Drachengabe - Diesig. Torsten W. Burisch
den ihm am nächsten liegenden toten Zerrock bei den Armen, während sich Dantra die Beine griff. Sie schleppten den schweren, leblosen Körper zum schwarzen Baumwald und warfen ihn hinein, wobei sie sehr darauf bedacht waren, nicht selbst in den dunklen Schatten zu geraten. Sie spähten ins Trübe, wo sie allerdings nur noch schemenhaft die Leiche des Zerrocks erkennen konnten.
Doch das erhoffte Resultat blieb aus. Nichts tat sich. Nicht einen kleinen schwarzen Vogel schien es zu kümmern, dass sie den Mann dort hineingeworfen hatten. Nichts passierte, was darauf hindeutete, dass der Leichnam in Kürze verschwinden würde.
„Ich befürchte, sie fressen nur lebende Menschen“, sagte Dantra enttäuscht zu Akinna, als sie zurückkamen.
„Aber vielleicht haben wir Glück und der Drache kann sie trotzdem nicht finden, wenn sie dort drin liegen“, überlegte Akinna laut.
„Mag sein“, pflichtete Inius ihr bei. „Aber er wittert in jedem Fall das Blut hier.“ Er deutete auf die rot getränkte Erde, auf der der Anführer des Suchtrupps mit seinem Gesicht lag, aus dessen durchschnittener Kehle immer noch Blut quoll.
„Ich kümmere mich darum“, sagte Akinna, „nehmt erst die anderen. Sie haben aus ihren Pfeilwunden fast kein Blut verloren. Und das bisschen, was herauskam, hat genau wie bei dem, den ihr gerade weggebracht habt, die Kleidung aufgesaugt.“
Dantra und Inius hievten den nächsten Mann hoch und trugen auch ihn zum schwarzen Baumwald hinüber. Bevor sie ihn hineinwarfen, legten sie ihn, um Kräfte zu sammeln, erst noch einmal ab. Während Inius unter leisem Stöhnen seinen Rücken durchdrückte, versuchte Dantra, im Schatten etwas zu erkennen.
„Sind wir nicht an derselben Stelle, an der wir gerade den anderen entsorgt haben?“
„Exakt an derselben Stelle“, bestätigte ihm Inius.
„Nun, dann hat es wohl doch funktioniert.“ Dantras Erleichterung war nicht zu überhören.
„Stimmt“, pflichtete ihm Inius bei, nachdem auch er angestrengt das Dunkel mit seinen Augen abgesucht hatte und nichts mehr von der Leiche zu sehen war.
Sie warfen den zweiten Mann hinein und warteten erneut ab. Aber wieder passierte nichts.
„Ziemlich scheu, die Viecher, was?“, stellte Inius fest.
„Nun, den Eindruck hätte ich auch gerne gehabt, als ich seinerzeit dort drin war. Aber bei mir hatten sie nicht so viele Hemmungen, sich zu zeigen. Ganz im Gegenteil.“
„Es klappt doch“, verkündete Dantra Akinna stolz. „Die erste Leiche ist bereits verschwunden.“
„Das macht deine gute Idee zu einer sehr guten Idee“, lobte sie ihn. Sie tat das zwar nur beiläufig, da sie mit dem Verbinden der tödlichen Verletzung des Zerrocks beschäftigt war, aber dennoch freute es Dantra außerordentlich und machte ihn stolz. Sein daraus resultierendes breites Grinsen in Richtung Inius, der diesem mit einem spöttischen „Na, hast du von Mutti ein Lob bekommen?“-Blick begegnete, war ihm genauso außerordentlich peinlich. Und das verhasste Gefühl der aufsteigenden Schamesröte ließ den gerade erlebten Triumph zusammenschrumpfen.
Mit gesenktem Kopf schlurfte er Inius hinterher bis zu der Stelle, wo Akinnas Pfeil dem Beobachter den Tod gebracht hatte. Von hier aus bis zum schwarzen Baumwald war es zwar auch nicht viel weiter zu laufen, jedoch wurde sich Dantra seiner schwindenden Kräfte mit jedem Schritt, den er die Last bewegen musste, mehr gewahr. Am Ziel legten sie den Zerrock wieder zuerst ab und dieses Mal musste auch Dantra seinen schmerzenden Rücken durchdrücken und seinen Lungenrufen nach mehr Luft nachkommen.
Ein leises Knacken lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu dem Leichnam. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern hatte Akinna aus diesem hier den Pfeil noch nicht herausgezogen. Inius hielt diesen nun knapp unterhalb der Spitze in der Hand. Er sah sich die in seinen Händen liegende, verrostet aussehende und mit Blut überzogene Metallspitze genauer an.
„Ich denke, den nehme ich mal lieber“, sagte Dantra leise, aber sehr bestimmt.
Inius sah ihn zögernd an. Es schien ihm nicht zu behagen, dass ihm ein gerade mal heranwachsender Mann, der ihm zudem seiner Ansicht nach in allem unterlegen war, einen Befehl erteilte, so freundlich dieser auch formuliert war. „Ich kann ihr den Pfeil doch selbst zurückgeben“, sagte er seinerseits freundlich. Wobei seine Augen Dantra allerdings schon fast anschrien: „Wag es nicht, mir zu widersprechen!“
Es breitete sich eine kurze Stille zwischen ihnen aus, in der beide den nächsten, richtigen Schritt bedachten.
Dann sagte Dantra, und man hörte in seiner Stimme, dass er das Wissen in sich trug, dem Zerrock zwar so ziemlich in allem unterlegen zu sein, ihn aber dennoch jederzeit besiegen zu können: „Jetzt sofort!“ Dabei hielt er ihm die ausgestreckte Hand entgegen.
Inius’ Gesicht sprach Bände. Er würde noch lange brauchen, um ohne unterdrückten Zorn dem Wort eines anderen Folge leisten zu können, der keine Zerrockuniform mit einem höheren Rangabzeichen als seinem eigenen trug. So legte er widerwillig den Pfeil in Dantras Hand, der diese Handlung nur mit einem „Gute Entscheidung“ kommentierte und zu Akinna hinübersah.
Sie stand noch immer an der Stelle, an der sich der letzte Tote befand, und wie vermutet hatte sie bereits einen Pfeil aufgelegt und zielte damit auf Inius. „Sie kann das Knacken des Herausziehens über gute drei Elbenlängen hören“, sagte er zu dem erbleichten Mann, der seinerseits ebenfalls zu Akinna hinübersah. „Du weißt doch sicher, was eine Elbenlänge ist, oder?“, setzte Dantra nach, nur um sicherzugehen, dass der ehemals ranghohe Zerrock, der ihm gegenüberstand, begriff, dass es sehr wohl Dinge gab, über die Dantra besser Bescheid wusste als er.
Und um dem Ganzen noch einen würdigen Abschluss zu verleihen, bemerkte Dantra, nachdem sie die Leiche ihrem Bestimmungsort zugeführt hatten: „Das einzig Gute daran, wenn du dich gerade anders entschieden hättest“, er setzte wieder ein breites Grinsen auf, dieses Mal aus Überlegenheit, „wäre gewesen, dass ich dich nicht so weit hätte schleppen müssen, um deinen toten Körper verschwinden zu lassen.“
Kurz darauf war auch der letzte Tote im schwarzen Baumwald entsorgt. Akinna hatte sämtliches Blut mit Erde abgedeckt und diese festgestampft. Nun saßen die drei, wie schon am Abend vorher, im Inneren des hohlen Baumes um das schwache Licht des Lumenkristalls herum.
„Nun erklär mir das mit dem Drachen und dem Wittern des Blutes noch einmal ganz genau“, forderte Akinna Inius auf.
„Was soll ich da erklären?“, überlegte er laut vor sich hin.
„Na, alles!“ Akinnas Geduld war äußerst knapp bemessen. „Wie heißt der Drache? Ist das seine Gabe? Kann er sonst noch was? Woher weiß er, welches Blut zu wem gehört? Sag einfach alles, was dir dazu einfällt.“
„Nun lass ihn doch wenigstens mal überlegen“, forderte Dantra sie beschwichtigend auf, was Akinna aber nur mit einem Zungenschnalzen abtat.
Inius stockte einen Moment und sah von einem zum anderen, als wartete er darauf, dass sie sich weiterhin stritten. Als dies allerdings ausblieb, begann er mit seiner Erläuterung. „Sein Name ist Sagium. Und ja, es ist seine Gabe.“
Akinna griff in ihren Umhang und holte eine Pergamentrolle heraus, von der Dantra glaubte, auch wenn er sie damals wie heute nur von hinten sah, sie zu kennen. Ein kurzer Blick genügte und Akinnas Gesicht hellte sich auf. Vielleicht wirkte sogar noch etwas glückseliger als vor einigen Tagen, als sie auf die Balaena zwei gegangen waren und sie ihre alten, liebgewonnenen Freunde wiedergetroffen hatte. Hektisch zog sie ein sehr kleines Tintenfass aus einer anderen Falte ihres Umhangs und eine zwischen zwei Baumrinden eingebundene Schreibfeder. Eine Notiz später waren all die Sachen wieder verstaut und sie pustete vorsichtig das frisch Geschriebene trocken.
„Fahr fort“, befahl sie dem Zerrock, ohne ihn dabei anzusehen und auch ohne den kleinsten Rest des zuvor aufgekommenen Frohsinns.
„Soweit ich weiß, ist das alles, was er kann. Also, neben dem, was jeder Drache kann wie fliegen,