Heimkehr ins Unbekannte. Lina Meruane

Heimkehr ins Unbekannte - Lina  Meruane


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zu schicken, ihnen die Chancen zu geben, die sie als Schülerin einer Fachoberschule ohne Abschluss nie gehabt hatte. Sie war es, die verhinderte, dass mein Vater mit sechzehn den Laden übernahm, als mein Großvater, erschöpft von seinen vielen Unternehmungen, seinem einzigen Sohn die Geschäftsführung von La Florida übergeben wollte. Und sie setzte sich dafür ein, dass ihre Töchter außerhalb der Kolonie heiraten konnten. Dass sie sich mischten, ja, aber den Familiennamen beibehielten, als unlöschbares Zeichen der Zugehörigkeit.

      hinter geschlossener tür

      Sie ist abgeschlossen, und der Schlüssel ist nicht mehr in unserem Besitz. Mein Bruder-der-Jüngere blickt durchs Schlüsselloch und kann nichts erkennen. Es ist dunkel, sagt er. Wie im Grab, ergänze ich und denke an meinen Großvater in seinem. An sein hängendes Augenlid auf der linken Seite. An seine verschränkten Hände, die nicht mehr in die Hosentaschen tauchen und Mandeln verteilen. Ein schlichter Tod, ganz anders als bei seinem Cousin Chucre, der bestimmt hatte, bei seiner Totenwache solle Musik gespielt, um den Leichnam getanzt und opulentes Essen für alle aufgefahren werden, die sich von ihm verabschieden wollten. (Ich weiß nicht mehr, ob ich mich daran erinnere oder es mir nur vorstelle, dass seine Kinder geteilter Ansicht waren: Die einen legten die arabische Kassette ein, die anderen schalteten trauernd und vielleicht beschämt das Radio aus und ließen ihn in Grabesstille versinken.) Nach all den Familienbegräbnissen verschwimmt mir im Gedächtnis der Raum dieser Totenwachen. Ich sehe nichts, beharrt die Stimme meines Bruders-des-Jüngeren vor dem Schlüsselloch. Und vielleicht gibt es gar nichts zu sehen, denn zu dem Brand im Familienhaus war später ein Erdbeben gekommen, und man hatte es für unbewohnbar erklärt. Ich habe euch doch gesagt, es hat keinen Sinn, zurückzukehren, murmelt mein Vater. Und mit langen Schritten geht er über die Straße davon und lässt uns schnell hinter sich. Zurück bleibt das Holztor, das am Rand des Gehwegs noch bis zum nächsten Erdstoß aushält, während wir meinem Vater die Straße hinab folgen, die Augen starr auf das Pflaster gerichtet, als sähen wir zwischen den Linien der Pflastersteine die Zimmer mit den hohen Decken, könnten zwischen den Strichen die Küche im hinteren Teil finden, ihre Aluminiumtöpfe, den geblümten Kühlschrank, den meine Mutter mit ins Strandhaus genommen hatte, das uns auch nicht mehr gehört. Was mag wohl aus all dem geworden sein, aus den Laken, die an einer Leine im Garten hingen, aus dem winzigen Elfenbeinelefanten, von dem meine Tanten sagen, ich hätte ihn erfunden, weil sie sich nicht an ihn erinnern. Alles aus Palästina ist auf mysteriöse Weise verschwunden, während ich irgendwie die Zeit totgeschlagen habe, sage ich mir und gehe mit den anderen hinter meinem Vater her, ohne zu wissen, wohin. Er bleibt stehen, ganz plötzlich, und deutet auf seine erste Schule: von Nonnen geführt, sagt er, vielleicht noch heute. Eine Mädchenschule? Ja, und zum ersten Mal scheint er zu lächeln. Sie lag so nah, dass er allein zur Schule gehen konnte, aber er war immer mit einer seiner Schwestern gegangen: der Schwester-der-Dritten, die als Erste gestorben war, oder der Schwester-der-Vierten, die auch nicht mehr lebt. In dieser Stadt voller Palästinenser gab es doch sicher arabische Schulen, bemerke ich, aber er hört nicht oder weiß nicht oder will nicht antworten. Dann, als wachte er plötzlich auf, verneint er. Alle Schulen waren chilenisch, und dort wurde nur in der offiziellen Landessprache unterrichtet. Mein Vater lässt diese Vergangenheit hinter sich und klärt uns über seine nächste Schule auf: Internatsschüler in der Oberschule im Instituto Nacional Barros Arana. Die Wochenenden verbrachte er manchmal bei seinem Onkel Constantino, der in der Calle Juan Sabaj lebte. Überrascht erfahre ich, dass es in Santiago noch eine Straße mit einem Namen aus unserer Familie gibt. Dass diese Straße nach meinem Urgroßvater benannt wurde. Von den Onkeln meines Vaters angelegt, nachdem sie beschlossen hatten, das Grundstück in Ñuñoa zu teilen, dort Häuser zu bauen und von den Mieteinnahmen zu leben. Das Geschäft hat sich nicht gerechnet, sagt mein Vater, der später in einem dieser Häuser wohnen sollte, umgeben von Verwandten. Ich wundere mich, warum mein Vater und seine Schwestern, unter Palästinensern aufgewachsen, sich niemals in der Kolonie engagiert hatten. Warum sie nie Mitglieder im Estadio Palestino gewesen waren, gleich um die Ecke. Da musste man einen großen Schein hinblättern, den ich nicht hatte, entgegnet mein Vater, als ich ihn danach frage. Dort haben sich die wohlhabendsten Landsleute getroffen, und wir hatten nie eine besonders enge Beziehung zur Kolonie, über die Familie hinaus. Das erklärt einiges. Den Spardruck. Die Abneigung gegen Verschwendung. Einen gewissen Hang zur Enthaltsamkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber Besitz. Diesen feinen Unterschied, von dem nie die Rede gewesen war und der doch unter uns lebte wie ein Vogel, sage ich mir, obwohl mir dieses durch den Kopf flatternde Bild seltsam vorkommt. Warum ausgerechnet ein Vogel? Weil alles so flüchtig war? Ich bin mir nicht sicher und beschließe, die Idee schweben zu lassen, während ich mich hinsetze, die Speisekarte lese und dann auf einem recht fade gefüllten Weinblatt herumkaue, dort, in einem arabischen Restaurant in der chilenischen Provinz, wo wir zu Mittag essen.

      ein verwittertes schild

      Mein Vater fährt durch unbekannte Straßen, und mein Bruder-der-Jüngere spielt den Schlauen, zieht sein Handy hervor, schaltet das GPS ein und gibt Anweisungen. Anweisungen, die mein Vater nicht befolgt oder nicht beachtet, überzeugt, dass wir ans Ziel gelangen, wenn wir da vorne abbiegen. Wir biegen noch öfter ab. Es ist ein heruntergekommenes Viertel am Rand der kleinen Provinzstadt, in der mein Vater seit sechzig Jahren nicht mehr lebt. Immer weiter durch Straßen, von Wurzeln unterwandert, umkurven wir den heißen Schatten fast kahler Bäume. Mein Bruder gibt noch immer Anweisungen, das GPS spielt verrückt und führt uns in die Irre, bis mein Vater auf einmal den Wagen anhält. Nur die Klimaanlage läuft noch. Draußen bringt die Sonne das Pflaster zum Glühen. Steigt aus, befiehlt mein Vater, aber wir öffnen die Türen nicht, beugen uns aus dem Fenster, bevor wir den Fuß auf unbekanntes Terrain setzen. Ist das immer noch die Provinzstadt? Ist das die Straße, die unseren Namen trägt? Im Rückspiegel sehen wir die dunklen Augen meines Vaters und hören, wie er den Befehl wiederholt. Worauf wartet ihr? Denn da ist das schwarze, weiß umrandete Schild. Die Buchstaben, ebenfalls weiß, doch verwaschen, benennen keine Straße, höchstens eine Durchfahrt. Beim Anblick dieser Großbuchstaben auf dem windigen Metallschild, SALVADOR MERUANE, so blass, als hätte der Maler vergessen, sie nachzuziehen und mit schützendem Lack zu bestreichen, ärmlich wie die Zäune und die Häuser ringsum, kommt mir der Gedanke, dass SALVADOR den Isa verdeckt und dieser verwitterte MERUANE weniger Glück gehabt hat als der SABAJ auf dem Schild in Santiago. Wir blicken zwei Minuten auf den rostigen Namen, bis uns das Lächeln vor der Kamera gefriert. Mein Großvater, seine Vornamen oder sein Nachname, stehen da dürftig an der Grenze von etwas, was uns wie eine verlassene Siedlung vorkommt. Wir nehmen die Fotos in der Kamera mit, während das Auto wieder startet und das Schildchen im Staub zurücklässt.

      II. Ruf nach Palästina

      richtung: palästina

      Es ist keine Rückkehr, aber die Idee zu der Reise trägt dieses Wort im Gepäck. Mitsamt seinen Synonymen und einer Reihe von zufälligen Ereignissen stößt es mich in Richtung Palästina. Ihr erster Sendbote tritt wie folgt in Erscheinung: Ich steige in meinem New Yorker Viertel in eines der aberhundert Taxis, Gypsy genannt. Der Fahrer ist, wie mir scheint, ein Dominikaner oder Ecuadorianer, vielleicht auch ein Mexikaner aus Puebla, und ich bitte ihn auf Spanisch, mich zum Flughafen zu bringen. Aber in seiner Sprachmelodie schwingt ein anderer Akzent mit, der auch nicht nordamerikanisch ist. Ich spitze mein Ohr, mache zwischen den Silben eine arabische Modulation aus. Bevor ich frage und womöglich einen Fehler begehe, blicke ich auf das Namensschild an der Rückseite des Fahrersitzes: Der Name ist eindeutig, ein Name, der wie kein anderer mit dem palästinensischen Widerstand verbunden ist: Jaser. Araber woher, frage ich und erkenne im Rückspiegel die Augen meines Großvaters wieder. Er ist Palästinenser, aus einem Dorf nördlich von Jerusalem, das ich nicht kenne. In der Nähe von Ramallah, erklärt er. Ein Dorf der West Bank, sagt er auf Englisch, falls dieser Name mir geläufiger ist als Westjordanland. Das ist wohl nicht weit von Beit Jala, sage ich, und er entgegnet, von der Entfernung her gewiss nicht, aber von der Zeit, je nachdem, und er lässt den Satz in der Schwebe. Da erzähle ich ihm, dass ein Teil von mir von dort kommt. Ich frage, ob ihm mein Nachname etwas sagt, aber er hat ihn noch nie gehört. Ich nenne ihm weitere Namen aus der Kolonie und erkläre, in Chile lebe die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt. Die


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