Heimkehr ins Unbekannte. Lina Meruane
Irak geflohen. Jetzt sind es Muslime, wie Sie. Geflüchtete, die mein Land aufnimmt und die mit der Zeit womöglich einfach zu Chilenen werden. Wie ich. Von hinten sehe ich seinen Kopf nicken, aber bei meinem letzten Satz dreht Jaser sich um und verbessert mich. Sie sind eine Palästinenserin, Sie sind eine Exilierte. Sie kennen Ihr Land nicht?, fragt er, überrascht, aber nicht vorwurfsvoll. Sie sollten hinfahren, sagt er und animiert die Palästinenserin in mir mit seiner Sprachmelodie. Wohin reisen Sie jetzt?, und übergangslos wird er vertraulich und wirft mir ein dominikanisches oye! zu, hör mal, Spanien?, von Madrid aus ist es nicht weit zu uns. Circa fünf Flugstunden. Sie sollten hinfahren, beharrt er und wird rasch wieder formell, Sie werden Ihr Land lieben, und er wirbt für die Gründe einer Rückkehr. Nach Palästina zurückkehren, sage ich mir, während er spricht, und mich überfällt die Erkenntnis, dass mir dieses Ziel noch nie in den Sinn gekommen ist. Ich denke einen Moment darüber nach, während ich Jasers Visitenkarte einstecke. Aber als ich am Flughafen bin, verwerfe ich die Idee und die Karte. Hefte beides als seltsamen Zufall ab.
post aus jaffa
Und trotzdem geht mir Palästina nicht aus dem Kopf. Auch wenn ich in Madrid viel zu tun habe, drängen sich Jasers Worte beharrlich in meine Projekte: Palästina in eine Reihe über Orte aufzunehmen, die ich in einem kleinen unabhängigen Verlag herausgebe. Bei einem Schriftsteller, der dort lebt, einen Text in Auftrag geben – ein Abwälzen der Schuld, die plötzlich auf mir lastet. Der Name eines Bekannten-in-Jaffa fällt mir ein, ich fische nach seiner Mailadresse und unterbreite ihm den Vorschlag. Postwendend bekomme ich die Antwort. Der Schriftsteller nimmt das Angebot an, er habe die Gebiete für einige Zeit auf Eis gelegt, und seitdem er nicht mehr über die Region schreibe, lese ich auf dem Bildschirm, habe sich sein Blick auf den Konflikt verändert. »Und auch meine Art, zu erzählen.« Er sei sich »der Feinheiten bewusster geworden, und diese Feinheiten halte ich heute für wesentlich.« Vielleicht ein Tagebuch über sein Leben in Jaffa, schlägt er vor, und ich male mir aus, wie er mit sich selbst Form und Ton aushandelt, die dieser neue Text bekommen soll, male mir aus, wie er sich in die Aufgabe stürzt, das lange Schweigen aufzugeben. Dann spricht er ein Problem an, zu dem ich noch gar nicht gelangt war: die Notwendigkeit, schnell ein Gegenüber für diese Buchreihe zu finden, deren Titel immer vierhändig geschrieben werden, zwei Teile von einem Erzähler, zwei von einer Erzählerin. »Ich kenne keine Frau, die auf Spanisch über diese Region schreibt«, heißt es am Ende seiner Mail. Als ich die Nachricht gelesen habe, sehe ich, dass eine weitere von ihm wartet. »Kennst Du das Land Deiner Vorfahren?«, fragt er, und Jasers Satz kommt mir in den Sinn. »Willst Du nicht die palästinensische Partnerin für das Buch sein?« Gleich darauf kommt eine dritte Nachricht, in der er mir hastig erklärt, im Glauben, ich wäre noch bei seiner vorigen Mail, es sei eine teure Reise, das wisse er, aber er könne mir Unterkunft anbieten: »Auf Dich warten ein Sofa und zwei bezaubernde kleine Wesen, die Dich garantiert um sechs Uhr morgens wecken werden. Wenn Du wirklich kommst, erfinden wir uns ein ganz außergewöhnliches Konzept für das Buch. Sag einfach, wann es Dir passt.« Fahren oder nicht fahren, so wird meine Frage lauten. Fahren und schreiben oder nicht fahren und niemals mein Palästina Schrift werden lassen.
wieder ramallah
Ich kehre von der kurzen Europareise nach New York zurück und packe die Koffer für Chile. Wieder bestelle ich ein Taxi, und beim Einsteigen sieht mich derselbe Lampengeist vom letzten Mal an. Der Geist meines schlechten Gewissens oder meiner Wünsche, sage ich mir, auf einmal von abgedroschenen orientalischen Bildern befallen. Aberhundert Latino-Taxifahrer zirkulieren im Norden Manhattans, und ausgerechnet Jaser ist im Augenblick meines Anrufs am nächsten und holt mich ab. Und wohin geht es jetzt?, fragt er, als er den Koffer hebt und lächelt. Jetzt wirklich nach Palästina? So ähnlich, antworte ich und denke, dass Chile meine einzige Levante ist. Von meiner Familie aus Beit Jala sind nur noch ein, zwei Frauen übrig, die irgendwo drüben den Namen Meruane führen. Die übrigen Namensträger leben bei uns, über diese verrückte Geographie verteilt. Vielleicht haben auch Sie jemanden in Chile, sage ich und kurbele das Fenster herunter, aber Jaser hat niemanden dort. Seine Familie klammert sich an das Wenige, was sie noch hat, denn darum geht es heute, sagt er. Sich an das klammern, was von Palästina bleibt, damit es nicht verschwindet. Damit man es nicht verschwinden lässt, weil wir die Türen offen gelassen haben. Das ist der Moment des Bleibens, der Moment der Rückkehr. Aber Sie sind hier, wie ich, werfe ich ein. Jemand muss ihnen Geld schicken!, entgegnet er in seinem dominikanischen Spanisch voller Arabesken. Ich sehe die großen Augen im Rückspiegel, den Kopf, der sich umwendet, als das Auto vor der roten Ampel hält, die Hand, die mir Mandelkekse reicht, die ihm seine Frau für den langen Tag auf der Straße backt. Also, fragt er und schluckt mühsam den süßen Brei herunter, wann fahren Sie in unser Land? Im März, sage ich, um irgendetwas zu sagen, und obwohl ich kein Geld für diese Reise habe, male ich mir langsam aus, dass es die Wahrheit ist.
santiago–jaffa: 23. januar
Ich bin in Chile, schlage meinem Vater vor, vielleicht zum letzten Mal seine Heimatstadt in der Provinz zu besuchen, stelle ihm Fragen, mache Notizen, recherchiere im Internet, lese über die Geschichte der Einwanderung, strenge mein Gedächtnis an, verbinde Anekdoten. Ich bin in Chile, überschlage die Kosten der Palästinareise, die Rechnung geht nicht auf. Bei dieser Arithmetik bin ich gerade, als eine Mail des Romanciers-in-Jaffa ankommt, der mir mitteilt, er habe seine Meinung geändert. »Es tut mir so leid, dass ich Dir diese Nachricht schicken muss. Aber ich kann den Text nicht schreiben. In den letzten Monaten hat man hier zwei israelischen Staatsbürgern die Einreise verwehrt, als sie aus dem Ausland zurückkamen (ein Euphemismus, der besagt, dass sie abgeschoben worden sind). Beide waren Juden mütterlicherseits, rein jüdisch also, und beide hatten die Alija beantragt, das heißt, Mitglied des Staates Israel zu werden. Beiden wurden ›staatsfeindliche Aktivitäten‹ vorgeworfen, einem von ihnen ›Hochverrat‹. Sie hatten aber nur an linken Demonstrationen teilgenommen und mit NGOs zusammengearbeitet, die der palästinensischen Bevölkerung helfen. Einen von ihnen kenne ich. Meine Situation in Israel ist noch viel prekärer. Ich habe an vielen Demonstrationen gegen die Kriege der letzten Jahre teilgenommen (es gibt Fotos von mir, auf denen ich mit dem Finger Polizeikameras abschieße), außerdem hatte ich jahrelang schriftlich angeprangert, was mir an der israelischen Politik und der palästinensischen Innenpolitik fatal vorkam (die Seite wurde gesperrt, auf Druck der Presseabteilung der israelischen Botschaft). Meine Lage wird vollends prekär, weil ich hier zwar wegen der jüdischen Vorfahren meines Vaters leben darf und eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen habe, aber in Wirklichkeit hier lebe, weil ich mit einer muslimischen Palästinenserin verheiratet bin, was bedeutet, dass mich die Nachrichtendienste auf ihrem Radarschirm haben (das klingt nach Spionageroman, ist aber traurige Wirklichkeit in dieser Region, in der die Telefone der ›arabisch-israelischen‹ Bürger fast allesamt abgehört werden). Ein Text über Palästina berührt unweigerlich umstrittene Themen. Schon die Definition des Gebiets – wir haben darüber in einer Mail gesprochen – ist problematisch. Allein eine Stadt bei dem einen Namen zu nennen und nicht bei dem anderen, kommt in dieser Region einer Kriegserklärung gleich, und selbst wenn ich sie im Text nicht erwähnen würde, sondern nur das Westjordanland und Gaza, müsste ich dennoch von Sperranlagen, Siedlern und der Macht der israelischen Armee sprechen. Trotzdem hatte ich mir vorgenommen, das Risiko einzugehen und den Text zu schreiben; ich hatte schon ein Gerüst und ein paar Probeseiten und habe das Projekt einer Zeitschrift vorgeschlagen, mit der ich zusammenarbeite, aber es wäre vielleicht unverantwortlich. Das Risiko, von meiner Familie getrennt zu werden, ist zu groß, und ich bin dazu nicht bereit. Gestern Abend waren zwei israelische Freunde bei uns zum Essen, die sich für die Menschenrechte engagieren, und beide haben mir davon abgeraten. Niemals habe ich aus Gründen der Zensur schweigen müssen, aber ich glaube, ich habe keine Wahl. Ich umarme Dich und bitte um Entschuldigung für die vergeudete Zeit. Und natürlich bist Du immer willkommen. Hoffentlich kommst Du und lernst das Land Deiner Vorfahren kennen, es lohnt sich sehr, trotz allem.«
jaffa–santiago: 24. januar
Der Schriftsteller-in-Jaffa hält die Idee ganz und gar nicht für abwegig, durchzustreichen und mit schwarzen Balken zu arbeiten, anonym, ohne Unterschrift, aber er glaubt, »die geschwärzten Wörter unterstreichen die Unmöglichkeit,