nur Ohren von Gleichgesinnten.“
Nach einer kurzen Frustpause fing er sich wieder. Mit seinem in sich gekehrten, leicht überheblichen Blick beantwortete er Dantras eigentliche Frage. „Er kann sehr viel mehr als ein Spürhund. Er kann Hunderten von Blutspuren auf einmal folgen, und das aus einer Höhe, in der er von unten kaum zu erkennen ist.“
„Also, sehe ich das richtig? Wenn du blutest, wird er dich in kürzester Zeit finden?“, fragte Akinna.
„Das ist korrekt“, bestätigte er ihr. „Aber ich müsste schon ziemlich stark bluten. So stark, dass ich die Blutung nicht stoppen kann, um die Wunde schnellstmöglich fest zu verbinden.“
„Aber wenn er zufällig in der Nähe wäre, würde dir nicht einmal die Zeit zum Verbinden bleiben? Er würde dich sofort aufspüren?“, hakte Akinna nach.
„Das ist ebenfalls richtig.“ Die von Akinna aufgeführte Tatsache, wie schnell seine Flucht beendet sein konnte, ließ ihn nachdenklich werden.
„Genug geredet“, durchbrach Akinna plötzlich die aufgekommene Ruhe wie ein Blitz die Dunkelheit. „Es ist Zeit zum Schlafen.“ Anstatt sich jedoch unter ihren Umhang zurückzuziehen, begab sie sich in die gleiche Sitzhaltung wie schon in der Nacht zuvor.
„Willst du wieder wach bleiben?“, fragte Dantra sie.
Sie antwortete ihm mit einem misstrauischen Blick zu Inius und einem kurz angebundenen „Ja“.
Die Morgendämmerung hatte die Nacht noch nicht ganz verdrängt, als Akinna Dantra und Inius weckte. „Macht euch abmarschbereit, wir haben einen langen Weg vor uns“, befahl sie barsch.
„Bei dir hört sich das so an, als wäre es etwas Besonderes. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir haben jeden verdammten Morgen einen langen Weg vor uns“, brummelte Dantra unter seiner Decke hervor.
Als er kurz darauf aus dem Baum kroch, hatte er das Gefühl zu baden, ohne im Wasser zu sein. Die Welt um ihn herum schien sich hinter einer dicken, nassen Wand verstecken zu wollen. Der Nebel war so dicht, dass er kaum zwei Schritte weit sehen konnte. „Wenn wir jetzt losgehen, werden wir uns verlaufen“, stellte er fest.
Inius stimmte ihm mit einem Kopfnicken und einem „Da hast du recht“ zu.
„Wenn wir jetzt losgehen“, widersprach ihnen Akinna, „haben wir gute Chancen, nicht von deinen Freunden“, sie sah Inius verächtlich an, „erwischt zu werden. Und wenn ihr bei mir bleibt, werdet ihr euch auch nicht verlaufen. Noch Fragen?“
„Ja, wohin gehen wir?“, wollte Inius wissen.
„Wir beide“, sie zeigte erst auf Dantra und dann auf sich selbst, „suchen etwas, von dem wir zu wissen glauben, wo es zu finden ist. Und da gehen wir jetzt hin.“
„Das hat meine Frage zwar nicht beantwortet, aber ich liege wohl mit der Vermutung richtig, dass das alles ist, was ich als Antwort von euch zu erwarten habe, oder?“ Er sah die beiden an und kommentierte ihr Schweigen mit einem „Das habe ich mir gedacht“.
Sie marschierten hintereinander her, wobei Akinna ihren kleinen Trupp anführte. In die Mitte hatte sie Inius zitiert und den Schluss bildete Dantra, dessen Gedanken sich nach Akinnas Erklärung mit ihrem heutigen Vorhaben, den schwarzen Baumwald zu überwinden, beschäftigten. Er war natürlich nicht gewillt, noch einmal dort hineinzugehen. Aber was, wenn das Versteck hinter der Schattengrenze lag? Sie mussten den Dolch finden, koste es, was es wolle. Dies war unabdingbar für die Erfüllung ihrer Mission. Ein unangenehmes Gefühl gesellte sich zu seinem Hunger und schaffte es sogar, diesen vollständig zu verdrängen. Er hatte eine Art Vorahnung, dass dieser Tag alles verändern würde, dass etwas Furchtbares passieren würde und dann nichts mehr so wäre wie vorher. Seine eigenen Gedanken machten ihm Angst. Und so versuchte er, diese unheilvollen Eingebungen beiseitezuschieben, was ihm jedoch nur spärlich gelang.
Sie waren schon einige Zeit unterwegs, als der Nebel anfing sich aufzulösen. Erst jetzt bemerkte Dantra, dass sie sich entlang der schwarzen Baumwaldgrenze bewegten, die im Culter entlanglief. Kurz darauf erreichten sie die Ruinenstadt Astivo. Die meisten der Gebäudereste waren von Moos und Gräsern überwuchert. Teilweise wuchsen ganze Bäume aus den fehlenden Dächern heraus. Da es hier seit vielen Jahren keine Menschen mehr gab,