Systemische Beratung bei Autismus. Maik Teriete

Systemische Beratung bei Autismus - Maik Teriete


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Klärung der Kostenübernahme und teilweise monate- bis jahrelanger Wartezeit. Eine Anlaufstelle für derartige Unterstützungen finden diese Eltern bei unterschiedlichen Trägern.

      Situation von Familien mit Kindern mit Behinderung

      Mit vielen der Herausforderungen, denen sich Familien von Kindern mit Autismus stellen müssen, sind auch Familien mit Kindern, die durch andere psychische bzw. körperliche Beeinträchtigungen oder Behinderungen einen »von der Norm abweichenden« Lebensweg beschreiten, konfrontiert. Im Folgenden soll daher der Blick über den reinen »Autismus-Tellerrand« geworfen und stattdessen das generelle »Leben mit einem Kind mit Behinderung« in den Fokus gerückt werden.

      Vor dem Hintergrund der zahlreichen Besonderheiten, die aber eben auch mit Einschränkungen und Belastungen einhergehen können, ist eine »störungsspezifische« Perspektive allerdings oftmals sinnvoll bzw. notwendig.

      Dabei soll es bei den folgenden Beschreibungen auf keinen Fall darum gehen, Familien mit Kindern mit Behinderung zu »stigmatisieren«. Ziel ist vielmehr, das Besondere an ihrer Situation in den Fokus zu rücken, die Aspekte mit all ihren Chancen und Risiken wahrzunehmen und so für die Beratung nutzbar zu machen.

      Retzlaff (2016) beschreibt, wie sich Belastungen, die mit Behinderungen einhergehen, auf die Struktur von Familien auswirken können. Die Sorge um das beeinträchtigte Kind und dessen hat auch Auswirkungen auf alle anderen Familienmitglieder. Diese Notwendigkeit eines Mehr an Aufmerksamkeit findet sich auch, wie schon beschrieben, im Bereich Autismus.

      »Im Umgang mit der Krankheit wandeln sich Rollenverteilung und Routinen, oft im Sinne einer Akzentuierung vorhandener Rollenmuster. Zwischen den Familienmitgliedern müssen Aufgaben und Verantwortlichkeiten neu verteilt werden. Vertraute Aktivitäten werden leicht aufgegeben. Familien mit behinderten Kindern zeigen eine Tendenz zu einer innerfamiliären Orientierung (Retzlaff, 2016, S. 53).«

      Solche Dynamiken können auch bei Familien mit Kindern mit Autismus vorkommen. Gerade weil Autismus mit Beeinträchtigungen einhergeht, die die Orientierung nach außen sowohl für die Betroffenen als auch für deren Familien stark erschweren können. Wie in der Literatur (z. B. Vogeley, 2016) beschrieben, bestätigt sich in der Beratungspraxis, dass gerade Mütter autistischer Kinder von entsprechenden Herausforderungen berichten. Sie geben häufig an, Abstriche bei der eigenen Berufsplanung machen zu müssen oder bemängeln eine »Unterversorgung« im Hinblick auf ihre sozialen Kontakte. In vielen Beratungssituationen steht zudem die Frage im Vordergrund, wie mit den unvermeidlichen Auffälligkeiten ihrer Kinder im Alltag umgegangen werden soll. Vielen Eltern ist es sehr wichtig, dass ihre Kinder nicht zu sehr »aus der Reihe fallen« und sie verwenden viel Energie darauf, etwaige Auffälligkeiten zu kompensieren oder diese beim Kind zu begrenzen.

      Dazu, wie Familien mit Kindern mit Behinderung in Konfliktsituationen reagieren, schreibt Retzlaff:

      »In Familien mit chronisch kranken und behinderten Angehörigen besteht eine Neigung zur Harmonisierung. Dies führt tendenziell zu Problemen mit konflikthaften Entwicklungsschritten, etwa bei der Ablösung und bei Autonomiebestrebungen (McDaniel et al. 2004). Wegen der hohen Dauerbelastung wirken Konflikte besonders bedrohlich, die Familie muss von Tag zu Tag auf einem hohen Level funktionieren und kann sich Unstimmigkeiten kaum erlauben (Perry et al. 1992).« (2016, S. 54).

      Retzlaff beschreibt weiter, dass bei Familien mit Kindern mit Behinderung unter anderem die verfügbaren Ressourcen und die familiären Deutungsmuster entscheidend sind für eine gelingende Anpassung (ebd., 96). Der Autor hebt hervor, welche Faktoren die »Resilienz« von Familien mit behinderten Kindern schwächen oder stärken.

      Resilienz von Familien mit behinderten Kindern (Patterson, 1991, zit. in Retzlaff, 2016, 96)

      • Balance zwischen den Bedürfnissen der übrigen Familie und den Erfordernissen der Behinderung

      • Bewahren von klaren Grenzen der Familie nach innen und außen

      • Entwicklung von kommunikativer Kompetenz

      • Der Situation eine positive Bedeutung beimessen

      • Die Flexibilität der Familien erhalten

      • Verbundenheit mit der Familie als Ganzem wahren

      • Aktive Bewältigungsschritte

      • Soziale Integration und aktive Pflege des sozialen Netzes

      • Kooperative Beziehungen mit Helfern aufbauen

      Eltern mit Kindern mit Autismus benötigen umfassende und für ihre jeweilige individuelle Situation passende Unterstützung. Um den Blick in der Beratungsarbeit sowohl mit Eltern als auch mit Fachkräften auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen zu richten, hat sich in vielen Fällen z. B. der Einsatz der »Ressourcenkarten« (Jean-Luc Guyer, 2015) bewährt. Ratsuchende können mit Hilfe der über einhundert Karten, auf denen je eine Ressource beschrieben wird, aktiv in die Beratung einbezogen werden. Die Ressourcen sind bewusst breit gefächert und beziehen auch eher negativ konnotierte Qualitäten wie »Wut« und »traurig sein« mit ein, da davon ausgegangen wird, dass auch diese Qualitäten in einem Beratungsprozess hilfreich sein können.

      Der Blick auf die Ressourcen ist in der Beratung von Eltern wichtig und oft auch neu, da durch die Beschäftigung mit dem Thema »Autismus« und »Behinderung« ansonsten eher schwierige Themen im Vordergrund stehen können und sich diese Eltern vor allem als »überfordert« erleben. Solche Väter und Mütter gehen dann womöglich auch nicht davon aus, selber etwas Produktives beitragen zu können. Durch den Einsatz ressourcenorientierter Methoden, wie die »Ressourcenkarten«, kann ein erster ressourcenorientierter und aktivierender Impuls gesetzt werden.

      2.3 Was bewirkt Autismus bei Fachleuten?

      Der Therapeut begrüßt eine Frau mit Autismus, die sich zu einer Erstberatung angemeldet hat, an der Eingangstüre der Beratungsstelle. Er sagt: »Ich geh dann mal vor!« und läuft in Richtung Besprechungsraum. Nachdem er den Gang ein paar Meter hinuntergelaufen ist, bemerkt er, dass die Klientin ihm nicht gefolgt ist. Als er sich zu ihr umdreht, sagt diese: »Ach, Sie meinen, ich soll mitkommen!«

      Auch die Wirkung von Autismus auf Fachleute ist insgesamt schwer zu erfassen. Berufstätige Menschen erleben ihre Arbeitssituation generell sehr unterschiedlich, wobei diverse persönliche und strukturelle Aspekte einen Einfluss darauf haben, ob die Situation als erfüllend oder belastend eingeschätzt wird. Der Bereich Autismus kann auf jeden Fall als Bereich angesehen werden, in dem besondere Herausforderungen, die im Folgenden beschrieben werden, die Arbeit der Fachleute beeinflussen.

      Unterschiede zwischen Fachleuten, Menschen mit Autismus und deren Familien

      Die in den vorausgegangenen Kapiteln beschriebenen Aspekte bezüglich der Wirkung von Autismus auf die Betroffenen und deren Familien können auf Fachleute nur sehr eingeschränkt übertragen werden. Personen, die in diesem Bereich tätig sind, haben sich bewusst hierfür entschieden – sie wurden i. d. R. nicht ungewollt von dem Thema »überfallen«. Wenn Fachleute die Arbeit in diesem Bereich als problematisch oder belastend erleben, haben


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