Drachengabe - Diesig. Torsten W. Burisch
die er tat, als vielmehr bei den vergangenen zwei Tagen. Doch nachdem Akinna zum wiederholten Male die Richtung abrupt geändert hatte, weckte das seine Aufmerksamkeit. Vor allem weil sie mit jedem Blick auf die nun schon glutrote und zur Hälfte hinter dem Horizont verschwundenen Sonne nervöser wirkte. Und Nervosität, so dachte Dantra bisher, sei für sie eine lästige menschliche Last, mit der sie nichts zu tun haben wolle.
„Was ist? Haben wir uns verlaufen?“, fragte er seine Begleiterin schließlich.
„Ich verlaufe mich nie“, erwiderte Akinna gereizt.
„Ich mein ja nur ... Wenn wir sonst marschieren, geht das meistens geradeaus. Im Moment wechselst du aber so oft die Richtung, dass wir nicht wirklich vorankommen.“
Sie blieb stehen und fauchte ihn an: „Und wer ist daran schuld?“ Sie stemmte ihre Hände fordernd in ihre Hüften.
„Ich etwa?“, wunderte sich Dantra.
„Nein, ausnahmsweise mal nicht. Oder nicht direkt. Aber der Mensch allgemein! Ich schätze, hier wurde wieder einmal im Überfluss gerodet. Und nun sieht es nicht mehr so aus wie von Nomos beschrieben.“ Wieder ein Blick zur Sonne und eine weitere Sorgenfalte mehr auf ihrem sonst so feinen Elbengesicht.
„Was suchen wir denn?“, fragte Dantra, gewillt zu helfen.
„Na, unser Versteck für die Nacht. Was denn sonst?“
Auch wenn ihr Ton Dantra nicht gefiel, so wusste er doch, dass wenigstens einer von ihnen beiden die Nerven behalten sollte. „Ja, das habe ich mir gedacht“, sagte er ruhig. „Ich meine, wie sieht es aus?“
„Es ist ein Baum.“
„Ein Baum?“
„Ja, ein Baum.“
„Hier gibt es viele Bäume“, stellte Dantra fest und sah sich dabei um.
Auch wenn sie sich auf einer weiten Ebene befanden, die sich vom Fluss aus nach Lava und Dron ausdehnte, so war diese dennoch immer wieder von einzelnen kleineren Wäldchen durchzogen. Richtung Culter erstreckte sich, soweit es einsehbar war, ein schwarzer Baumwald. Auch hier, genau wie im Kampen, wie an einer Schnur ausgerichtet.
„Ich weiß, dass es hier viele Bäume gibt“, fuhr Akinna ihn erneut an. „Und ich kann nur hoffen, dass der richtige nicht auch schon einer Axt zum Opfer fiel. Nomos sagte mir, er stehe eine halbe Elbenspanne von ...“
„Was ist eine Elbenspanne?“, fiel Dantra ihr ins Wort.
„Eine elbische Maßeinheit. Aber das ist doch jetzt völlig unwichtig.“
„Wenn ich nicht weiß, wie weit eine halbe Elbenspanne ist, kann ich auch nicht beurteilen, ob wir hier richtig sind.“
Akinna funkelte ihn ungeduldig an. „Ich sagte bereits, ich verlaufe mich nie! Aber wenn du es genau wissen willst: Von der Stelle, an der wir von Bord gegangen sind, bis zu der kleinen Pappel dort vorn auf der leichten Anhöhe“, sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, „ist es genau eine halbe Elbenspanne. Und hier sollte eigentlich ein kleiner Wald sein, an dessen Seite der besagte Baum steht.“
„Aber da ist doch ein kleiner Wald“, stellte Dantra fest und deutete auf eine Baumgruppe, deren dunkle Nadeln sich im Dämmerlicht kaum von dem dahinterliegenden schwarzen Baumwald abhoben.
„Es sollen etwas mehr als 200 Schritt Grasfläche zwischen ihm und dem schwarzen Baumwald liegen. Zu dem kleinen Wald da vorn sind es aber höchstens 30 Schritt. Dort kann es also nicht sein. Ich bin davon überzeugt, dass hier auch mal ein kleiner Wald war, bis ein paar Hornochsen auffiel, dass ihr Brennholzstapel etwas kleiner ist als der des Bauern drei Felder weiter. Und genau wegen solcher menschlicher Dummheiten haben wir heute Nacht keinen Schutz gegen die Späher der Drachen.“
Während Akinnas Stimme ungewohnt verzweifelt klang, zweifelte Dantra an ihrer Einschätzung der Lage. „Ich denke nicht, dass hier etwas abgeholzt wurde.“
„Ach, nein?“ Akinna wiederum schien seine Einschätzung der Lage schon zu bezweifeln, bevor er sie überhaupt kundtun konnte.
„Nein“, bestätigte er. „Siehst du hier irgendeinen Baumstumpf? Selbst wenn sie die Bäume so tief wie möglich abgeschlagen haben, ist das Gras dennoch nicht so hoch, dass die Stümpfe darin verschwinden würden. Ich denke eher, Nomos hat sich geirrt.“
„Ein Zlif irrt sich nie!“ Da war sie wieder, Akinnas eiskalte Stimme, die keinen Zweifel an ihren Worten duldete.
„Ja, ich weiß“, erwiderte Dantra nun eine Spur zu trotzig. „Aber wenn du dich nie verläufst, ein Zlif sich nie irrt und hier weit und breit kein Baumstumpf zu sehen ist ...“ Dantra machte ganz bewusst eine kleine dramaturgische Pause.
Aber noch bevor er zum Ende seiner Ausführungen über ihre momentane Situation kommen konnte, sagte Akinna: „Da vorn ist Laub“, und ging an ihm vorbei auf das kleine Wäldchen zu, das Dantra kurz zuvor als mögliches Ziel betitelt hatte.
Er murmelte einige Beschimpfungen vor sich hin, weil sie ihn einfach hatte stehen lassen, und folgte ihr dann missmutig.
Sie mussten noch ein ganzes Stück näher herangehen, bevor auch Dantra die wenigen Äste mit ihren Jahreszeit angepassten rotbraun gefärbten Blättern hinter dem kleinen Wald hervorstechen sah.
„Ist er das?“, fragte er, als sie vor einem unnatürlich groß wirkenden Baum standen, dessen wuchtiger Stamm so breit war, wie der Wagen eines Ochsengespanns lang ist. Selbst die Äste, die auf Kopfhöhe anfingen, die Baumpracht nach oben zu hieven, waren anfangs so dick wie Weinfässer.
„Ich denke schon“, erwiderte Akinna nachdenklich und sah dabei skeptisch auf einen Dornenbusch, der eine Seite des Baumes bis auf Augenhöhe für sich in Anspruch nahm.
„Kaum zu glauben.“ Dantra wollte eigentlich schweigen, doch sosehr er sich auch bemühte, es ging einfach nicht. „Aber wie 200 Schritt Grasfläche sieht das hier nicht aus“. Er zeigte kurz vom Baum zum schwarzen Baumwald. „Wenn es hochkommt, sind es vielleicht 30 Schritt. Aber das hast du ja selbst schon von dahinten festgestellt, nicht wahr?“ Er sah sie provozierend an.
„Nomos irrt sich dennoch nicht“, sagte sie zischend. „Es wird eine andere Erklärung dafür geben müssen.“
„Was für eine andere Erklärung?“ Dantra war empört, dass sie das Offensichtliche immer noch vehement abstritt. „Willst du mir jetzt wieder erzählen, dass irgendwelche Menschen schuld sind? Dass sie sich überlegt haben, einfach mal das kleine Wäldchen mitsamt diesem Baumkoloss umzupflanzen? Es ist, wie es ist! Und da gibt es auch nichts schönzureden! Nomos hat ...“ Dantra stockte. Während seiner Ausführungen hatte er Akinna nicht richtig angesehen. Erst jetzt bemerkte er ihre Augen. Darin tobte bereits ein Flächenbrand des Zorns. Ein Seelenspiegel, in den er schon einmal geschaut hatte. Oben in den Bergen. In der Höhle. In der Nacht, bevor Mac ermordet worden war. Sein eher kläglicher Wille zur Selbstbeherrschung bekam bei diesem Anblick einen unerwarteten Schub. Seinen Mund zu halten und seine Meinung nicht einfach herauszuargumentieren, war plötzlich gar kein Problem mehr für ihn. Er schluckte die letzten Wörter einfach herunter und stammelte stattdessen: „Na ja, ist eine seltsame Welt, in der wir leben. Es wird wohl eine andere Erklärung geben. Wollen wir den Eingang suchen?“ Er deutete auf die Dornenhecke und sah sie dabei so unschuldig an, wie er nur konnte.
Der Flächenbrand erlosch, sodass nur noch ein kleiner, flackernder Aufruhr blieb. Akinna wandte sich wieder der Suche zu, die kurz darauf erfolgreich war. Sie nahm ihren Bogen und ihren Köcher ab und kroch an einer unscheinbaren Stelle unter den Busch, wo das Schmerz bringende Dornengeflecht den Weg freigab.
Dantra nahm das Schwert von Comal vom Rücken und schob es zusammen mit seinem Deckenbündel und dem Vorratssack vor sich her, während er ihr folgte. Hier, vom Immergrün vor unwissenden Blicken geschützt, befand sich ein Loch im Baum, durch das sie beide in das Innere gelangten. Die Dunkelheit darin ließ ihren Augen keine Chance. Selbst Akinna konnte nur noch schemenhaft sehen. Sie zog