Der kleine Fürst Jubiläumsbox 6 – Adelsroman. Viola Maybach
der Rahmen, in dem Sara sich wohl fühlte. Später wollte sie ein eigenes Geschäft haben, aber zuerst brauchte sie Erfahrung. Und da sie sich schon immer für Mode und alles, was damit zusammenhing, interessiert hatte, war sie tatsächlich eine erstklassige Verkäuferin geworden. Sie hatte Geschmack, kannte sich mit der Ware, die sie verkaufte, aus, und konnte gut beraten. Außerdem sah sie ausgesprochen hübsch aus, ohne das während der Arbeitszeit allzu sehr herauszustreichen.
Das war die erste Lektion, die ihre Chefin ihr erteilt hatte: »Wenn Sie hier als Schönheitskönigin auftreten, Sara, machen Sie einen Fehler. Das entmutigt unsere Kundinnen, die weniger schön sind. Nehmen Sie sich zurück.« An diesen Rat hielt sie sich. Es reichte ja, wenn sie sich in ihrer Freizeit zurechtmachte, um ihre Freundinnen auszustechen!
Zur Mittagspause schloss sie das Geschäft ab, ihre Chefin war schon vorher gegangen, weil es sehr ruhig gewesen war. Langsam bummelte Sara die elegante Geschäftsstraße entlang. Sie hatte Hunger, würde aber nicht mehr als einen Salat essen. Wenn man schlank bleiben wollte, musste man Opfer bringen. Kurz dachte sie voller Neid an ihre jüngere Schwester Charly, die in der Regel für drei aß, ohne je ein Gramm zuzunehmen. Das war aber auch das Einzige, worum man sie beneiden musste, fand Sara. Unmöglicher als Charly konnte eine Frau nicht aussehen.
Vor ihr fuhr ein Radfahrer so dicht an einer alten Dame vorbei, dass er sie streifte. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre unweigerlich gestürzt, wenn ihr nicht gleich zwei Menschen zu Hilfe geeilt wären: Sara von der einen und ein sehr gut aussehender dunkelhaariger junger Mann von der anderen Seite.
Er rief dem Radfahrer zornig eine Beschimpfung nach, dann entschuldigte er sich mit charmantem Lächeln und fragte die alte Dame: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja, vielen Dank«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang ein wenig zittrig. »Es ist nur immer so ein Schreck…«
»Wollen Sie sich einen Augenblick setzen?«, fragte Sara. »Sehen Sie nur, da vorn ist eine Bank.« Sie war normalerweise nicht unbedingt der hilfsbereite Typ, aber in diesem Fall hatte sie ganz automatisch gehandelt, damit die Frau nicht stürzte. Jetzt allerdings war es eher dieser attraktive Dunkelhaarige mit den grünen Augen, der sie daran hinderte, ihren Weg fortzusetzen.
Er schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln, das sie bereitwillig erwiderte. Gemeinsam brachten sie die Frau zu der Bank, wo sie sich noch einmal bei ihnen bedankte.
»Das war die gute Tat für heute«, sagte der Dunkelhaarige im Weggehen zu Sara. »Aber lassen Sie sich nur nicht hindern, ihr noch weitere folgen zu lassen, falls es sich anbietet.«
»Danke, gleichfalls«, erwiderte Sara. Warum fragte er sie nicht, wie sie hieß und wo sie wohnte? Wie sollten sie einander wiedertreffen, wenn er nichts von ihr wusste? Noch während sie überlegte, ob sie von sich aus die Initiative ergreifen und sich vorstellen sollte, sagte eine Stimme hinter ihr: »Guten Tag, Frau von Isebing. Ich schaue nachher mal bei Ihnen vorbei!«
Sie drehte sich um und erkannte eine gute Kundin, die sie nun ebenfalls mit Namen begrüßte. Als sie sich danach wieder dem Dunkelhaarigen zuwandte, lag auf dessen Gesicht ein amüsiertes Lächeln, das sie sich nicht erklären konnte. »Was ist so komisch?«, fragte sie.
Sofort blickte er ganz ernst. »Sie werden es erfahren, aber nicht heute«, antwortete er. »Und jetzt muss ich mich leider verabschieden, ich bin in Eile. Auf Wiedersehen, einen schönen Tag noch!« Er nickte ihr noch einmal freundlich zu und ging.
Sie sah ihm enttäuscht nach, während sie darüber nachdachte, was er mit seinen letzten Worten hatte sagen wollen – bis ihr einfiel, dass er ja ihren Namen gehört haben musste. Also konnte er auch ihre Telefonnummer herausbekommen und sie anrufen…
Plötzlich wieder bester Laune, machte sie sich auf den Weg zur Salatbar. Diese Woche hatte wahrhaftig gut angefangen!
*
»Und wenn Sie eine Kreuzfahrt unternähmen, Frau von Isebing?«, fragte Robert Kahrmann, nachdem er Helena von einem Besuch bei einer Freundin abgeholt hatte. »Das würde Sie auf andere Gedanken bringen, meinen Sie nicht?«
Sie hatte zuvor erneut über ihre Einsamkeit geklagt, die auch durch die Gespräche mit ihrer Freundin nicht gemildert worden war.
»Ich hasse Kreuzfahrten«, erklärte sie unverblümt. »Da sitzt man auf einem Schiff und kann nicht runter, selbst wenn man möchte. Das ist nichts für mich, Robert. Ich brauche meine Freiheit, sonst werde ich verrückt.«
»Dann eben eine andere Reise«, meinte er. »Da hat man immer Gesellschaft.«
»Ich glaube, es geht nicht nur um Gesellschaft, Robert«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich brauche jemanden um mich, mit dem ich mich über alles austauschen kann, was mich bewegt. Mein Mann war so ein Mensch, er fehlt mir noch immer.«
»Mir auch«, erklärte er. »Wissen Sie noch, wie er mich einmal fürchterlich angeschnauzt hat, weil er dachte, ich hätte eine Beule in den Wagen gefahren und wäre zu feige, zu meiner Tat zu stehen?«
Helena musste lachen. »Natürlich weiß ich das noch! Es hat sich dann herausgestellt, dass es einer von unseren Gästen war, der nachts noch eine kleine Spritzfahrt unternommen hat – heimlich. Aber mein Mann hat sich bei dir entschuldigt, oder?«
»Nach allen Regeln der Kunst«, erklärte Robert. Er war froh, dass es ihm gelungen war, Helena abzulenken. In letzter Zeit machte er sich Sorgen um sie, weil sie immer öfter den Kopf hängen ließ. Das kannte er nicht von ihr, sie war eigentlich eine sehr couragierte Person, die sich nicht leicht unterkriegen ließ.
Er half ihr aus dem Wagen und geleitete sie bis zum Haus, obwohl sie versuchte, ihn daran zu hindern. »Behandele mich bitte nicht, als wäre ich krank, Robert!«
»Das tue ich nicht«, behauptete er, »ich bin nur vorsichtig.«
»Übervorsichtig!«, erklärte sie. »Nun lass mich schon los, du musst doch noch den Wagen in die Garage fahren.«
Er hatte den Wagen noch nicht erreicht, als er einen spitzen Schrei aus dem Inneren des Hauses hörte, gefolgt von lautem Gepolter. Erschrocken machte er auf dem Absatz kehrt und rannte zur Haustür, die noch offen stand.
Helena von Isebing lag am Fuß der breiten Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
»Frau von Isebing, was ist denn passiert?«, fragte Robert, als er versuchte, ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie schrie jedoch auf und sackte wieder zusammen.
Tränen standen in ihren Augen. »Ich war schon halb oben, hatte aber etwas vergessen«, flüsterte sie. »Und dann muss ich eine Stufe übersehen haben, als ich wieder nach unten gehen wollte – ich bin die halbe Treppe hinuntergefallen.«
Robert holte ihr ein Kissen und eine Decke, damit sie besser liegen konnte, dann rief er die Notrufnummer an. Eine Stunde später wussten sie, was passiert war: Helena hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen.
*
»Wie geht es ihr?«, fragte Marianne am nächsten Tag, als Ludwig nach Hause zurückkehrte. Er war sofort losgefahren, um seine Mutter im Krankenhaus zu besuchen, nachdem Robert Kahrmann ihm mitgeteilt hatte, was passiert war.
»Wie heißt die Floskel? ›Den Umständen entsprechend gut‹ – das ist jedenfalls das, was die Ärzte sagen. Jetzt liegt sie erst einmal im Krankenhaus, aber da will sie natürlich nicht bleiben, Nana. Sie hat geweint, ich erkenne sie kaum wieder. Sie wirkt so mutlos – so, als wäre nach diesem Sturz ihr Leben zu Ende. Herr Kahrmann sagte mir, dass das schon eine ganze Zeitlang so geht. Sie vermisst meinen Vater, sie ist zu viel allein…«
»Wenn wir Platz hätten, könnte sie zu uns ziehen«, sagte Marianne zögernd. »Ich weiß zwar nicht, ob das gut für uns alle wäre, aber…«
»Nein, das wäre es nicht«, erklärte Ludwig. »Du kennst doch meine Mutter, sie ist viel zu eigensinnig. Und wenn nicht alles nach ihrem Kopf geht, kann sie ganz schön grantig werden. Sie sagt das ja selbst.«
»Aber wenn sie sich einsam fühlt, müssen wir uns etwas einfallen lassen, Ludwig. Das