Der kleine Fürst Jubiläumsbox 6 – Adelsroman. Viola Maybach
Wiehern, das aus einem der Pferdeställe drang, absah. In seiner Vorstellung hatte Gut Isebing immer gewimmelt von Menschen, es war laut und ziemlich unordentlich zugegangen.
Eine schmale Frau kam aus dem Haus, mit hellen Haaren, die sie locker aufgesteckt hatte und einem hübschen, wachen Gesicht. Sie lächelte freundlich, als sie sagte: »Sie müssen Armin von Thaden sein, der Besucher, auf den mein Mann sich schon so freut. Ich bin Marianne von Isebing.«
Er staunte sie unverhohlen an – so lange, dass sie schließlich verwundert fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau«, bat Armin, »aber ich hatte dermaßen falsche Vorstellungen von allem hier – von dem Gut, von Ihnen…«
»Von mir?«, fragte sie. »Wieso das denn?«
Er lächelte verlegen. »Ich wusste ja nur, dass Sie sieben Kinder zur Welt gebracht haben«, erklärte er. »Und da habe ich halt gedacht, das…, na ja, das würde man Ihnen ansehen.«
Sie lachte auf, so hell und vergnügt wie ein junges Mädchen. »Ich will gar nicht weiter fragen«, erwiderte sie. »Ich kann mir auch so vorstellen, was Sie sich gedacht haben. Aber trösten Sie sich: Sie sind nicht der Einzige, dem es so geht. Kommen Sie bitte herein, um Ihr Gepäck kümmern wir uns später.«
Er folgte ihr ins Haus, noch immer verwundert und auch verunsichert, weil er sich in allem offenbar so sehr geirrt hatte. »Außerdem dachte ich, es müsste hier von Menschen nur so wimmeln«, sagte er.
»Am Wochenende tut es das auch«, erwiderte Marianne. »Aber von unseren Kindern lebt ja nur noch Charlotta, unsere Jüngste, bei uns, und die besucht heute ihre Großmutter im Krankenhaus.«
»Es tut mir sehr leid, dass Ihre Schwiegermutter diesen Unfall hatte«, erklärte Armin. »Geht es ihr besser?«
»Sie ist todunglücklich, das ist das Hauptproblem«, meinte Marianne. »Sie mag nicht im Bett liegen – und schon gar nicht in einem Krankenhaus. Wir haben überlegt, sie zu uns zu holen, so lange sie nicht laufen kann, aber das wird sie nicht wollen.«
»Warum nicht?«, fragte Armin verwundert. »Das klingt doch so, als wäre es eine ziemlich gute Idee.«
»Theoretisch ist es das auch«, antwortete Marianne mit einem Lächeln. »Aber meine Schwiegermutter hat ihren eigenen Kopf.«
Sie wurden von Ludwig unterbrochen, der rief: »Also doch! Ich war nicht sicher, ob du das bist, Armin, der gerade angekommen ist.«
Die beiden Männer begrüßten einander herzlich, Marianne kochte Tee, und dann entspann sich ein lebhaftes Gespräch, in dessen Verlauf Marianne zu der Überzeugung gelangte, dass dieser junge Mann genau so sympathisch war, wie Ludwig ihn ihr geschildert hatte.
Wären sie allein gewesen, hätten sie mit ihm sicherlich wunderbar entspannte Tage verbringen können. Aber abends würde Charly zurückkehren – und dann… Sie verdrängte diesen Gedanken eilig. Vielleicht ging ja ausnahmsweise alles gut und ihre Jüngste benahm sich absolut untadelig?
*
»Es ist lieb, dass du gekommen bist, Charly«, sagte Helena. Blass sah sie aus, noch schmaler war sie geworden, und ihre Haut wirkte beinahe durchsichtig.
Charlotta hatte den Schrecken, der sie beim Anblick ihrer Großmutter durchzuckt hatte, nur mühsam verborgen. »Wie lange musst du denn noch hierbleiben, Omi?«, fragte sie.
Trotz ihrer sichtbaren Schwäche schimpfte Helena so kraftvoll wie eh und je, wenn ihr etwas nicht gefiel. »Die bilden sich wahrhaftig ein, sie könnten mich hier wochenlang festhalten, stell dir das mal vor? Aber das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage! Ich gehe so bald wie möglich nach Hause!«
»Du kannst nicht laufen«, gab Charlotta zu bedenken. »Und das heißt, du kannst dir überhaupt nicht allein helfen.«
»Das weiß ich!« Helena funkelte ihre Lieblingsenkelin an, weil sie es gewagt hatte, auszusprechen, was ihr selbst das größte Kopfzerbrechen bereitete. »Aber Robert ist ja auch noch da – und das übrige Personal.«
»Das sind aber keine ausgebildeten Pflegekräfte«, bemerkte Charlotta. »So viel ich weiß, muss man auf vieles Acht geben, wenn ein Mensch bettlägerig ist. Du könntest dich wundliegen oder…«
Helena sorgte mit einer ungeduldigen Handbewegung für ein Ende dieser unerwünschten Ausführungen. »Das kann man lernen!«, schnaubte sie. »Ich hätte nie gedacht, dass du dich gegen mich stellst, Charly.«
»Das tue ich nicht«, versicherte Charlotta. »Ich sage dir nur, dass es nicht so einfach ist, wie du es gerne hättest. Du hast dich schwerer verletzt, als du denkst.«
Daraufhin fiel Helena sichtlich in sich zusammen, und Charlotta bereute ihre offenen Worte sofort. »Tut mir leid«, sagte sie zerknirscht. »Ich wollte dich nicht entmutigen, Omi, aber es hat auch keinen Sinn, dass du dir Illusionen machst.« Als sie sah, dass in Helenas Augen plötzlich Tränen schimmerten, beugte sie sich über ihre Großmutter und küsste sie liebevoll auf beide Wangen. »Bitte, nicht weinen, Omi. Lass uns lieber überlegen, was wir tun können, damit es dir schnell besser geht.«
»Ich muss hier raus«, murmelte Helena, und dieses Mal klang ihre Stimme so kraftlos, wie sie sich fühlte. »Krankenhäuser haben mich schon immer verrückt gemacht, Charly. Schon als Kind. Allein, wie die hier mit mir reden – ich kann das nicht ausstehen. So, als hätte ich mir nicht den Oberschenkelhals gebrochen, sondern einen Hirnschaden davongetragen. Dieses krampfhaft muntere Auftreten, wenn sie zur Tür hereinkommen…«
»Du übertreibst, Omi«, sagte Charlotta. »Bestimmt sind nicht alle so. Aber ich gebe dir Recht: Es wäre für dich besser, wenn du schnell wieder nach Hause kämst. Mama hatte die Idee, dass du vielleicht für ein paar Wochen zu uns…«
»Nie im Leben!« Schlagartig klang Helena wieder vollkommen gesund. »Nie im Leben, Charly, hast du mich verstanden? Bei euch würde ich verrückt. Ich brauche meinen geordneten Haushalt, in dem jeder weiß, was er zu tun hat – und mich weitgehend in Ruhe lässt. So fühle ich mich wohl.«
»Aber neulich hast du gesagt, dass du dich manchmal ziemlich allein fühlst«, erinnerte Charlotta sie.
»Das stimmt, aber deshalb kann ich nicht mein gesamtes Leben ändern, Kind. Ich hätte gern jemanden im Haus, den ich gerne mag und mit dem ich mich zwischendurch unterhalten kann.«
»Herrn Kahrmann?«, fragte Charlotta. »Aber der wohnt ja schon bei dir.«
Helena lächelte. »Er ist immer für mich da, das stimmt schon, aber es gibt Dinge, über die ich mit ihm nicht sprechen kann, Charly.«
»Ja, aber wer sonst…?«, fragte Charlotta verwundert.
Helena seufzte. »Das ist es ja eben: Für mein Problem gibt es keine Lösung. Ich will nirgends anders hin – und so werde ich allein bleiben müssen. Fertig, aus.«
Über diese Worte dachte Charlotta noch nach, als sie eine halbe Stunde später ins Auto stieg und zurück zum Gutshof ihrer Eltern fuhr.
*
»Man könnte meinen, Sie seien auf der Flucht!«, sagte eine Stimme hinter Rosalie.
Sie blieb stehen und drehte sich um. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie den Mann erkannte, der ihr offensichtlich gefolgt war: Es war Bernhard von Isebing. »Bin ich nicht!«, behauptete sie.
Er betrachtete sie lächelnd. »Sie waren in meinem Vortrag«, stellte er fest. »Und leider sind Sie hinterher nicht zu mir gekommen, um mir eine lebenswichtige Frage zu stellen.«
»Leider?«, fragte sie verwundert.
»Sie sind mir sofort aufgefallen«, erklärte er. »Sie sind doch keine Studentin, oder?«
»Nein, bin ich nicht. Ich habe schon vor Ihrem Vortrag festgestellt, dass ich offenbar die Einzige im Saal war, die sich für das Thema interessierte. Alle anderen waren offenbar Ihretwegen gekommen.«
Er lachte amüsiert, und sie stellte fest, dass er sehr