Drachengabe - Diesig. Torsten W. Burisch
die hat er nicht.“
Für Dantra klang die Beschreibung seines Gewissens etwas zu hart. Sie ließ ihn in einem für ihn unangenehmen Licht dastehen, da es einen Schatten der Unbarmherzigkeit warf. Aber er wusste natürlich, dass er hier und jetzt im Falle des Falles in der Tat keine Skrupel haben durfte. Also waren Akinnas harte Worte die beste Möglichkeit, um das zu Vermeidende tatsächlich zu vermeiden, um ihn nicht töten zu müssen.
Akinna war nur kurz fort. Als sie zurückkehrte, hielt sie einige dünne, weiche Äste in der Hand. Geschickt flocht und knotete sie diese zu einem fünf Fuß langen Strick zusammen. Anschließend musste Inius sich auf den Bauch legen. Akinna fesselte seine Hände auf dem Rücken und schnürte dann, nachdem er seine Beine angewinkelt hatte, auch noch seine Füße zusammen.
„Ich weiß“, kommentierte Akinna ihr Handwerk, „bequem ist das nicht. Aber wenn deine Gelenke zu schmerzen anfangen oder die Stellen an deinem Körper, die du nicht erreichen kannst, jucken, freu dich darüber. Das sind alles Anzeichen dafür, dass ich dich nicht getötet habe. Noch nicht. Denn ich werde deine Geschichte prüfen. Sollte auch nur ein kleiner Teil davon nicht der Wahrheit entsprechen, kannst du dir sicher sein, dass dich schon heute Abend nichts mehr zwickt.“
Kurz darauf waren Dantra und sie auf dem Weg zum blauen See. Das Wetter hielt etwas Nebel für sie parat, durch den die Sonne nur suppend hindurchwaberte.
„Und?“, fragte Dantra. „Hast du schon eine Idee, wie wir uns bei den hohen Elfen der Tiefe Gehör verschaffen wollen?“
„Ich werde sie rufen, sie bitten, sie heraufbeschwören, und wenn es nicht anders geht, führe ich sogar einen Tibohtanz auf. Irgendwie wird es schon funktionieren. Irgendwie muss es funktionieren. Sonst stecken wir mit unserer Mission in einer Sackgasse.“
Nach einigen schweigenden Schritten durchs nasse Gras fügte sie noch eine weitere Möglichkeit an. „Wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, werde ich mit Nomos Kontakt aufnehmen. Wenn wir es bis dahin noch nicht geschafft haben, wird er sicher die eine oder andere Idee haben, wie wir die hohen Elfen erreichen können.“
Ihr Fußmarsch endete bereits, bevor Dantra die morgendliche Kälte abzuschütteln vermocht hatte. In einer kleinen Senke, von denen es hier Dutzende gab, lag der See ruhig, fast schon langweilig da. Mehr als die Hälfte davon war von Wald umgeben. Seine Größe wurde seinem Ruf als Heimat der hohen Elfen der Tiefe nicht gerecht. Ganz im Gegenteil. Er war eher klein. Enttäuschend klein. Dantra vergewisserte sich bei Akinna, ob es überhaupt das richtige Gewässer sei oder ob sie sich vielleicht irrte und sie beide noch weitergehen müssten, um den Prachtsee der Elfen zu erreichen. Akinna aber wiederholte nur genervt ihre Zurechtweisung vom Vortag, in der sie ihn bereits darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie sich in solchen Dingen nie irrte.
Während Dantra weiterspottete, dass das Wasser nicht einmal, wie es der Name vermuten ließ, blau sei, sondern moosgrün, hockte Akinna sich ans Ufer und dachte über ihr weiteres Vorgehen nach.
Gedankenversunken sah sie in ihr Gesicht, das sich in dem ruhigen Gewässer spiegelte, als Dantra unvermittelt losschrie: „Hallooo!“
Mit völlig entgeisterter Miene sah sie ihn an. „Was ist denn heute Morgen mit dir?“
Dantra blickte sie nicht weniger fragend an. „Wieso?“
„Na, erst moserst du rum, dass der See nicht deine hohen Ansprüche erfüllen würde, und jetzt brüllst du los, als würden die Elfen plaudernd am anderen Ufer sitzen und wir müssten nur kurz auf uns aufmerksam machen.“
„Würden sie tatsächlich dort sitzen, müsste ich nicht so brüllen“, gab Dantra gekränkt zurück. „Das ist kein See, das ist ein Tümpel. Jeder Baum, den ich von hier aus sehen kann, wäre als Pinkelstelle attraktiver als dieses schmuddelige Wasserloch.“
„Halt deinen Mund!“, zischte sie ihn an. „Vielleicht können sie uns hören.“
„Meinst du wirklich?“ Akinna merkte natürlich sofort, dass Dantra sie nicht ernst nahm. „Glaubst du, sie tauchen gleich auf und spritzen mich nass?“
Akinna hielt es für unnötig, seine Albernheiten mit einer Antwort zu belohnen, und schickte ihn stattdessen einige Schritte zurück, um von dort aus die Gegend zu beobachten und sie gegebenenfalls zu warnen, falls sich irgendjemand näherte. Sie selbst setzte sich mit verschränkten Beinen ans Wasser und versuchte, auf mentaler Ebene eine Verbindung zu den Elfen herzustellen. Als das jedoch wirkungslos blieb, startete sie einen erneuten, dieses Mal verbalen Versuch. Sie war äußerst froh, dass Dantra sie zwar sehen konnte, aber nicht mehr in Hörweite war. Er hätte sich wahrscheinlich gekugelt vor Lachen.
Mit hoher, melancholischer Stimme rief sie leise: „Ihr edlen hohen Elfen der Tiefe. Ich erbitte euer Gehör. Ich erbitte eure Geduld. Ich erbitte euer Wissen. Helft mir mit eurer unendlichen Weisheit, mit eurer Güte und unendlichen Magie.“ Aber nichts rührte sich. Nicht der kleinste Wasserring entstand.
Sie wiederholte diese Prozedur noch einige Male, wobei sie ihre Wortwahl hin und wieder etwas veränderte. Dennoch sprach kein Anzeichen dafür, dass ihr Bitten Gehör finden würde.
„Demut“, dachte sie. „Ich zeige wohl zu wenig Demut.“ Sie sah sich prüfend zu Dantra um. Er saß, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, da und sah in die Ferne. Sie hockte sich auf ihre Knie und beugte sich mit nach vorn ausgestreckten Armen immer wieder vor und zurück. Es schien, als würde sie den See anbeten, da sie nun erneut im melancholischen Flüstergesang vor sich hin murmelte. Doch das Einzige, was sie für ihre Mühe erntete, war Dantras breites Grinsen, als sie den Versuch abbrach und sich von Neuem nach ihm umsah.
Gereizt winkte sie ihn zu sich heran. „Dann versuch du es eben“, schimpfte sie resigniert, als er vor ihr stand. „Aber keine Beleidigungen, verstanden?“
„Alles klar“, erwiderte Dantra und bestätigte die an ihn gestellte Aufgabe: „Die Elfen heraufbeschwören, ohne dass sie sauer werden.“
Kopfschüttelnd trottete Akinna zu der Stelle, wo gerade eben noch Dantra gestanden hatte, um nun statt seiner die Gegend zu beobachten.
Dantra baute sich unterdessen mit geschwellter Brust vor dem See auf und begann, dem nicht vorhandenen Publikum zu erklären, wie sich aus seiner Sicht die Sachlage verhielt. „Ich finde, ihr hattet jetzt euren Spaß“, begann er streng. „Ihr habt es sogar geschafft, dass eine Elbin sich vor euch zum Narren macht. Na gut, eine Halbelbin“, verbesserte er sich. „Aber immerhin. Also, herzlichen Glückwunsch dazu. Aber jetzt ist es Zeit, uns bei unserem Problem zu helfen. Also, taucht auf!“ Er verdeutlichte seine Bitte, indem er bei den Worten „Taucht auf“ seine Hände wie ein Fischer, der sein reichlich gefülltes Netz aus dem Wasser hievte, von unten nach oben schwang.
Als sich aber nichts tat, kehrte er ansatzlos zu seiner ersten Taktik zurück. „Hallo! Hallo! Es ist nicht mehr witzig!“ Er kniete sich ans Ufer, klopfte mit der Faust auf die Wasseroberfläche und rief dabei erneut nach den Elfen. Aber mehr als einen nassen Ärmel brachte ihm das nicht ein.
Enttäuscht und verärgert ging er zu Akinna, die ihn schon mit forderndem Blick erwartete. Dantra ignorierte es und blaffte stattdessen sofort los: „Das ist doch Zeitverschwendung. Entweder sie können oder sie wollen uns nicht hören. Oder aber da ist überhaupt niemand, der uns irgendwelche Informationen geben könnte. Ich werde auf keinen Fall noch länger mit diesem Wasserloch reden, während Tami irgendwo da draußen als Sklavin gehalten wird. Also, mach, was du willst, ich gehe!“ Er drehte sich um und marschierte in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
„Und wo willst du hin? Ohne Hilfe findest du sie nie. Und der Einzige, der dir helfen kann, ist Nomos“.
Dantra machte auf dem Absatz kehrt und kam schimpfend zu ihr zurück. „Nomos? Den interessiert doch nichts, außer seine Wegsagung in die Tat umzusetzen. Dabei bleibt ihm gar keine Zeit, nach meiner Schwester zu suchen. Und während er mich durch Umbrarus hetzt, erleidet sie wahrscheinlich Höllenqualen. Und nur die Hoffnung, dass ich komme und sie rette, erhält ihren Willen aufrecht, all dies zu ertragen und nicht den