Systemische Beratung bei Autismus. Maik Teriete

Systemische Beratung bei Autismus - Maik Teriete


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      Andere Eltern erleben die Diagnose als schweren Schlag. Sie machen sich viele Gedanken über die negativen Auswirkungen dieser Diagnose auf das Leben ihrer Kinder und ihr eigenes.

      Die Diagnose wird bei den Betroffenen – gemessen an ihrem Alter – unterschiedlich früh oder spät gestellt. Es kann also sein, dass eine Familie die Diagnose erhält, wenn ihr Kind zwei Jahre alt ist, oder aber, wenn das »Kind« bereits über fünfzig Jahre alt ist. Entsprechend unterschiedlich sind folglich die jeweiligen Lebenssituationen der Familien, in denen sie das Thema »Autismus« erreicht.

      Zur Frage, inwieweit Familien vorbereitet sein können auf die Diagnose »Behinderung« bei ihrem Kind schreibt Retzlaff: »Eltern erreichen das ›Land von Behinderung und Krankheit‹ ohne eine psychosoziale Landkarte dieser unvertrauten Region zur Verfügung zu haben.« (2016, 182).

      Ist Autismus nicht schon in der Familie bekannt, weil beispielsweise ein Angehöriger autistisch ist, trifft Familien die Diagnose oft komplett unvorbereitet. Brita Schirmer beschreibt dies mit dem Begriff der »Traditionslosen Eltern«, den sie von Hackenberg übernommen hat (2015, 29). Eltern von Kindern mit Autismus haben noch nirgends »lernen« können, wie sie ihre Kinder gut erziehen können. Entsprechende Vorbilder in der eigenen Erziehung oder der Austausch mit Freundinnen bei besonderen Fragen stehen in diesen Fällen meist nicht zur Verfügung.

      Die besondere Situation von Familien mit einem autistischen Kind

      Familien mit einem autistischen Kinde erleben sehr spezifische Schwierigkeiten, die mit der Entwicklung ihres Kindes zusammenhängen (image Kap. 3.1). Diese Besonderheiten wirken sich auf das gesamte Familiensystem aus.

      An vielen Stellen sind diese Eltern besonders stark gefordert und benötigen spezielle Fähigkeiten, um mit den Herausforderungen umgehen zu können. In gewöhnlichen Situationen müssen sie u. U. »mehr« leisten, z. B. weil sie ihren Kindern immer wieder durch die gleichen Hinweise daran erinnern müssen, sich fertig anzuziehen, die Zähne zu putzen etc. ohne, dass hier nach einigen Malen eine Lernkurve erkennbar wäre. Entsprechend häufig taucht das Thema »Selbstständigkeitsentwicklung« in der Beratung dieser Familien auf.

      Wertschätzung für ihre Anstrengungen erleben Eltern autistischer Kinder insgesamt eher wenig. Sie befinden sich in einer Art »asymmetrischem System«, in dem »Geben« und »Bekommen« nicht in Balance sind. Menschen sind als soziale Wesen auf »Ausgleich« ausgerichtet – auch in ihren Kontakten untereinander. Im Kontakt mit autistischen Menschen kann die Entwicklung dieses »Ausgleichs« erschwert sein, sodass der Kontakt mit ihnen auch eine anstrengende und auslaugende Erfahrung bedeuten kann.

      Als fordernd in diesem Zusammenhang wird von Familien mit autistischen Kindern auch erlebt, dass bestimmte Prozesse im Rahmen der Entwicklung ihrer Kinder anders verlaufen als erwartet. Schirmer nennt als Beispiel dafür, dass diese Kinder nicht wie andere »ihren Freundeskreis sukzessive so weit aufbauen, dass ihnen ein Netzwerk außerhalb des Familienzusammenhaltes zur Verfügung steht.« (2015, 49). Für die betroffenen Familien hat dies teilweise auch sehr direkte Auswirkungen auf den Alltag – beispielsweise, dass Zeiten fehlen, in denen die Kinder sich mit ihren Freunden beschäftigen und den Eltern auf diese Weise eine »Pause« verschaffen.

      Manche Eltern autistischer Kinder leiden ferner unter dem Umgang mit dem Thema Autismus. Wiederholte Erklärungen, warum sich ihre Kinder anders verhalten und auch, warum sie anders mit ihnen umgehen, werden als mühsam oder anstrengend empfunden.

      Vor dem Hintergrund der beschriebenen Aspekte ist es nicht verwunderlich, dass erlebter Stress im Umgang mit den eigenen Kindern ein häufig angesprochener Grund für Belastungen in der Beratung von Eltern autistischer Kinder ist – ein wiederkehrendes Thema, sowohl bei den Angehörigen und Bezugspersonen als auch bei den Betroffenen selbst.

      Positive Erfahrungen mit Autismus in der Familie

      Der Idee der »Resilienz« folgend, gibt es natürlich auch Eltern, die mit den Herausforderungen gut umgehen können und womöglich gestärkt hervorgehen aus den schwierigen Erfahrungen im Alltag. Diese Eltern sind in der Lage, eine positive Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Sie beschreiben Erfahrungen, die sie ohne den Autismus nie gemacht hätten und für die sie sehr dankbar sind.

      Humorvolle Momente im Familienalltag, die ohne Autismus so nicht erlebt worden wären, zu erkennen und wertzuschätzen, kann ebenfalls stärkend wirken. Es kann beispielsweise befreiend wirken, wenn die eigenen Kinder gesellschaftliche Konventionen ignorieren und nur ihren Bedürfnissen nachgehen. Sie machen Dinge, die sich andere nie trauen würden und besitzen oftmals die Fähigkeit, sehr nüchtern und schnell Fakten schaffen, wo andere lange abwägen würden und unter Umständen nie zu einer Entscheidung kämen.

      Ein Junge mit Autismus hat die Angewohnheit, beim Einsteigen in Straßenbahnen laut »Platz da!« zu rufen und sich so möglichst ungestört durch herumstehende Fahrtgäste in den hinteren Straßenbahnteil zu begeben. Wenn dort ein Platz besetzt ist, auf dem er gerne sitzen würde, fordert er diese Mitfahrenden gestikulierend auf, den Platz zu verlassen, damit er sich dorthin setzen kann. Die anderen Fahrtgäste sind zumeist so überrascht durch dieses Verhalten, dass sich der Junge in der Regel ohne Probleme durch den Bus bewegen und auf seinem bevorzugten Sitz Platz nehmen kann.

      Fragen zum Thema »richtige« Erziehung

      Das Thema »richtige« Erziehung kann durch die beschriebenen Erfahrungen und damit einhergehenden Selbstzweifel innerhalb von Familien mit Kindern mit Autismus zu intensiven Diskussionen führen. In der Beratung begegnet man Haltungen wie »Man kann nicht alles abnehmen, diese Kinder müssen erleben, was es heißt, ein Problem zu haben und daraus Konsequenzen ziehen können«. Wohingegen andere Eltern dazu tendieren, den Kindern alles abzunehmen, das ganze Familienleben auf das autistische Kind abzustimmen und dessen Regeln auf das gesamte System zu übertragen. Beide Strategien erweisen sich im Alltag einerseits zielführend und andererseits problematisch.

      Bei autistischen Kindern scheitern viele herkömmliche pädagogische Konzepte. Um sich konstruktiv und lösungsorientiert mit ihren Kindern zu erleben, benötigen Eltern spezielles Wissen und besondere Fähigkeiten.

      Wissen um das Thema Autismus

      Das Wissen über das Thema Autismus ist bei den betreffenden Eltern zum Zeitpunkt der Diagnose meist eher gering, wie die Erfahrung aus der Beratung zeigt. Gerade das Internet hält eine große Fülle an unterschiedlichen Informationen bereit, was oft zur Folge hat, dass die eigenständige Recherche zu mehr Verwirrung als Klarheit führen kann. Zudem erhalten die Eltern durch diese Informationen oftmals noch keine konkreten Ideen oder Hilfestellungen, die eine entlastende und nachhaltige Wirkung auf den Alltag zuhause haben kann.

      Hilfen für Familien mit autistischen Kindern

      Hilfen durch Praxen und Kliniken über die Diagnosestellung hinaus werden erfahrungsgemäß nur sehr begrenzt angeboten. Einige dieser speziellen Einrichtungen bieten den Familien regelmäßige Termine an, bei denen über die aktuelle Situation und weitere mögliche weitere begleitende Maßnahmen wie beispielsweise Logo- und/oder Ergotherapie gesprochen werden kann.

      Entsprechend der Tradition der ersten Hilfen für diese Familien in Deutschland aus den 1970er Jahren, organisieren sich Eltern autistischer Kinder häufig auch selbst und schaffen auf diese Weise entsprechende Angebote. Manchmal entsteht diese Initiative dabei aus der Not heraus, nicht oder nur unzureichend strukturell und spezifisch unterstützt zu werden. Die mögliche Wirkung auf das eigene Leben vieler Eltern ist nicht zu unterschätzen. Das Weitergeben von Wissen hinsichtlich der Bearbeitung von formellen Anträgen bzw. der Austausch über die verschiedenen Möglichkeiten der weiteren Unterstützung für die eigene Familie kann sehr hilfreich sein.

      Zeitnahe und umfassende Hilfe in Form von autismusspezifischen Fördermaßnahmen, die beispielsweise


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