Der kleine Fürst Jubiläumsbox 6 – Adelsroman. Viola Maybach
kam herein. »Wie geht es Omi?«, fragte sie.
Ludwig wiederholte, was er bereits Marianne erzählt hatte und schloss mit den Worten: »Vielleicht kann sie eine Zeitlang zu uns kommen, so lange sie bettlägerig ist. Ich muss darüber noch einmal nachdenken.«
»Omi hierher?«, fragte Charlotta. »Nie im Leben, Papa. Eher geht sie in den Hungerstreik. Sie liebt ihr Haus und will da nicht weg.«
»Kann sein, dass du Recht hast«, gab er zu. »Noch haben wir ja ein wenig Zeit zum Nachdenken. Sie muss mindestens zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, so lange können wir ohnehin nichts tun.« Er stockte. »Was ist mit Armin?«, fragte er seine Frau. »Meinst du, ich sollte ihm absagen?«
»Warum fragst du ihn nicht? Du wirst sicher öfter mal zu deiner Mutter fahren zwischendurch, aber du und er, ihr müsst ja nicht ständig zusammenhocken, oder? Von mir aus kann er ruhig kommen – und für dich wäre es vielleicht auch nicht schlecht, wenn du ein wenig Abwechslung hättest. Du hast dich doch auf diesen Besuch gefreut.«
»Das schon, ja, aber ich rufe ihn doch lieber an und schildere ihm die Lage.«
»Ich würde Omi auch gern besuchen«, erklärte Charlotta, als ihr Vater zum Telefonieren ins Nebenzimmer gegangen war. »Von der Arbeit her müsste das eigentlich gehen.«
»Deine Großmutter würde sich sicherlich sehr freuen«, meinte Marianne. »Und vielleicht könntest du bei der Gelegenheit doch einmal vorfühlen, ob sie bereit wäre, wenigstens einige Wochen zu uns zu kommen – so lange, bis sie wieder auf den Beinen ist.«
»Fragen kann ich sie schon, Mama, aber sie wird ablehnen.«
Ludwig kehrte zurück. »Armin möchte auf jeden Fall kommen, wenn es uns nicht stört. Es bleibt also bei unserer Verabredung.«
Marianne lächelte ihm zu. »Das ist gut«, sagte sie. »Charly will zu deiner Mutter, ihr solltet darüber reden, an welchem Tag es am günstigsten wäre.«
»Wenn euer Besuch kommt«, sagte Charlotta schnell. »Das fände ich am besten.«
Sie wartete die Reaktion ihrer Eltern nicht ab, sondern verließ das Haus wieder. Gleich darauf sahen sie sie mit den für sie typischen langen Schritten über den Hof marschieren.
»Darüber hatte sie offenbar schon vorher nachgedacht«, bemerkte Ludwig. »Na ja, mir ist es recht. Dann haben wir wenigstens ein paar ruhige Stunden mit Armin, und du kannst ihn kennenlernen, ohne wegen Charly in Sorge sein zu müssen.«
»Ach, ich bin nicht mehr in Sorge, Ludwig. Sie wird sich unmöglich benehmen, und wir werden es aushalten müssen – so sehe ich das. Wenn dein junger Freund nicht allzu empfindlich ist, wird er sie auch ertragen, oder?«
Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss. Das war seine Art, ihr für ihre Gelassenheit zu danken.
*
Rosalie von Thaden stutzte, als sie im Vorübergehen zufällig den Namen »Isebing« las. Ein Archäologe namens Bernhard von Isebing hielt einen Vortrag über Ausgrabungen in Asien – das Thema interessierte sie. Noch mehr aber interessierte sie der Mann, der ja wohl eines von diesen vielen Kindern sein musste, die Armins neuer Freund Ludwig hatte. Oder vielleicht auch ein Bruder?
Sie beschloss, sich den Vortrag anzuhören. Es konnte ja nicht schaden, sich auf diese Weise zumindest von einem der Familienmitglieder ein Bild zu machen. Bei dem Gedanken, was ihr Bruder dazu gesagt hätte, musste sie lachen. Es hätte ihm, da war sie sicher, nicht gepasst. »Du spionierst!«, hätte er vermutlich gesagt.
Der Vortrag war erst in einigen Stunden, so dass ihr Zeit genug blieb, in Ruhe alles zu erledigen, was sie sich vorgenommen hatte. Sie arbeitete in einem Übersetzerbüro, das im Augenblick leider nicht viele Aufträge zu vergeben hatte. Zum Glück war sie nicht dringend auf regelmäßige Einnahmen angewiesen, aber sie war gern unabhängig und verdiente ihr eigenes Geld. Außerdem machte ihr die Arbeit Spaß. Sie träumte davon, eines Tages einen Roman zu übersetzen, der dann ein Welterfolg wurde.
Sie rief sich zur Ordnung. Im Augenblick musste sie einkaufen, das war viel wichtiger! Sie konzentrierte sich also, arbeitete ihren Zettel ab und kehrte nach Hause zurück. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fand sie plötzlich, dass sie sich für den Vortrag von Bernhard von Isebing ruhig ein wenig hübsch machen sollte – warum auch nicht? Natürlich würde sie kein Wort mit ihm wechseln, aber es schadete ja nicht, wenn man gut aussah.
Eine halbe Stunde später verließ sie in bester Laune ihre Wohnung und machte sich auf den Weg zur Universität, denn dort sollte der Vortrag gehalten werden. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen, aber es hatte sich wenig verändert, und so fand sie sich schnell zurecht. Der angekündigte Hörsaal war bereits erstaunlich gefüllt, als sie eintraf. Verblüfft sah sie sich um. Damit hatte sie nicht gerechnet. Normalerweise fanden sich bei solchen »exotischen« Themen doch höchstens ein Dutzend Leute ein! Sie sah, dass ganz vorn noch mehrere Plätze frei waren, und so setzte sie sich dorthin.
»Sind Sie auch ein Fan von ihm?«, raunte ihr eine noch sehr junge Frau zu, die gleich darauf neben ihr Platz nahm.
Rosalie nahm an, dass sie noch studierte. »Von wem?«, fragte sie, obwohl sie sich natürlich denken konnte, wer gemeint war.
»Von Ise natürlich«, hauchte die Frau. Auf Rosalies fragenden Blick hin setzte sie erklärend hinzu: »Wir nennen ihn hier so, Herrn von Isebing, meine ich. Er ist der beste Dozent, den wir je hatten, das schwöre ich Ihnen – und alle Frauen sind in ihn verliebt.«
»Ich kenne ihn bisher nicht«, erklärte Rosalie. »Ich interessiere mich für seinen Vortrag.«
Ihre Nachbarin kicherte. »Echt? Da sind Sie wahrscheinlich die Einzige. Alle anderen kommen nur, weil er so sexy ist.«
Allmählich wurde Rosalie neugierig. Das musste ja ein toller Mann sein!
Als Bernhard von Isebing gleich darauf das Podium betrat, war sie zuerst enttäuscht. »Sexy?« Auffällig gut aussehend war er jedenfalls nicht. Sie hatte sich nach den Beschreibungen ihrer Nachbarin eine Art strahlenden Leinwandhelden vorgestellt und sah nun einen normalen Mann vor sich. Er sah natürlich gut aus, aber nicht blendend. Auch seine Statur fand sie eher normal – sie konnte an ihm beim besten Willen nichts Besonderes entdecken.
Das änderte sich schlagartig, als er anfing zu sprechen. Vom ersten Augenblick an war sie wie elektrisiert, und sie hätte noch nicht einmal sagen können, ob es an seiner Stimme oder an den eleganten Bewegungen seiner Hände lag, mit denen er versuchte, das, was er gerade erzählte, zu unterstreichen. Jetzt endlich verstand sie, was ihre Nachbarin gemeint hatte. Ja, »Ise« war wirklich ein außerordentlich attraktiver Mann, der zudem sein Thema beherrschte. Sein Vortrag war klug aufgebaut, er brachte Spannung hinein und sogar einen gewissen Witz, er schaffte es, seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf eine interessante Reise zu nehmen. Sie folgten ihm willig, und als er schließlich endete, wurde er zum Dank mit lang anhaltendem Geklopfe auf die Pulte bedacht.
Rosalie war wie betäubt. Sie sah, wie eine Traube von jungen Frauen sich vorn um den Dozenten scharte, hörte ihre aufgeregten Stimmen, die ihn etwas fragten, hörte ihn ruhig antworten, während sie selbst wie angeklebt auf ihrem Stuhl sitzen blieb. Ihre Nachbarin war ebenfalls nach vorn gestürzt, um dem verehrten Dozenten wenigstens für einige Minuten nahe zu sein und vielleicht sogar ein Lächeln von ihm zu ergattern, und plötzlich wünschte sich Rosalie, zu ihnen zu gehören, denn sie hätte jetzt auch gern da vorn gestanden…
An dieser Stelle erhob sie sich eilig. Es wurde höchste Zeit, dass sie hier verschwand, bevor sie sich zum Narren machte und wie die Studentinnen einen jungen Dozenten anhimmelte. Aus dem Alter war sie wahrhaftig heraus – wenn auch noch nicht lange…
Während sie sich dem Ausgang näherte, spürte sie das unwiderstehliche Verlangen, sich noch einmal umzudrehen und einen letzten Blick auf Bernhard von Isebing zu werfen. Sie tat es – genau in dem Moment, als er sich von seinen Verehrerinnen verabschiedet hatte und in ihre Richtung sah.
Ihr Herz blieb stehen. Dann drehte sie sich wieder um und lief davon.
*