Skyle. Esther Bertram

Skyle - Esther Bertram


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      Der Morgen dämmerte bereits, als sie den White Dragon endlich verließen. Es hatte aufgehört zu schneien und der Himmel war erstaunlicherweise klar. Bald würden sich die Zwillingssonnen über den Horizont schieben und dem Herbstreich einen weiteren kurzen Wintertag bescheren.

      Raven schüttelte entgeistert den Kopf, als er sah, dass es schon wieder hell wurde, und hielt nur kurz an, um sich eine Zigarette anzuzünden. Dann folgte er Wolf durch die vereisten Straßen.

      »Ich kann nicht glauben, dass wir die ganze Nacht über die blöden Pläne für ein Schiff diskutiert haben!« Ursprünglich hatte er nur ein kostenloses Abendessen abgreifen wollen, aber die anderen hatten ihn so sehr in ihre Diskussion einbezogen, dass er geblieben war.

      »Aber es hat sich gelohnt«, gab Wolf zurück. »Wenn ich heute die Änderungen an den Plänen vornehme und sie noch einmal zeichne, dann können wir sie morgen endgültig an die Werft geben und mit dem Bau beginnen.«

      Raven blies nachdenklich den Zigarettenrauch aus. Eine blaue Nebelschwade blieb in der eisigen Luft hängen. »Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?«

      »Absolut. Die Zeit ist reif«, erklärte Wolf im Brustton der Überzeugung. »Du willst ganz bestimmt nicht noch einmal über mein Angebot nachdenken?«

      »Habe ich schon.« Raven hatte keine Ambitionen, auf der Werft festzuhängen. »Ich kann mir schönere Städte als Autonne Gale im Winter vorstellen.« Abgesehen davon, dass Wolf und seine Handwerkerfreunde viel mehr Ahnung von dem hatten, was sie taten, als er.

      »Wenn ich wüsste, dass ich dich vielleicht überreden kann, würde ich sagen, dass wir jemanden wie dich gebrauchen können«, sagte Wolf, als hätte er Ravens Gedanken gelesen. »Aber ich kenne dich zu gut.«

      »Das stimmt wohl.« Raven fuhr sich geistesabwesend mit der Hand durchs Haar. »Nein, ich werde mich von dir auszahlen lassen, dann meine Quote für Kingston erfüllen, und hinterher suche ich mir irgendeine nette Hafenstadt im Sommerreich, um den Rest des Winters dort zu verbringen. Ohne Aufträge.«

      »Wenn du eh im Süden unterwegs bist, kannst du doch bestimmt noch ein paar Erledigungen für mich machen, oder?« Wolf versuchte gar nicht erst, unschuldig zu klingen.

      »Würde das bedeuten, dass ich vor Ende des Winters noch einmal nach Autonne Gale kommen muss?«

      »Vermutlich, ja.«

      Raven gefiel der Gedanke nicht. Andererseits waren Aufträge für Wolf leicht verdientes Geld. »Na gut. Ich erledige deinen Kram. Aber ich will dafür bezahlt werden.«

      »Das dachte ich mir schon fast.« Wolf schaute zu einer Turmuhr hoch, an der sie vorbeikamen. »Noch fast eine Stunde, bevor die Bank öffnet«, stellte er fest. »Dann besorgen wir uns erst mal ein Frühstück.«

      »Sag mal, Wolf, wo läufst du eigentlich hin?«, fragte Raven und spähte in ein leerstehendes Lagerhaus hinein.

      Wolf blinzelte ihn an und Raven seufzte. »Lass mich einfach vorgehen, okay?«

      »Okay, wenn du meinst …«

      Raven zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann warf er sie auf die Straße und trat sie aus. »Meine ich.«

      • 25 •

      Vorsichtig setzte Fly einen Fuß auf den umgestürzten Baumstamm, testete, ob er stabil genug war, und sprang hinauf. Leiv, der ihr folgte, beobachtete sie. Fly balancierte mühelos über den vereisten Stamm, der zwischen zwei Bäumen verkeilt lag. Ihr Atem hinterließ weiße Wolken in der kalten Winterluft.

      Irgendwo in der Ferne hörte Fly den Rest ihrer Gruppe, von der sie sich mit Leiv rasch abgesetzt hatte. Die jungen Männer des Hofes waren sofort Feuer und Flamme gewesen, als einige Hofdamen der Königin einen Winterspaziergang angeregt hatten. Fly wäre um keinen Preis der Welt mitgekommen, wenn Juuba nicht mit einer kleinen Kopfbewegung auf Leiv gedeutet hätte. Flys Widerstand war dahingeschmolzen, als Leiv unter seinen braunen zerzausten Haaren ihren Blick gesucht und gefunden hatte. Wenn er dieses Spiel spielen wollte, würde sie gern mitmachen.

      Leiv interessierte sie. Sie waren vor ein paar Tagen zu einer Feier in seinem Stadthaus eingeladen gewesen. Zu Flys Erstaunen hatte sie bis dahin nicht einmal den Namen des jungen Mannes gekannt, und nun brachte er sie bereits mit einem einzigen Blick dazu, den Palast und die Frühlingskönigin allein zu lassen. Fly sprang vom Baumstamm. Dieser Mann war ebenso faszinierend wie geheimnisvoll. Gerade deswegen reizte er sie.

      Es hatte in den vergangenen Tagen noch einmal kräftig geschneit, sodass das Land rings um Primavera Melody und der Palast von Jazli unter einer dicken Schneedecke verborgen war. Fly mochte den Winter. Die Jahreszeit vereinte häusliche Gemütlichkeit und kühle Distanz in sich. Wenn es schneite, war das ganze Land wie verwandelt, fast so, als würde man durch eine neue Welt wandern.

      Ein zerbrechliches Geflecht aus Eis verband die Ufer eines kleinen Baches miteinander, darunter floss klares Wasser. Fly kniete sich hin und hielt die Finger hinein, um die eisige Kälte des Wassers auf der Haut zu spüren. Leiv hockte sich neben sie und gemeinsam beobachteten sie schweigend, wie das Wasser in Wirbeln und Wellen durch den verschneiten Wald plätscherte. Schließlich erhob er sich und reichte ihr eine Hand. Fly ergriff sie. Ihre Finger blieben in seinen liegen, als sie ihren Weg fortsetzten. Schnell wandte sie den Kopf ab, damit Leiv ihren triumphierenden Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Jetzt hatte sie ihn.

      ****

      Juuba lag bäuchlings auf dem Bett, aß Gebäck und sah Fly dabei zu, wie sie ihren Kleiderschrank durchwühlte.

      »Und?«, fragte sie zwischen zwei Bissen. »Wie ist er so?«

      Fly zog ein gerüschtes Kleid aus einem Kleidungshaufen, begutachtete es und warf es wieder beiseite.

      »Nett«, antwortete sie knapp und konzentrierte sich auf ihre Suche nach einem geeigneten Outfit.

      »›Nett‹«, äffte Juuba Flys Stimme nach und schnaubte. »So einfach kommst du mir nicht davon. Erzähl, erzähl!«

      Fly seufzte und ließ sich neben sie aufs Bett fallen. »Er ist …« Nachdenklich kaute sie auf ihrem Unterlippenpiercing. »Süß. Zuvorkommend, aufgeweckt …«

      »… gut aussehend«, ergänzte ihre Freundin und angelte nach einem Marmeladenkeks. »Und sonst so?«

      »Sonst?«, fragte Fly unschuldig.

      »Komm schon! Als ihr gestern vom Spaziergang wiederkamt, warst du genauso rot im Gesicht wie er. Du kannst mir nicht erzählen, dass das gestern Mittag schon das Ende der Geschichte war!«

      »Du kennst mich viel zu gut.«

      Juuba winkte ab. »Du kennst mich immer noch besser als ich dich. Also?«

      »Er hat Erfahrung«, sagte Fly, nachdem sie die Bilder der vergangenen Nacht zurückgedrängt hatte »Aber er ist gefährlich«, fügte sie hinzu.

      »Also ist er genau dein Typ«, stellte Juuba zufrieden fest und schob sich eine Nussmakrone in den Mund.

      Statt zu antworten sah Fly auf die Kleiderberge auf ihrem Fußboden. »Oh Mann. So viele Klamotten und trotzdem nichts zum Anziehen.«

      »Steht ein Winterbankett an?«

      Fly nickte. »Bist du nicht eingeladen?«

      »Dieses Mal nicht.«

      »Normalerweise würde ich dich ja als Begleitperson mitnehmen, aber in diesem Fall …«

      »Ich mache mir nichts draus, keine Sorge. Du darfst Leiv gerne mitnehmen.« Juubas Augen blitzten belustigt.

      »Du lachst mich aus, kann das sein?«

      »Ach was! Das bildest du dir ein.«

      Fly warf eine Hose nach ihr. »Du solltest dir mal lieber selbst einen Freund suchen!«

      »Vielleicht«, sagte Juuba unbestimmt. »Und du solltest zusehen,


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