Heimkehr ins Unbekannte. Lina Meruane
sie zurückkehren dürften, nicht wieder bauen könnten. Ein Park, in dem die Geschichte mit Bäumen verkleidet wurde. Doch finden sich dort noch die Spuren der Räumungen, die Fundamente der fortgerissenen Häuser. Und die Olivenbäume, sagt Hamza, wachsen weiter, wo sie stehen, beladen ihre Äste mit Oliven, obwohl es niemanden gibt, der sie erntet. Dann geht der junge Fast-Palästinenser, und auch ich gehe an dem Abend nach Hause, suche auf dem Bildschirm nach diesem Stadtfriedhof, den im virtuellen Raum jemand als »Niemandsland« bezeichnet. Von wegen niemand, wird geantwortet, es sei palästinensisches Land, völkerrechtswidrig usurpiert, und ein anderer führt ins Feld, den Park habe eine wohlhabende kanadische Zionistengemeinde finanziert, in der Absicht, die Vergangenheit auszulöschen. Nach Yalo fahren und Hamzas verschwundenes Haus besuchen, denke ich und lasse im Geist Brände, Erdbeben, Überschwemmungen und andere Naturereignisse vorbeiziehen, Leitfaden der palästinensischen Verluste. Dieses Verschwinden geschah jedoch von Menschenhand. Das Zerstörungswerk geistert durch meine Fantasie, bis der Student eines Nachmittags wieder zu mir kommt. Er überbringt eine Nachricht seiner Mutter aus Jordanien. Die Empfehlung trägt einen Namen, den ich noch nie gehört habe und der auf Hamzas Lippen nach loos klingt oder vielleicht nach loss, das englische Wort für Verlust. Aber loos oder loss bezeichnet auf Arabisch eine rohe Mandel mit dicker grüner Samthaut, die man ungeschält isst, mit etwas Salz, vielleicht Olivenöl. Selbst mein Vater, ein großer Mandelesser wie zuvor schon sein Vater, kennt sie nicht, als ich ihn danach frage. Keine meiner Tanten kennt sie. Ich werde das Wort so niederschreiben, wie es im Mund des jungen Fast-Palästinensers klingt. Wochen später entdecke ich sie auf einem Markt in Bethlehem, auf einem Metallwägelchen, inmitten einer Gasse. Ich werde ein Päckchen dieser rauhen Mandeln kaufen und ihm als Geschenk mitbringen, ohne zu gestehen, dass ich sie einfach nicht hinunterschlucken konnte, diese dicke Frucht des Verlustes, von seiner Mutter empfohlen.
winziges gepäck
Für die Reise zu packen wird zu einem langen Abschied vom Gepäck. Tagelang liegt der offene Koffer vor mir, in den ich nach und nach meine Erinnerungen lege. Aber je näher das Datum rückt, desto mehr reduziert sich der Inhalt, damit Platz bleibt für die Ahnung von dem, was kommt. Ich nehme einen kleineren Koffer, werfe aber immer weiter Ballast ab, bis nur noch das Unerlässliche übrig ist, wenig Kleidung, das eine oder andere Geschenk, eine kurze Geschichte des Konflikts, die mir eine Freundin nach dem Einsturz der Türme geschenkt hatte. Ich sehe auf das Erscheinungsdatum. September 2002. Hinein kommen die Bücher, um die mich mein Freund-der-Schriftsteller gebeten hat. Hinein, aber gleich wieder heraus kommt ein Dokumentarfilm, den mir eine deutsche Frau geschickt hatte, die nicht nur in Beit Jala gelebt, sondern auch an der Chile-Schule unterrichtet hatte. Ich sehe mir die Amateurdokumentation noch einmal an und frage mich, ob mein Vater sich die Kopie angesehen hat, die ich ihm geschenkt habe. Ich fische die Mailadresse der Deutschen-Freundin-einer-Freundin heraus und schreibe ihr von meiner Reise. Sie antwortet nicht, und ich begreife, dass ich meinen winzigen Koffer schließen muss.
who are you
Das Datum der Londonreise rückt näher, und immer öfter befällt mich Schwindel beim Gedanken an den freien Fall ins Ungewisse. Meine Tante-die-Ältere lässt mir über meinen Vater ausrichten, ich solle die entfernten Tanten besuchen und ihnen Geschenke mitbringen. Solle Wolljacken kaufen oder ein Seidentaschentuch oder ein Portemonnaie, das meinen geschrumpften Koffer nicht belaste. Sie werde es mir später zurückzahlen. Heb die Rechnung auf, betont die überkorrekte Immigrantentochter, meine Tante-die-Erstgeborene. Und ich solle sie so bald wie möglich anrufen, lässt sie ebenfalls ausrichten. Mein Vater diktiert mir eine Telefonnummer und verlangt, peinlich genau, dass ich sie wiederhole. Langsam sage ich die Ziffern auf, und ein Gedanke kommt mir in die Quere: In welcher Sprache wir uns verständigen werden. Natürlich auf Spanisch, sagt mein Vater, Maryam hat ein paar Jahre in Südchile gelebt. Das ist lange her, erklärt er, aber ein wenig spricht sie noch. Ich lasse die Nummer zwei, drei Tage auf dem Tisch liegen. Die Frist läuft ab und lässt mir schließlich keine Wahl. Ich zwinge mich dazu, sie zu wählen und nach ihr zu fragen. Hallo, sage ich, Maryam? Maryam, höre ich am anderen Ende wie ein Echo, und dann einen langen Satz auf Arabisch, der eine Frage oder ein Totengesang sein könnte. Hallo, wiederhole ich, hello, noch einmal, English?, und ich versuche, marhaba zu sagen, aber meine Zunge verheddert sich. Ich wiederhole: Maryam. Am Apparat ist wohl die andere Schwester, die niemals Beit Jala verlassen hat, die nur Arabisch spricht, mir aber ein paar Brocken steifes Englisch hinwirft und mir zu verstehen gibt, zumindest entnehme ich das ihrem Phrasieren, Maryam sei zu Besuch bei einem kranken Verwandten und werde um die und die Uhrzeit oder am nächsten Tag zurück sein. Eine Pause, dann ein gedehntes who are you, und ich versuche zu erklären, wer ich zu sein glaube. Da entsteht Erregung in der Leitung, das Beben einer Zunge, die zu übersetzen versucht, was ich ihr da sage, und die unter dem Druck der Antwort etwas herausschreit, das einzige Wort, was sie zur Hand hat. Aaaaah!, family!, sagt sie, in heftigster Bewegung, family!, family!, und ich, die ich nichts weiter zu sagen weiß, entgegne yes, yes, und fange zu lachen an, denn dieses Wort tönt so laut und verwirrend, und zugleich liegt eine gewaltige Leere von Jahren und Meer darin, von möglicher Armut, doch bei jedem family, das sie ruft, muss ich mehr lachen, sage yes, family, yes, als hätte ich alle anderen Wörter vergessen. Und ich weiß nicht mehr, ob ich ihr in diesem telefonischen Pingpong gesagt habe oder ob sie verstanden hat, dass ich reisen werde oder zurückkehren, dass ich sie besuchen möchte.
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