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ist.

      In nur wenigen Jahren ist es Höcke, Kalbitz und ihren Gefährten aus der zweiten Reihe gelungen, ihre eigene Partei zu unterwandern. Sie haben einen regelrechten Kampf gegen gemäßigtere Parteikollegen geführt, denen sie stets unterstellten, Opportunisten des verhassten Establishments zu sein. Es war ihr Kampf, und sie haben ihn nicht verloren, wie die Auflösung des Flügels suggerieren könnte. Sie führen ihn unerbittlich weiter.

      Innerhalb der AfD hat der Flügel in den letzten fünf Jahren eigene Strukturen aufgebaut. Er hat jährlich sein Kyffhäusertreffen abgehalten, eine unter den Sympathisanten beliebte Veranstaltung, bei der etwa Kalbitz im Juni 2018 vor einer riesigen Deutschlandfahne von der Bühne gebrüllt hat: »Masseneinwanderung ist Messereinwanderung!« Die Antwort der Anhänger: »Abschieben! Abschieben!«

      Der Flügel hat verdiente Parteifreunde mit einem eigenen Orden geehrt, dem »Flügelabzeichen«. Er hat über eigene Obleute verfügt, die regional für ihn geworben haben. Er hatte eine eigene Website, ein Logo, einen Online-Shop, über den Flügel-Fanartikel verkauft wurden: Anstecker mit Logo, Tassen, Taschen und Shirts mit Höckes Konterfei, dazu der Spruch: »Höcke hatte recht!«

      Das formelle Ende des Flügels ist nicht nur nach Meinung führender Verfassungsschützer eine »Scheinauflösung«, denn die meisten Parteigänger, die für das Netzwerk standen und stehen, sind nach wie vor da. Vor allem ihr Anführer Björn Höcke.

      Der Kult um Höcke hat in den vergangenen Jahren teilweise sektenähnliche Ausmaße angenommen. Beim Kyffhäusertreffen 2019 wurde vor seiner Rede ein Einspieler über den »Menschen Björn Höcke« gezeigt, in dem er Schafe füttert, durch den deutschen Herbstwald joggt oder von Flügel-Freunden gefeiert wird. Höcke, der Messias. Derweil operierte Kalbitz in dessen Windschatten und sorgte dafür, dass der Flügel innerhalb der AfD immer mächtiger wurde.

      Aber auch außerhalb der Partei scharen die Flügelisten Unterstützer um sich, etwa Götz Kubitschek, den bestens vernetzten Strategen der Neuen Rechten. Inzwischen gibt es Vereine, Verlage, Stiftungen, Netzwerke und Thinktanks, die alle dasselbe Ziel haben: eine Diskursverschiebung nach rechts, sowohl innerhalb der AfD als auch in ganz Deutschland. Dieses Ziel verfolgen die Vertreter der Neuen Rechten nicht mit Nazi-Parolen. Statt »Ausländer raus« sprechen sie von »Remigration«. Der Kern der Aussage ist gleich, aber die neue Verpackung lässt auch Interessenten genauer hinsehen, die sich zuvor vielleicht abgewendet hätten.

      Egal ob bei Pegida-Demonstrationen, Festen der Identitären Bewegung oder beim »Neuen Hambacher Fest«, das von außen völlig harmlos wirkt – überall sind auch AfDler zugegen, die dem Flügel zuzurechnen sind. Während der Entstehung dieses Buches versuchen führende Flügelisten, sich an die Spitze der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu setzen. Die vor allem von Verschwörungsmystikern genährten Demonstrationen richten sich in erster Linie gegen die nach Meinung ihrer Protagonisten zu harten Schutzmaßnahmen – aber in ihrer Tiefe gegen den liberalen Staat.

      Zwar spielt die AfD in dieser neuen Protestwelle nicht die erste Geige, aber die durch die Corona-Krise aufkommende Wirtschaftskrise wird ihr in die Hände spielen. Auch 2015, im Jahr der »Flüchtlingswelle«, hat zu Beginn noch die Willkommenskultur die Schlagzeilen dominiert. Wirtschaftliche Folgen und gesellschaftliche Verwerfungen könnten die radikalen Kreise in der AfD aber auch diesmal langfristig profitieren lassen.

      Die Ereignisse aus dem Frühjahr 2020 sind zunächst einmal ein Sieg für das gemäßigte Parteilager, allerdings gab es auch in dieser Phase starke Schwankungen im Machtgefüge.

      Als im März 2020 die Auflösung des Flügels beschlossen wurde, sprach Parteichef Jörg Meuthen zunächst öffentlich davon, dessen Strukturen »zerschlagen« zu wollen. Wenig später befürwortete er die Trennung des Flügels vom »bürgerlich-konservativen Teil der AfD«, wofür er innerhalb der Partei scharf kritisiert wurde. Am Ende musste der AfD-Chef auf Druck seiner Parteikollegen öffentlich eingestehen, einen »großen Fehler« gemacht zu haben. Der Parteichef wurde vom Flügel zurechtgestutzt.

      Doch Meuthen holte erneut zum Schlag aus. So stimmte der AfD-Bundesvorstand auf sein Betreiben hin im Mai für den Parteiausschluss von Andreas Kalbitz. Dass sein überraschender Rauswurf einen gewaltigen Machtkampf zwischen beiden Lagern auslösen würde, war abzusehen – und dieser Kampf zeigt ganz klar: Die gute alte Zeit der propagierten Geschlossenheit innerhalb der Partei, die es so nie gegeben hat, ist vorbei. Ohnehin haben die Flügelisten sich bereits so tief in die Strukturen der AfD eingenistet, dass sie nicht einfach entfernt werden können, ohne dass die Partei auseinanderfliegt. Temporäre Punktsiege der einen oder der anderen Seite werden daran nichts ändern.

      Doch wie ist es überhaupt so weit gekommen, dass der Flügel die ganze AfD infiltrieren konnte? Wer sind seine parteiinternen Protagonisten und wer seine außerparlamentarischen Unterstützer? Wie feierte er seine internen Feste? Was sagen Parteiaussteiger heute über den Flügel? Und wer sind überhaupt die Flügelisten aus der zweiten Reihe, die hinter Höcke die AfD radikalisieren? Antworten auf diese Fragen sollen die nachfolgenden Kapitel liefern. Denn auch wenn er sich formell aufgelöst hat: Der Flügel schlägt weiter.

      Einblicke von innen

      Auf dem Flügelfest in Binz

      Vor dem Hotel Arkona in Binz weht an einem kalten Novembertag die Deutschlandflagge. In Kürze soll dort das erste sogenannte »Flügelfest« von Mecklenburg-Vorpommern steigen. Die Presse darf nicht rein – sowieso sind nur geladene Gäste willkommen. Der Flügel will lieber unter sich bleiben.

      Vorbei an Absperrungen der Polizei laufen Flügel-Anhänger auf das Hotel zu. Viele haben sich extra schick gemacht. Sie werden aus etwa 500 Kehlen ausgebuht, so viele Demonstranten sind gekommen. Sie sind deutlich einfacher gekleidet und auch ihre Botschaft ist eine andere. Sie skandieren: »Rügen ist bunt!«

      Im Hotel wird es auch schnell laut, vor allem als Andreas Kalbitz ans Rednerpult tritt. Er ist im Angriffsmodus. »Das sind diese wohlstandsverwahrlosten, gentrifizierten, metrosexuellen Wesen, die sich durch Berlin-Friedrichshain quälen …«, ruft Kalbitz höhnisch und zeigt nach draußen, zu den Demonstranten. Geklatsche. »Jawoll!«, schallt es aus dem Saal. »… und sich jeden Morgen neue Geschlechtskugeln …« Satzabbruch. Gelächter. Geklatsche. Kalbitz’ Worte donnern durch die Lautsprecher, er hat seinen Saal im Griff, etwa 200 Menschen sind gekommen. Als »Degenerationsausschlag« beschimpft Kalbitz die Demonstranten weiter. Der werde sich aber wieder »nivellieren«, da sei er »völlig zuversichtlich«. Applaus.

      Kalbitz erzählt, dass er mal im Bundestag mit Claudia Roth »zu zweit im Aufzug« gefahren sei. Geraune. Kalbitz legt eine Kunstpause ein, nickt selbstsicher. »Da hätte ich Geschichte schreiben können.« Mehr Geraune. Gelächter. Großer Spaß. Kalbitz fügt hinzu: »Aber sowas würde ich ja nicht machen.« Diese Aussagen fallen knapp ein halbes Jahr nach dem Mord an Walter Lübcke. Kalbitz’ Spruch ist ein pseudo-scherzhaft angedeuteter Anschlag auf eine Politikerin. Eine Frau im Saal quietscht vor Vergnügen.

      Das Fest auf Rügen heißt »Königsstuhltreffen«. Es findet in mal wieder bewegten Zeiten für die AfD statt. Die drei Landtagswahlen im Jahr 2019, in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, haben zwar starke Ergebnisse gebracht, aber nicht die erhofften Wahlsiege. Trotzdem sehen sich die Anhänger des Flügels auf dem Vormarsch, da sie maßgeblich für diese Erfolge verantwortlich sind. Sie sind das Kraftzentrum einer erstarkenden AfD. Mit welcher Hybris sie ans Werk gehen und was sie mit der AfD und später mit Deutschland vorhaben, unter welchem Namen auch immer, ist an diesem Tag in Binz gut zu beobachten. Gewöhnlich gilt Kalbitz als die unausgesprochene Nummer zwei des Flügels. Der Star heißt Björn Höcke, auch in Binz, wo er als Letzter und am längsten sprechen darf. Während der übrigen Auftritte reist Höcke noch an. Er ist der Headliner bei diesem Festival. Wer aber den Tag im Hotel Arkona verbringt, gewinnt einen anderen Blick auf Kalbitz, auf Höcke und auch auf das Machtgefüge innerhalb ihrer Gruppierung.

      Kalbitz ist zu diesem Zeitpunkt AfD-Chef von Brandenburg. Er war früher Fallschirmjäger bei der Bundeswehr, und damit niemand seinen Hintergrund vergisst, erinnert er bei seiner Rede die Zuhörer mit militärisch-martialischen Zitaten daran, wie etwa: »Der Frieden ist nur die Abwesenheit von Krieg!«


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