Die Todgeweihten. F. John-Ferrer

Die Todgeweihten - F. John-Ferrer


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dich, mein Junge«, fordert Boltz auf. »Ich muss mit dir reden.«

      Boltz ist frühzeitig ergraut. Die schwere Verantwortung, die er bei seinen Aufgaben trägt, hat sein Gesicht gezeichnet; es ist ein noch junges Gesicht, etwas nervös, schmal und verrät den geborenen Offizier. Canaris hat diesen Mann nicht umsonst vom Hauptmann zum Oberstleutnant avancieren lassen. Man weiß in Berlin genau, dass Boltz das Vertrauen und die Hochachtung der noch loyal gebliebenen Italiener besitzt, wie sich überhaupt kein Mann besser als Sabotageleiter eignet als Oberstleutnant Walter Boltz. Die Freundschaft zu Leutnant Brandt gründet auch auf dem Umstand, dass Boltz seinen einzigen Sohn, der als Fähnrich in Russland kämpfte, verloren hat. Brandt ähnelt diesem Toten, hat auch dessen Art. Aus diesem Grunde ist die Schranke zwischen Leutnant und Oberstleutnant auch so gut wie restlos gefallen.

      »Cognak?«, fragt Boltz.

      »Es ist mir lieber, wenn du gleich vom Leder ziehst«, sagt Brandt und setzt sich in den hochlehnigen Stuhl.

      Boltz kehrt hinter seinen Schreibtisch zurück, auf dem ein Wust an Karten und Aktenpapieren in kunterbuntem Durcheinander liegen.

      Brandts graue Augen heften sich gespannt auf das Gegenüber.

      »Hör zu«, fängt der Oberstleutnant an. »Es gibt Arbeit. Du fährst noch heute nach San Giorgio. Colonello Lorenzoni erwartet dich.«

      Brandts Miene verrät Überraschung. »Lorenzoni?«

      »Ja. Er hat das Kommando bei dem Unternehmen.« Boltz lächelt flüchtig. »Er erinnert sich sehr gut an deine Verdienste beim Unternehmen Seeigel und hat dich angefordert. Auch Dengler ist von Lorenzoni angefordert worden, unser Funkerfeldwebel. In San Giorgio werden noch zwei Mann von uns antanzen. Ein Fähnrich, der eben erst die Ausbildung hinter sich hat, und – tja, Jochen«, grinst Boltz herüber, »ein Mann vom SD, Kramer heißt er. Ich kenne ihn flüchtig von Berlin her. Er war schon zweimal in Moskau, wurde beim letzten Mal erwischt, konnte aber rechtzeitig ausbuchsen. Klar, dass man ihn jetzt nicht mehr im Osten einsetzen will. Kramer ist Hauptsturmführer. Soll auch das Ritterkreuz haben. Er gilt als kaltschnäuziger Bursche. Man hat mir zugeflüstert, dass er auch gelegentlich die Nase etwas hoch trägt. Erzählt gerne davon, dass er mit dem Führer gefrühstückt hat und … Na ja, du wirst schon wissen, wie du den Mann zu nehmen hast.«

      Brandt fischt nach Zigaretten und zündet sich eine an. Sein Gesicht verrät nichts. Nur das linke Auge hat sich halb geschlossen.

      Boltz fährt fort: »Was den Fähnrich betrifft, so musst du ein bisschen auf ihn aufpassen. Ist noch ein unbeschriebenes Blatt, wurde aber, wie ich aus den Akten feststellen konnte, mit einer sehr guten Beurteilung von der Schule entlassen. Es wird sein erster Einsatz sein.«

      »Wo?«

      »Bari.«

      Brandt schaut zum hohen Bogenfenster hinüber. Man sieht nur blauen Himmel. Ein Efeuzweig schaukelt sich im Wind.

      Im Gehirn des Leutnants beginnt die Abteilung »Geographie« zu arbeiten: Bari. Hafenstadt an der Adria. 200000 Einwohner etwa. Das Ziel des Auftrages liegt also rund 200 Kilometer hinter der augenblicklichen Frontlinie. Wichtiger Nachschubhafen der Alliierten. Also eine wenn auch wieder gefährliche, so doch interessante Aufgabe.

      Die Augen des Oberstleutnants schauen mit nachdenklichem Ausdruck herüber.

      »Du triffst Colonello Lorenzoni in der Villa Flora«, sagt Boltz jetzt.

      Brandt nickt und zerdrückt die Zigarette im Aschenbecher. »Wer ist noch dabei?«

      »Darüber hat sich der Colonello nicht ausgelassen. Ich vermute aber, dass ein paar alte Bekannte von dir mitmachen werden.«

      Brandt schiebt sich hoch und geht zweimal durchs Zimmer. Indessen ergänzt Boltz seine Einsatzmeldung:

      »Dengler wird die Funkverbindung mit unseren V-Männern in San Benedetto aufnehmen. Von dort aus werde dann ich über den Stand der Dinge benachrichtigt. Außerdem wird Dengler auch die Funklinie Rom benützen. Genaue Anweisungen wird der Colonello noch geben. Das wäre im Augenblick alles, Jochen.« Brandt ist vor dem Schreibtisch stehengeblieben und blickt den älteren Freund an.

      »Und deine Meinung von dem Auftrag?«

      »Der Erfolg hängt von den Vorarbeiten ab. Die Chancen sind wie immer.«

      Brandt grinst matt. »Diesmal vielleicht noch um ein paar Prozent herabgesetzt, weil der Gegner wachsamer geworden ist.«

      »Damit muss gerechnet werden, Jochen.«

      »Hm …« Brandt reibt sich das Kinn. »Wer hat die Sache vorbereitet?«

      »Ein paar Agenten der O. V. R. A. Lorenzoni weiß bestimmt mehr.«

      »Na schön. Ich werde mich gleich auf die Socken machen. Übrigens, Witt hat mich gebeten, ihn nicht in Ancona kleben zu lassen. Kann er mitkommen?«

      »Witt muss diesmal hierbleiben. Wir brauchen einen verlässlichen Mann für die Hafenkontrolle. Ich werde ihm das persönlich sagen.«

      »Gut. Wo ist Dengler?«

      »Er macht den Wagen fertig.« Boltz erhebt sich und kommt um den Schreibtisch herum. »Hör mal zu, mein Junge. Du kannst ablehnen. Wenn du mir sagst, dass deine Verwundung noch nicht ganz ausgeheilt ist und du Schonung brauchst, wäre das ein Grund, dich von dem Unternehmen zu streichen.«

      »Ich fühle mich in Ordnung.«

      Boltz legt dem anderen die Hand auf die Schulter und rüttelt ihn leise. »Du bist jetzt insgesamt sieben Mal verwundet worden, das letzte Mal ziemlich schwer. Ein Wort von dir genügt, und ich teile Lorenzoni mit, dass er einen anderen Mann einsetzen soll.«

      Brandt winkt ab. »Unsinn. Es sähe wie Kneifen aus. Außerdem reizt mich die Sache. Wenn die Kameraden von der ›Decima‹ mit dabei sind, möchte auch ich dabei sein.«

      Boltz setzt sich auf die Schreibtischecke. Sein Blick gleitet an der breitschultrigen Gestalt des Leutnants auf und nieder.

      »Es wird diesmal ziemlich schwer sein, mein Junge. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du den Strapazen gewachsen bist. Der Mensch ist keine Maschine.«

      »Leicht war’s noch nie, Walter, und was meine gesundheitliche Verfassung anbelangt, so mute ich mir bestimmt nicht zu viel zu. Außerdem, Walter – der Dienst in Ancona ist mir zu langweilig. Ich freue mich, dass wieder mal was anliegt – und ich freue mich doppelt, weil ich weiß, dass ich in San Giorgio ein paar Freunde wiedersehen werde.«

      Boltz’ Miene bleibt ernst und nachdenklich. In seinen etwas müde dreinschauenden Augen liegt ein heimliches Bitten, als er sagt: »Von unserer Gruppe sind nicht mehr viel übrig geblieben, Jochen. Jeder Einsatz rafft ein paar dahin. Ehrlich gesagt, mein Junge: Ich hätte nichts dagegen, wenn du diesmal daheim bliebst und mir sagtest: ›Ich kann nicht. Ich fühle mich der Aufgabe nicht gewachsen. In vier oder sechs Wochen mache ich wieder mit!‹«

      Brandt geht zum Fenster und schaut hinaus. Tief unten breitet sich die blaugrüne Wasserfläche der Adria aus. Himmel und Wasser verschmelzen zu eins. Klar und hell scheint die Sonne, lässt vergessen, dass der Krieg schon fünf Jahre lang tobt. Friedlich ist das Meer, einsam, ohne Rauchwolke, ohne weißen Segelfleck.

      Ich könnte mich drücken, denkt der Mann am Fenster. Ein Wort würde genügen. Walter wartet darauf, dass ich sage: Es geht nicht – ich fühle mich der Aufgabe, rein gesundheitlich, nicht gewachsen. Er hat das aber alles erst hintenan gesetzt und die Pflicht vorangestellt. Soll ich das Schicksal noch einmal herausfordern? Hat es überhaupt noch einen Sinn, das Leben aufs Spiel zu setzen?

      Stille herrscht. Der Mann am Schreibtisch reibt sich mit der Hand das hagere Gesicht, streicht sich dann über das graue Haar.

      Draußen im Vorraum beginnt eine Schreibmaschine zu klappern. Unten im Schloßhof summt ein Motor, brüllt auf und verstummt wieder. Feldwebel Dengler hat den Wagen fertig gemacht und lädt noch drei Kanister Sprit auf.

      Brandt dreht sich um; sein Gesicht liegt im Schatten, als er sagt:


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