Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

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Wort, an­de­re ge­ben an, ›Cha­gri‹ sei die Stadt, in der die­se Tier­haut ei­ner che­mi­schen Pro­ze­dur un­ter­wor­fen wer­de, die Pal­las23 recht gut be­schrie­ben hat und die ihm jene ei­gen­ar­tig ge­narb­te Ober­flä­che ver­leiht, die wir so schät­zen; Mon­sieur Mar­tel­lens hat mir ge­schrie­ben, Châa­gri sei ein Bach.«

      »Schön«, er­wi­der­te der Ge­lehr­te, »ich ver­ste­he. Mon­sieur, jede ab­ge­zo­ge­ne Haut, die von ei­nem Le­be­we­sen stammt, ist, wie leicht zu be­grei­fen, ei­nem na­tür­li­chen Ver­fall aus­ge­setzt, des­sen Fort­schrei­ten von at­mo­sphä­ri­schen Ein­flüs­sen ab­hängt. Selbst die Me­tal­le deh­nen sich aus und zie­hen sich zu­sam­men, und zwar sehr merk­lich; die In­ge­nieu­re zum Bei­spiel ha­ben ziem­lich be­trächt­li­che Lücken zwi­schen Stein­blö­cken fest­ge­stellt, die ur­sprüng­lich von Ei­sen­klam­mern zu­sam­men­ge­hal­ten wur­den. Die Wis­sen­schaft ist lang, und un­ser Le­ben ist kurz. So kön­nen wir nicht den An­spruch er­he­ben, alle Er­schei­nun­gen der Na­tur zu ken­nen.«

      »Mon­sieur«, sag­te Ra­pha­el in ei­ni­ger Ver­wir­rung, »ge­stat­ten Sie, daß ich noch eine son­der­ba­re Fra­ge stel­le. Sind Sie ganz si­cher, daß die­ses Stück Le­der den all­ge­mei­nen Ge­set­zen der Na­tur un­ter­wor­fen ist; daß es sich aus­deh­nen läßt?«

      »Oh, kein Zwei­fel! Don­ner­wet­ter!« rief Mon­sieur La­vril­le bei sei­nem Ver­such, den Ta­lis­man zu stre­cken: »Nun Mon­sieur, viel­leicht su­chen Sie ein­mal Plan­chet­te auf, den be­rühm­ten Pro­fes­sor der Mecha­nik, er wird si­cher ein Mit­tel fin­den, auf die­ses Le­der zu wir­ken, es ge­schmei­dig zu ma­chen und zu deh­nen.«

      »Ich dan­ke Ih­nen, Mon­sieur, Sie ret­ten mir das Le­ben!«

      Ra­pha­el ver­ab­schie­de­te sich von dem ge­lehr­ten Na­tur­for­scher, eil­te zu Plan­chet­te und ließ den gu­ten La­vril­le in sei­nem Ar­beits­ka­bi­nett zu­rück, in­mit­ten all der Glas­fla­schen und ge­trock­ne­ten Pflan­zen. Ohne es zu wis­sen, hat­te er bei sei­nem Be­such die gan­ze mensch­li­che Wis­sen­schaft mit auf den Weg be­kom­men: ein Na­men­ver­zeich­nis! Der wa­cke­re La­vril­le äh­nel­te San­cho Pan­sa, wie er Don Qui­jo­te die Ge­schich­te der Zie­gen er­zähl­te; er fand Ver­gnü­gen dar­an, Tie­re zu zäh­len und zu nu­me­rie­ren. Er stand nun am Ran­de des Gra­bes und kann­te kaum einen klei­nen Teil aus der un­er­meß­li­chen Zahl der großen Her­de, die Gott, wir wis­sen nicht wozu, über den Ozean der Wel­ten ver­teilt hat. Ra­pha­el war zu­frie­den. »Ich wer­de mei­nen Esel im Zau­me hal­ten!« rief er. Ster­ne hat­te vor ihm ge­sagt: »Wer alt wer­den will, muß sei­nen Esel scho­nen«. Aber das Vieh ist so stör­risch.

      Plan­chet­te war groß und ha­ger, ein rich­ti­ger Dich­ter, der im­mer in Be­trach­tung ei­nes un­er­meß­li­chen Ab­grun­des, der Be­we­gung näm­lich, ver­sun­ken war. Ge­wöhn­li­che Men­schen hal­ten die­se er­ha­be­nen Geis­ter, die­se Un­ver­stan­de­nen, die be­wun­derns­wert un­be­küm­mert um Lu­xus und welt­li­ches Trei­ben le­ben, die gan­ze Tage lang an ei­nem aus­ge­gan­ge­nen Zi­gar­ren­stum­mel kau­en und einen Sa­lon be­tre­ten, ohne die Knöp­fe ih­res An­zugs in die ge­zie­men­de Ver­bin­dung mit den Knopflö­chern ge­bracht zu ha­ben, für eine Art Ver­rück­te. Ei­nes Ta­ges ha­ben sie, nach­dem sie lan­ge die Lee­re ge­mes­sen oder Rei­hen von X un­ter Aa-gG ge­setzt ha­ben, ir­gend­ein Na­tur­ge­setz ana­ly­siert und ein simp­les Prin­zip zer­legt; auf ein­mal staunt die Men­ge über eine neue Ma­schi­ne oder ir­gend­ei­nen Kar­ren, des­sen ein­fa­che Kon­struk­ti­on uns er­staunt und ver­blüfft. Der be­schei­de­ne Ge­lehr­te lä­chelt und sagt zu sei­nen Be­wun­de­rern: »Was habe ich denn Neu­es her­vor­ge­bracht? Nichts. Der Mensch kann kei­ne Kraft er­fin­den, er lenkt sie, und die Wis­sen­schaft be­steht dar­in, die Na­tur nach­zuah­men.«

      Ra­pha­el fand den Mecha­ni­ker so starr und steif da­ste­hend, daß er ei­nem Ge­henk­ten glich, der ge­ra­de­wegs vom Gal­gen ge­fal­len ist. Plan­chet­te be­ob­ach­te­te eine Ach­at­mur­mel, die auf ei­ner Son­nen­uhr roll­te und war­te­te dar­auf, daß sie ste­hen­blie­be. Der Ärms­te hat­te we­der einen Or­den noch ein Ehren­ge­halt; er ver­stand es nicht, sei­ne Be­rech­nun­gen ef­fekt­voll pu­blik zu ma­chen. Er war glück­lich zu le­ben, ei­ner Ent­de­ckung auf der Spur zu sein, und dach­te da­bei we­der an den Ruhm noch an die Welt, noch an sich selbst. Er leb­te in der Wis­sen­schaft und für die Wis­sen­schaft.

      »Das ist un­er­klär­lich!« rief er. »Ah, Mon­sieur«, un­ter­brach er sich, als er Ra­pha­el be­merk­te, »Ihr er­ge­be­ner Die­ner. Wie geht’s der Mama? Tre­ten Sie nur bei mei­ner Frau ein.«

      »So hät­te ich auch le­ben kön­nen!« dach­te Ra­pha­el. Er ent­riß den Ge­lehr­ten sei­nen Träu­men, in­dem er ihm den Ta­lis­man zeig­te und ihm die Fra­ge vor­leg­te, wie man auf ihn ein­wir­ken könn­te. »Sie mö­gen über mei­ne Leicht­gläu­big­keit la­chen, Mon­sieur«, sprach der Mar­quis ab­schlie­ßend, »ich will Ih­nen nichts ver­heh­len. Die­ses Stück Le­der scheint mir eine Wi­der­stands­kraft zu be­sit­zen, die nichts zu zwin­gen ver­mag.«


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