Der kleine Fürst Staffel 5 – Adelsroman. Viola Maybach
rief sie.
Kallis Antwort kam prompt: »Bis später, Lili!«
*
Das Picknick erwies sich als ausgezeichnete Idee, in dessen Verlauf auch Clara auftaute. Sie vergaß ihren Groll gegen Leonid, wie am Abend zuvor im Pferdestall. Einige Male scherzte sie sogar völlig unbefangen mit ihm – bis ihr Gesicht sich verdunkelte, wenn ihr einfiel, dass sie ihn eigentlich nicht als Freund ansah. Aber sie fragte sich längst, ob er ihr nicht vielleicht die Wahrheit gesagt hatte. Es war doch durchaus möglich, dass er ein persönliches Interesse an dem Porträt der Unbekannten gehabt hatte – was wusste sie schon davon? Außerdem erkannte sie allmählich, dass ihr Zorn auf ihn in keinem Verhältnis zu dem stand, was vorgefallen war. Er hatte sie schließlich weder belogen noch betrogen, sondern einfach nur ihre Pläne durchkreuzt – und sie hatte das Gleiche bei ihm versucht, nur eben ohne Erfolg. Solche Gedanken gingen ihr durch den Kopf, doch noch war sie nicht so weit, dass sie ihm großmütig verzeihen konnte. Immerhin hatte er ihr eine empfindliche Niederlage beigebracht, und sie verlor nicht gern.
Leonid, auf der anderen Seite, fand Clara, je länger er sie beobachtete, sie reden und lachen hörte, desto unwiderstehlicher. Und zum ersten Mal, seit er nach Deutschland gekommen war, überlegte er, wie es wäre, die Wahrheit darüber zu erzählen, warum er hier war. Warum eigentlich nicht, fragte er sich. Was wäre so schlimm daran?
Nichts, antwortete er sich selbst. Es wäre nicht schlimm, aber es würde den Erfolg dessen, was ich mir vorgenommen habe, gefährden.
Er verscheuchte diese Gedanken wieder und fuhr fort, Clara verstohlen zu beobachten, bis er merkte, dass er seinerseits beobachtet wurde, und zwar von Anna und dem kleinen Fürsten. Verflixt noch mal, dachte er, vor diesen
Teenagern muss man sich in Acht nehmen, die sehen und hören viel mehr als sie sollen.
Er ließ sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen. Das Essen war köstlich gewesen, es war ein warmer Tag, wohlige Müdigkeit überkam ihn. Beinahe fühlte er sich wie zu Hause.
*
Irina verbrachte den Samstag voller Unruhe. Konnte sie diesem Johannes von Thalbach trauen? Konnte sie ihm die Wahrheit sagen? Er hatte kluge Augen und ein gutes Gesicht, aber wenn sie etwas gelernt hatte in den vergangenen zehn Jahren, dann war es dies: Man konnte einem Menschen, den man nicht kannte, nicht vertrauen, auch wenn er noch so treu guckte.
Irgendwann fiel ihr auf, dass Lili verändert aussah, und das riss sie endlich aus ihren Gedanken. Einmal summte die junge Frau sogar vor sich hin. »Es geht Ihnen also gut, Lili?«, fragte sie.
»Ja, sehr. Entschuldigen Sie bitte, Frau Mahler, ich wollte Sie nicht stören.«
»Setzen Sie sich zu mir und trinken Sie einen Tee mit mir«, schlug Irina vor.
»Aber die Arbeit«, wandte Lili ein, »ich muss noch so viel …«
Irina winkte ab. »Das kann warten, es ist tadellos sauber hier, Lili.«
»Aber ich bin mit dem Kochen noch nicht fertig.«
»Zur Not schaffe ich das auch mal allein. Bitte, machen Sie mir doch die Freude.«
Nie zuvor hatte Lili ihre Arbeit liegen lassen, um Tee zu trinken. Die Situation war so ungewohnt für sie, dass sie zuerst vollkommen verkrampft am Tisch saß. Irina hatte ihre liebe Mühe, bis sie auftaute, dann jedoch erzählte sie lebhaft von den Arbeiten am Haus und davon, wie glücklich die ganze Familie über das neue Dach war. »Sie sind ein sehr guter Mensch, Frau Mahler!«, sagte sie endlich.
»Nein, das bin ich nicht!«, wehrte Irina entschieden ab. »Wirklich nicht. Glauben Sie mir, Lili, ich weiß das besser als Sie.«
Lili schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich sage ja nicht, dass Sie nie etwas Falsches getan haben, das macht schließlich jeder. Aber ich weiß, was ich weiß.«
»Wie können Sie so sicher sein?«, fragte Irina. »Ich habe jemanden kennengelernt und grübele die ganze Zeit darüber nach, ob ich dem Mann vertrauen kann oder nicht.«
»Das finden Sie schon heraus«, erwiderte Lili zuversichtlich. »Auf Dauer schafft es, glaube ich, niemand, sich zu verstellen.«
»Ich habe aber keine Zeit, um diesen Mann kennenzulernen«, murmelte Irina. »Das ist mein Problem. Er hat etwas über mich herausgefunden …« Sie verstummte erschrocken. Wie kam sie denn dazu, ausgerechnet Lili Ganghofer ihr Herz auszuschütten?
»Erpresst er Sie?«, fragte Lili erstaunlich ruhig und sachlich.
Diese Ruhe war es wohl, die Irina veranlasste, ihr zu antworten. »Nein. Aber es gibt etwas, das ich für mich behalten möchte – und dieser Mann hat eine Spur gefunden und wird es herausfinden, fürchte ich. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, ich gehe weg und zwar schnell. Oder ich weihe ihn ein und verlasse mich darauf, dass er den Mund hält.«
»Sie gehen weg?« Jetzt war es vorbei mit Lilis Ruhe. »Sie meinen, ganz weg von hier?« Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Aber das geht nicht!«, sagte sie mit geradezu flehender Stimme. »Sie sind doch so wichtig für uns, Frau Mahler. Meine Geschwister gehen zum ersten Mal gern zur Schule, weil sie merken, wie schön es sein kann, etwas zu lernen. Und ich … Wenn Sie nicht mehr hier sind, wo werde ich dann arbeiten? Noch nie ist es mir so gut gegangen wie jetzt, und noch nie …« Sie legte den Kopf auf beide Hände und schluchzte herzzerreißend.
Irina strich ihr behutsam durch die Haare, mit einem Mal wusste sie, was sie tun würde. Sie hatte schon einiges riskiert im Leben, sie würde es wieder tun. Und wenn Johannes von Thalbach sie enttäuschte – nun, dann hatte sie eben eine weitere Lektion gelernt.
»Nicht weinen, Lili«, sagte sie weich. »Ich werde bleiben. Sie haben vollkommen Recht, ich kann jetzt nicht einfach weggehen – nicht gerade jetzt.«
Lili hörte auf zu weinen und hob den Kopf. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte sie.
»Aber ja. Es ist schön zu wissen, dass es Menschen gibt, die über mein Weggehen traurig wären – und es ist auch schön zu erfahren, dass ich für andere wichtig bin.«
»Für uns sind Sie sehr, sehr wichtig, Frau Mahler – und nicht nur, weil Sie uns jetzt mit dem Dach helfen. Sie waren schon vorher wichtig.«
»Dann trocknen Sie jetzt Ihre Tränen, Lili. Ich bleibe, das verspreche ich Ihnen.«
Lili wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen, dann fragte sie zögernd: »Und … dieser Mann? Wenn er nun doch versucht, Sie zu erpressen mit dem, was er herausgefunden hat? Er könnte drohen, Sie zu verraten, das wäre doch schlimm für Sie, oder? Sie haben gesagt, es gibt etwas, das Sie für sich behalten wollen.«
»Das überlege ich mir, wenn es so weit ist«, erklärte Irina. »Ich werde schon eine Lösung finden, das habe ich bisher immer geschafft.«
Lili leerte ihre Tasse und stand auf. Sie ging aber nicht sofort, sondern blieb neben Irina stehen. »Ich habe Sie sehr, sehr gern, Frau Mahler«, sagte sie feierlich, »und wenn Sie einmal Hilfe brauchen sollten, dann können Sie auf mich immer zählen.« Nach diesen Worten drehte sie sich mit rotem Kopf um und verließ das Zimmer, um ihre Arbeit fortzusetzen.
Nun war es Irina, in deren Augen Tränen schimmerten. Eine Liebeserklärung, dachte sie gerührt. Wie lange ist es her, dass mir jemand eine Liebeserklärung gemacht hat – und dann noch eine so hübsche!
*
Anna sah das Unglück während des Abendessens heraufziehen. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, sie hatten den Ausritt genossen, und das anschließende Picknick hatte bei allen großen Anklang gefunden. Selbst Clara und Leonid schienen ihr Kriegsbeil begraben zu haben, aber ganz unbefangen gingen sie nicht miteinander um. Und Anna, die gute Beobachterin, machte sich dazu ihre eigenen Gedanken. Sie wollte mit Christian darüber sprechen, doch sie kam nicht dazu – und das erwies sich abends beim Essen als fatal.
Anna glaubte nämlich, dass Clara und Leonid ineinander verliebt waren, das aber nicht zugeben wollten. Wie sonst war es zu erklären, dass Leonid Clara