Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
Wort, andere geben an, ›Chagri‹ sei die Stadt, in der diese Tierhaut einer chemischen Prozedur unterworfen werde, die Pallas23 recht gut beschrieben hat und die ihm jene eigenartig genarbte Oberfläche verleiht, die wir so schätzen; Monsieur Martellens hat mir geschrieben, Châagri sei ein Bach.«
»Ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir Aufschlüsse gegeben haben, die einem Dom Calmet24 Stoff zu einer trefflichen Anmerkung geben könnten, wenn die Benediktiner noch existierten; aber ich hatte mir mitzuteilen erlaubt, daß dieses Stück ursprünglich so groß war … wie diese Landkarte«, sagte Raphael und wies auf einen aufgeschlagen daliegenden Atlas, »seit drei Monaten aber hat es sich unverkennbar zusammengezogen …«
»Schön«, erwiderte der Gelehrte, »ich verstehe. Monsieur, jede abgezogene Haut, die von einem Lebewesen stammt, ist, wie leicht zu begreifen, einem natürlichen Verfall ausgesetzt, dessen Fortschreiten von atmosphärischen Einflüssen abhängt. Selbst die Metalle dehnen sich aus und ziehen sich zusammen, und zwar sehr merklich; die Ingenieure zum Beispiel haben ziemlich beträchtliche Lücken zwischen Steinblöcken festgestellt, die ursprünglich von Eisenklammern zusammengehalten wurden. Die Wissenschaft ist lang, und unser Leben ist kurz. So können wir nicht den Anspruch erheben, alle Erscheinungen der Natur zu kennen.«
»Monsieur«, sagte Raphael in einiger Verwirrung, »gestatten Sie, daß ich noch eine sonderbare Frage stelle. Sind Sie ganz sicher, daß dieses Stück Leder den allgemeinen Gesetzen der Natur unterworfen ist; daß es sich ausdehnen läßt?«
»Oh, kein Zweifel! Donnerwetter!« rief Monsieur Lavrille bei seinem Versuch, den Talisman zu strecken: »Nun Monsieur, vielleicht suchen Sie einmal Planchette auf, den berühmten Professor der Mechanik, er wird sicher ein Mittel finden, auf dieses Leder zu wirken, es geschmeidig zu machen und zu dehnen.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur, Sie retten mir das Leben!«
Raphael verabschiedete sich von dem gelehrten Naturforscher, eilte zu Planchette und ließ den guten Lavrille in seinem Arbeitskabinett zurück, inmitten all der Glasflaschen und getrockneten Pflanzen. Ohne es zu wissen, hatte er bei seinem Besuch die ganze menschliche Wissenschaft mit auf den Weg bekommen: ein Namenverzeichnis! Der wackere Lavrille ähnelte Sancho Pansa, wie er Don Quijote die Geschichte der Ziegen erzählte; er fand Vergnügen daran, Tiere zu zählen und zu numerieren. Er stand nun am Rande des Grabes und kannte kaum einen kleinen Teil aus der unermeßlichen Zahl der großen Herde, die Gott, wir wissen nicht wozu, über den Ozean der Welten verteilt hat. Raphael war zufrieden. »Ich werde meinen Esel im Zaume halten!« rief er. Sterne hatte vor ihm gesagt: »Wer alt werden will, muß seinen Esel schonen«. Aber das Vieh ist so störrisch.
Planchette war groß und hager, ein richtiger Dichter, der immer in Betrachtung eines unermeßlichen Abgrundes, der Bewegung nämlich, versunken war. Gewöhnliche Menschen halten diese erhabenen Geister, diese Unverstandenen, die bewundernswert unbekümmert um Luxus und weltliches Treiben leben, die ganze Tage lang an einem ausgegangenen Zigarrenstummel kauen und einen Salon betreten, ohne die Knöpfe ihres Anzugs in die geziemende Verbindung mit den Knopflöchern gebracht zu haben, für eine Art Verrückte. Eines Tages haben sie, nachdem sie lange die Leere gemessen oder Reihen von X unter Aa-gG gesetzt haben, irgendein Naturgesetz analysiert und ein simples Prinzip zerlegt; auf einmal staunt die Menge über eine neue Maschine oder irgendeinen Karren, dessen einfache Konstruktion uns erstaunt und verblüfft. Der bescheidene Gelehrte lächelt und sagt zu seinen Bewunderern: »Was habe ich denn Neues hervorgebracht? Nichts. Der Mensch kann keine Kraft erfinden, er lenkt sie, und die Wissenschaft besteht darin, die Natur nachzuahmen.«
Raphael fand den Mechaniker so starr und steif dastehend, daß er einem Gehenkten glich, der geradewegs vom Galgen gefallen ist. Planchette beobachtete eine Achatmurmel, die auf einer Sonnenuhr rollte und wartete darauf, daß sie stehenbliebe. Der Ärmste hatte weder einen Orden noch ein Ehrengehalt; er verstand es nicht, seine Berechnungen effektvoll publik zu machen. Er war glücklich zu leben, einer Entdeckung auf der Spur zu sein, und dachte dabei weder an den Ruhm noch an die Welt, noch an sich selbst. Er lebte in der Wissenschaft und für die Wissenschaft.
»Das ist unerklärlich!« rief er. »Ah, Monsieur«, unterbrach er sich, als er Raphael bemerkte, »Ihr ergebener Diener. Wie geht’s der Mama? Treten Sie nur bei meiner Frau ein.«
»So hätte ich auch leben können!« dachte Raphael. Er entriß den Gelehrten seinen Träumen, indem er ihm den Talisman zeigte und ihm die Frage vorlegte, wie man auf ihn einwirken könnte. »Sie mögen über meine Leichtgläubigkeit lachen, Monsieur«, sprach der Marquis abschließend, »ich will Ihnen nichts verhehlen. Dieses Stück Leder scheint mir eine Widerstandskraft zu besitzen, die nichts zu zwingen vermag.«
»Verehrter«, antwortete nun Planchette, »die Menschen der Gesellschaft pflegen die Wissenschaft gemeinhin recht von obenherab zu behandeln, und ungefähr sagen sie uns alle das, was ein Stutzer, der nach der Sonnenfinsternis mit ein paar Damen zu Lalande25 kam, zu ihm sagte: »Wollen Sie so freundlich sein, die Sache zu wiederholen.« Welche Wirkung wollen Sie erzielen? Die Mechanik hat die Aufgabe, die Gesetze der Bewegung entweder anzuwenden oder sie unwirksam zu machen. Was die Bewegung an sich angeht, so erkläre ich Ihnen in aller Bescheidenheit, daß wir nicht imstande sind, sie zu definieren. Das dahingestellt, haben wir einige gleichbleibende Erscheinungen beobachtet, welche die Bewegung der festen und flüssigen Körper fortsetzen, ihnen eine Antriebskraft im Verhältnis zu einer bestimmten Geschwindigkeit verleihen, sie fortschleudern, sie einfach oder ins Unendliche teilen, dadurch daß wir sie zerbrechen oder pulverisieren; wir können sie ferner drehen, sie rotieren lassen, sie verändern, zusammendrücken, dehnen, strecken. Diese ganze Wissenschaft beruht auf einer einzigen Tatsache. Sie sehen diese Kugel. Sie befindet sich auf diesem Stein. Jetzt ist sie hier. Wie nennen wir diesen Akt, der physisch so natürlich und geistig so außergewöhnlich ist? Bewegung, Ortswechsel, Ortsveränderung? Welch ungeheurer Dünkel steckt in den Worten! Ist ein Name denn eine Lösung? Und trotzdem beruht darauf die ganze Wissenschaft. Unsere Maschinen wenden diesen Vorgang, diese Tatsache an oder neutralisieren sie. Wird dieses unscheinbare Phänomen auf große Massen übertragen, kann ganz Paris in die Luft fliegen. Wir können die Geschwindigkeit auf Kosten der Kraft