Ihr Kampf. Eva Kienholz
Spiele«. »Wir haben die Union gelockt und wir haben dort zu einem Gärungsprozess beigetragen.« Bizarr wird Höckes Rede, als er darüber referiert, warum er kein Faschist sein könne, wie böse Zungen immer wieder behaupten würden. Er sei schließlich ein »großer Freund eines der südlichsten deutschen Kulturräume – nämlich Südtirols«.
Höcke spricht über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der »massive Regierungspropaganda« betreibe, und über staatliche Hilfen in Höhe von 40 Millionen Euro für »notleidende Tageszeitungen«. Aus dem Saal ruft jemand: »Heil!« Höcke fragt nach: »Bitte?« Jemand antwortet: »Bundesminister Heil!« – mit starker Betonung auf dem Heil. »Ja, Bundesminister Heil war’s gewesen«, sagt Höcke amüsiert.
Doch verglichen mit Kalbitz wirkt Höcke müde, verkopft. Vielleicht war die Anreise aus Thüringen zu lang, vielleicht auch die Theorien der linken, rechten und zentrierten Soziologen zu schwer. Der Kern seines Problems aber dürfte darin liegen, dass Höcke jenen gefallen will, die er verachtet – also dem linksliberalen Establishment. Das hat er mit Thilo Sarrazin gemein. Offensichtlich hat niemand in dem Saal des Arkona-Hotels von jenen Denkern gehört, die Höcke bespricht, noch glaubt hier irgendwer, dass es so etwas geben sollte: Denker. Linke. Linke Denker.
Während Höcke noch anreiste, war Kalbitz schon in Binz, er hat weiter seine Netze geknüpft. Ohne es zu merken, ist Höcke innerhalb des Flügels selbst der vielbeschäftigte Anywhere geworden, im Gegensatz zu Kalbitz, dem brachial-völkischen Somewhere. Höcke ist das Hirn, Kalbitz aber die Faust des Flügels.
Beim Flügelfest erklingt am Ende die deutsche Nationalhymne. Burschen tragen die Fahnen wieder aus dem Saal. Einer aus dem Publikum ruft: »Fahne hoch! Die Fahne hoch!« Einige lachen, andere sagen es dem Mann nach. Sein Nebenmann ruft: »Aber textsicher sind sie alle!« »Die Fahne hoch!« war der Titel, unter dem die NSDAP-Parteihymne, das »Horst-Wessel-Lied«, zum ersten Mal abgedruckt wurde. Geraune. Gelächter. Großer Spaß.
Über den Flügel hinaus
Was er war, was bleiben wird
Auf dem »Flügelfest« in Binz im November 2019 lagen auf den Tischen mehrseitig gefaltete Flyer. Vorne zeigten sie einen in Stein gemeißelten Kaiser Barbarossa, Teil des Kyffhäuserdenkmals zu Ehren Wilhelms I. Es ist bekannt, dass vor allem Björn Höcke ein großer Anhänger solcher Symbolik ist. Höcke spricht gerne über den schlafenden Kaiser Barbarossa, den Rotbart, der im 12. Jahrhundert geherrscht hat und laut der Kyffhäusersage im rechten Moment erwachen, das Deutsche Reich erlösen und zu neuer Stärke führen soll. All das soll Wilhelm I. 1871 mit der Reichsgründung getan haben, weshalb das Kyffhäuserdenkmal auch ihm gewidmet ist, dem von Zeitgenossen so bezeichneten »Weißbart auf des Rotbarts Thron«.
In seinem 2018 erschienenen Buch Nie zweimal in denselben Fluss schreibt Höcke: »Die Sehnsucht der Deutschen nach einer geschichtlichen Figur, welche einst die Wunden im Volk wieder heilt, die Zerrissenheit überwindet und die Dinge in Ordnung bringt, ist tief in unserer Seele verankert, davon bin ich überzeugt.« Unter dem zornig dreinblickenden Barbarossa stand auf dem Flyer: »Der Flügel. Damit die AfD eine echte Alternative bleibt.«
Der Flügel selbst verstand sich laut Binzer Veranstaltungsflyer als »eine innerparteiliche Wertegemeinschaft, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Gründungsideale der AfD gegen eine schleichende Korrumpierung durch Macht- und Karriereinteressen zu verteidigen.« Von außen betrachtet galt der Flügel als Sammelbecken radikaler und völkischer Kräfte – und das in einer Partei, die den Diskurs in Deutschland in den vergangenen Jahren weit nach rechts verschoben hat. Wenn es um gesellschaftliche Tabubrüche ging, um eine neue politische Kultur im Land, die mitunter an eine lange überwundene Epoche erinnerte, waren es zumeist Flügel-Leute, die dahintersteckten. Bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat vor allem immer wieder Höcke, etwa mit seiner Forderung einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« – im Umgang mit der NS-Zeit.
Höcke war nach außen hin der Frontmann des Flügels und führt sein Netzwerk auch heute, nach der formellen Auflösung, weiter an. Der thüringische AfD-Vorsitzende spaltet seit langem die Geister: Für seine Anhänger ist er ein »Nationalromantiker«, der nur das Beste für seine geliebte Heimat möchte, für seine Gegner ist er Repräsentant einer rechtsextremen Partei, die er mit radikalen Mitteln zum Erfolg führen will. Stand er 2018 noch kurz davor, aus der AfD zu fliegen, gilt er inzwischen als einer ihrer Hauptprotagonisten – und das obwohl er noch nie für einen Posten im Parteivorstand kandidiert hat.
Da Höcke vor allem in den Westverbänden der AfD Feinde hat, hält er wohl das Risiko, nicht gewählt zu werden, für zu groß. Im Osten Deutschlands, insbesondere in »seinem« Bundesland Thüringen, in dem die AfD seit März 2020 als »Verdachtsfall« gilt, sieht die Sache anders aus. Da hat Höcke unter den Mitgliedern und Wählern fast einen Heldenstatus inne, mit dem er beste Wahlergebnisse für die AfD einheimst – wie etwa bei den Thüringer Landtagswahlen im Oktober 2019, als die AfD mit 23,4 Prozent zweitstärkste Kraft wurde, hinter den Linken und vor der CDU. Daraufhin verortete ihn der damalige Vorsitzende Alexander Gauland in der »Mitte der Partei«. Höcke ist aus der AfD heute kaum noch wegzudenken.
Viele Unterstützer, wenig Beweise
Da es kein offizielles Mitgliederverzeichnis des Flügels gab, war bis zuletzt nicht bekannt, wie viele AfDler sich der Gruppierung zugehörig fühlten. Auch der Verfassungsschutz hat sich in der Vergangenheit mit dieser Problematik befasst. Sein Ergebnis: Dem Flügel ist zuzurechnen, wer bei Flügel-Veranstaltungen als Redner auftritt oder häufig daran teilnimmt, oder wer Appelle wie den »Stuttgarter Aufruf« unterzeichnet hat, mit dem sich der radikale Teil der AfD gegen die Parteispitze stellte: »Wir widersetzen uns allen Denk- und Sprechverboten innerhalb der Partei«, lautete der zentrale Satz des Papiers. Treibende Kraft hinter dem Aufruf vom Oktober 2018 war die baden-württembergische Landtagsabgeordnete Christina Baum. Sie war zudem »Obfrau« des Flügels im Südwesten Deutschlands.
Was die Zahlen angeht, gibt es verschiedene Schätzungen, die sich zwischen 7000 und 15000 Mitgliedern bewegen. Im Januar 2019 mutmaßte Alexander Gauland, dass etwa 40 Prozent der AfD-Mitglieder den Flügel unterstützten. Jörg Meuthen wiederum sprach im Sommer 2019 von »höchstens 20 Prozent« der etwa 35000 Parteimitglieder. An dieser Prozentzahl orientierte sich auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, weshalb die Behörde von etwa 7000 Unterstützern ausging. Sie und die Junge Alternative (JA) wurden 2019 zum ersten Mal in der Rechtsextremismus-Statistik berücksichtigt, wodurch die Zahl der Rechtsextremisten plötzlich um etwa ein Drittel stieg.
Wie viele Unterstützer der Flügel auch immer hatte, sie waren stets in der Lage, das Machtgefüge innerhalb der AfD zu beeinflussen. Das zeigte sich spätestens beim Parteitag im November 2019. Flügel-Kritiker wie Kay Gottschalk oder Georg Pazderski verloren ihre Vorstandsposten, Flügelisten wie Stephan Brandner wurden nach oben gespült – allen voran Tino Chrupalla, der schon bei Flügel-Veranstaltungen aufgetreten ist und als Sympathisant galt. Seine Wahl zum Nachfolger von Alexander Gauland brachte den Flügel noch deutlicher ins Zentrum der parteiinternen Macht.
Wie sehr Chrupalla dem Flügel zugewandt ist, machte er später in der »Causa Kalbitz« deutlich. Da schrieb Meuthen nach dem Rauswurf einen Rundbrief an alle Parteimitglieder, in dem er seine Haltung gegen den Flügelisten ausführlich erklärte. Chrupalla, der für Kalbitz’ Verbleib gestimmt hatte, hängte dem Schreiben einen eigenen Brief an, in dem er die gegenteilige Position einnahm. Mehr Gegensatz zwischen zwei gleichgestellten Chefs ein und derselben Partei geht kaum.
Auch die Spitzenfunktionäre kommen kaum noch an den Rechtsaußen der Partei vorbei. Während sich Gauland schon immer hinter Höcke und Kalbitz gestellt hat, gibt es andere, die in ihrem Umgang mit dem Flügel einem Chamäleon gleichen: An ihnen ist abzulesen, wie mächtig er gerade ist.
Die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel ist dafür ein gutes Beispiel. Hatte sie noch Anfang 2017 unter Frauke Petry Höckes rechtsnationalen Kurs kritisiert und seinen Parteiausschluss unterstützt, schlug sie kurze Zeit später beim Parteitag andere Töne an. Nachdem Petry eine schwere Niederlage erlitten hatte und Weidel gemeinsam mit Gauland als Spitzenduo für die bevorstehenden Bundestagswahlen aufgestellt worden war, äußerte sie sich plötzlich ganz anders.