Systemische Beratung bei Autismus. Maik Teriete
der 1940er Jahre, hat sich die Sicht auf Autismus stark verändert – ein Prozess, der bis heute anhält.
Für die Weltgesundheitsorganisation gehört Autismus zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Das heißt, Autismus beginnt früh – schon vor der Geburt bzw. bis zum dritten Lebensjahr. Autismus als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung zu betrachten heißt auch, dass Autismus komplex ist und sich auf alle Bereiche der Entwicklung auswirkt. Der Grad der Beeinträchtigung schwankt dabei von Mensch zu Mensch teilweise erheblich. Auch die Frage, ob Autismus einen gewissen Leidensdruck erzeugen kann, ist durchaus unterschiedlich zu beantworten (
Symptomatik
Sowohl in der Diagnostik als auch in der Förderung und Therapie werden drei Hauptbereiche oder Schwerpunkte unterschieden: Kontakt, Kommunikation und Interessen bzw. Handlung. Diese Begriffe sind Vereinfachungen der diagnostischen Kriterien »Störungen der Interaktion«, »Störungen der Kommunikation« und »stereotype, repetitive Verhaltensweisen« (Vogeley, 2016, S. 127 ff.).
Bei aller Unterschiedlichkeit der Menschen mit Autismus treten bei der Mehrzahl Schwierigkeiten in diesen drei Bereichen auf. In letzter Zeit gerät zudem zunehmend das Thema Stress bei Menschen mit Autismus in den Fokus der Förderung.
Diagnostikmanuale ICD und DSM
In den üblichen Manualen, nach denen Diagnosen international gestellt werden, gibt es unterschiedliche Entwicklungen. Wurde bislang in unterschiedliche Unterdiagnosen unterteilt (
Aktuelle Klassifikation nach ICD-10 (Dilling et al., 2015)
• F 84.0 Frühkindlicher Autismus: Menschen mit Autismus und geistiger Behinderung, oft auch ohne verbale Sprachentwicklung
• F 84.1 Atypischer Autismus: Menschen mit »ungewöhnlichem« Autismus, bei denen einer der Hauptbereiche nicht mit betroffen ist und Informationen fehlen, um eine andere Diagnose stellen zu können aus dem Bereich Autismus
• F 84.5 Asperger-Syndrom: Menschen mit Autismus und normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz, die verbal kommunizieren und deren Sozialverhalten unterschiedlich stark beeinträchtigt ist
In der aktualisierten Version der »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-5; American Psychiatric Association, 2013), ist der Begriff Autismus-Spektrum-Störung bereits enthalten.
Die neue Version des alternativen Diagnostikmanual »International Classification of Diseases«, (ICD), auf dessen Grundlage in Deutschland Diagnosen aufgeschlüsselt werden, befindet sich aktuell in der Überarbeitung. Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung wird in die ICD-11 übernommen werden.
Autismus-Spektrum-Störung
Autismus folgt dann keiner kategorialen Diagnostik mehr, in der nach »normal« und »abnormal« unterschieden wird, sondern einer dimensionalen Diagnostik, die zwischen einer schwachen und starken Ausprägung bestimmter vorliegender Merkmale unterscheidet. Alle Menschen mit Autismus werden folglich zusammengenommen und nicht mehr einer der – ohnehin schwierig voneinander abzugrenzenden – Unterkategorien »zugeordnet«. Zudem kann auf diese Weise eine Einschätzung bezüglich des Schweregrades der Störung sowie im Hinblick auf den Grad des Unterstützungsbedarfes getroffen werden (
Der Beobachtungstest CARS-2 (Schopler, van Bourgondien, Wellmann & Love, 2010) bietet eine Erklärungsmöglichkeit in Form einer Art »Koordinatensystems« an mit den zwei Achsen »Autismus-Ausprägung« (mild–schwer) und »kognitive Fähigkeiten« (beeinträchtigt–intakt) (
Abb. 1.1: Grundbereiche der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5
Abb. 1.2: Das autistische Spektrum in Anlehnung an die Childhood Autism Rating Scale (CARS)
Veränderung des Verständnisses von Autismus und Verschiebung des Hauptfokus innerhalb des Spektrums
Menschen mit hochfunktionalem Autismus, die Partnerschaften führen und einem Beruf nachgehen, werden innerhalb des Autismus-Spektrums »miterfasst«. Die Grenze zum »Anders-sein« in Bezug auf die entsprechenden Besonderheiten ist insgesamt fließend.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die Aufmerksamkeit in Bezug auf das autistische Spektrum geändert hat. Standen früher Menschen mit Autismus und geistiger Behinderung besonders im Fokus der Aufmerksamkeit, hat sich diese Aufmerksamkeit aktuell stärker in Richtung des Asperger-Syndroms verschoben, d. h. auf Menschen mit normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz. Die aktive Teilnahme an der Diskussion um das Thema Autismus durch selbst betroffene Menschen ist hier als ein möglicher Grund zu nennen.
Unabhängig davon, welche »Diagnose« genau vergeben wird bzw. wo sich ein Mensch mit Autismus auf dem Spektrum vielleicht auch selbst einordnen würde, bleibt unbestritten, dass Autismus mit Beeinträchtigungen oder Belastungen einhergeht, z. B. aufgrund von Besonderheiten in der Wahrnehmung. Die Suizidrate innerhalb der Gruppe der Menschen mit Autismus ist erhöht (Bölte, 2017). Auch treten komorbide Störungen wie Depression, Angststörungen oder Psychosen gehäuft auf, was durchaus nahelegt, Belastungen weiter als eine mit dem Thema Autismus allgemein eng verknüpfte Thematik zu betrachten (
Häufigkeit
Zur Häufigkeit von Autismus gibt es unterschiedliche Schätzungen (
Tab. 1.1: Geschätzte Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen (Autismus Deutschland, o. D.),