Zeit für Märchen. Hansi Hinterseer

Zeit für Märchen - Hansi Hinterseer


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heraus, und wie sie alle wieder im Tageslicht waren, sprachen sie: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich zu.« Da fuhr der Berg zusammen, und es war kein Eingang mehr an ihm zu sehen. Danach verschwanden die Zwölfe wieder genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.

      Als der arme Kornhändler sie ganz aus den Augen verlor, stieg er vom Baum herunter und war neugierig, was wohl im Berge Heimliches verborgen wäre. Also trat er davor und sprach: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf!« Der Berg tat sich tatsächlich auch vor ihm auf. Da trat er hinein und stand in einer Höhle voll Silber und Gold, hinter dem Gold und dem Silber lagen große Haufen Perlen und funkelnde Edelsteine, wie Sand aufgeschüttet. Der Arme wusste gar nicht, was er anfangen sollte und ob er sich etwas von den Schätzen nehmen durfte. Endlich füllte er sich die Taschen mit Gold, die Perlen und Edelsteine aber ließ er liegen. Als er wieder herauskam, sprach er gleichfalls: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich zu!« Da schloss sich der Berg, und er fuhr rasch mit seinem Karren nach Haus. Nun brauchte er sich nicht mehr zu sorgen und konnte mit seinem Gold für Frau und Kinder Brot, Butter und auch Wein kaufen, lebte fröhlich und redlich, gab den Armen und tat jedermann Gutes.

      Als aber das Geld zu Ende war, ging er zu seinem Bruder, lieh sich einen Scheffel und holte sich von Neuem Gold aus dem Inneren des Berges Semsi. Doch rührte er von den großen Schätzen nichts an. Wie er sich zum dritten Mal etwas holen wollte, borgte er sich bei seinem Bruder abermals den Scheffel. Der Reiche war schon lange neidisch auf das Vermögen seines Bruders und auf den bescheidenen, aber schönen Haushalt, den er sich eingerichtet hatte, und konnte nicht begreifen, woher der Wohlstand kam und was sein Bruder jedes Mal mit dem Scheffel anfing. Da dachte er sich eine List aus und bestrich den Boden mit Pech, und wie er das Maß zurückbekam, so war ein kleines Goldstück darin hängen geblieben. Alsbald ging er zu seinem Bruder und fragte ihn: »Was hast du mit dem Scheffel gemessen?« »Korn und Gerste«, sagte der andere. Da zeigte er ihm das Goldstück und drohte ihm, wenn er nicht die Wahrheit sagte, so wollte er ihn bei Gericht verklagen. Da erzählte der Ärmere ihm nun, wie es zugegangen war. Der Reiche aber ließ gleich einen Wagen anspannen, fuhr hinaus und gedachte, ganz andere Schätze mitzubringen.

      Als er vor den Berg kam, rief er: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf.« Der Berg tat sich auf, und er ging hinein. Da lagen die Reichtümer vor ihm, und er wusste lange nicht, wohin er als Erstes greifen und was er zuerst an sich raffen sollte. Endlich lud er Edelsteine auf, so viele er tragen konnte. Er wollte seine Last hinausbringen, weil sein Herz und Sinn jedoch ganz erfüllt von den Schätzen waren, hatte er darüber den Namen des Berges vergessen und rief: »Berg Simeli, Berg Simeli, tu dich auf.« Das war jedoch nicht der richtige Name, und der Berg regte sich nicht und blieb verschlossen. Da ward ihm angst, aber je länger er angestrengt nachdachte, desto mehr verwirrten sich seine Gedanken, nun halfen ihm alle Schätze nichts mehr. Am Abend schließlich tat sich der Berg auf, und die zwölf Räuber kamen herein. Als sie ihn sahen, lachten sie und riefen: »Vogel, haben wir dich endlich! Meinst du, wir hätten nicht gemerkt, dass du schon zweimal hereingekommen bist, um uns zu bestehlen? Wir konnten dich jedoch nicht fangen, zum dritten Mal kommst du uns nun nicht wieder heraus.« Da rief er: »Ich war’s nicht! Mein Bruder war’s!« Aber er mochte bitten um sein Leben und sagen, was er wollte, sie nahmen den reichen Geizhals mit, und er musste bis an sein Lebensende schwerste Hilfsarbeiten in den Lagern und Kellern der Räuberbande tun. Nach Hause kehrte er nie wieder zurück.

       Jacob und Wilhelm Grimm

       Die Geschichte vom Rübezahl

       Der Riese Rübezahl ist eine sehr bekannte Märchenfigur, die vorrangig nicht Angst und Schrecken verbreiten sollte, sondern eine Art »Retter der Armen und Rächer gegen das Unrecht« darstellte. Der Berggeist erscheint den Menschen in verschiedener Gestalt. Insbesondere zeigt er sich gerne als Mönch in aschgrauer Kutte oder als Bergmann, Handwerker und in ähnlicher Gestalt und Verkleidung, jedoch auch in Tiergestalt oder als Gegenstand (Baumstumpf, Stein, Wolke). Gegen gute Menschen ist er im Allgemeinen freundlich, lehrt sie die Heilkunst der Kräuter und beschenkt insbesondere Arme. Wenn man ihn aber verspottet, rächt er sich schwer, etwa durch Unwetter. Bisweilen werden Wanderer von ihm in die Irre geleitet. Er soll einen Garten mit Wunderkräutern besitzen, den er gegen Eindringlinge verteidigt. Bescheidene Geschenke des Berggeistes wie Äpfel oder Laub können durch seine Macht zu Gold werden, umgekehrt verwandelt er gelegentlich Geld, das er bezahlt hat, in eine wertlose Währung.

       Eine dieser überlieferten Geschichten erzählt von einem fahrenden Händler. Ja, die gab es früher sehr häufig, denn die Menschen konnten ja nicht einfach mit dem Auto in ein Einkaufscenter sausen. Damals waren diese Händler oft willkommene Abwechslung im Alltag der Menschen, die dadurch auch die eine oder andere Neuigkeit aus den Nachbarorten erfuhren. Denn auch Telefon oder Internet waren damals ja noch so etwas wie ein »Märchen«.

      Rübezahl, der Geist des Riesengebirges – das liegt übrigens nicht in Tirol, sondern an der tschechisch-polnischen Grenze –, hatte seine Freude daran, den Menschen allerlei Streiche zu spielen. Dabei erwies er aber den Armen mancherlei Wohltaten und strafte die Hartherzigen und Geizigen. Einmal wanderte ein armer Glashändler mit einer schweren Kraxe voller Glasware auf dem Rücken über das Gebirge. Da er recht müde geworden war, hätte er sich gerne etwas ausgeruht, aber nirgends war ein Felsvorsprung oder dergleichen zu sehen, worauf er seine Last hätte absetzen können. Rübezahl, der ihn eine Weile beobachtet und bald seine Gedanken erraten hatte, verwandelte sich schnell in einen Baumstamm, der nun am Wege lag. Erfreut ging der müde Wanderer darauf zu, setzte seine Last ab und sich selbst auf den Stamm, um sich zu erholen. Kaum aber saß er da, so rollte der Stamm unter ihm weg den Berg hinunter und der Händler und die Scherben des Glases lagen auf dem Boden. Traurig erhob sich der arme Mann, und als er seine zerbrochenen Schätze betrachtete, fing er bitterlich zu weinen an. Da kam Rübezahl, der wieder menschliche Gestalt angenommen hatte, auf ihn zu und fragte nach der Ursache seines Kummers. Treuherzig erzählte der Händler sein Unglück und dass er bei seiner Armut nicht die Mittel zum Ankauf neuer Vorräte besitze. Rübezahl teilte dem Traurigen nun mit, wer er sei und dass er ihm helfen wolle, damit er wieder neue Glaswaren kaufen könne.

      Nun verwandelte sich Rübezahl vor den Augen des erstaunten Mannes in einen Esel und gebot ihm, ihn zur nächsten Mühle zu führen. Der Müller bräuchte gerade einen Esel und würde ihm sicher gerne ein so schönes Tier, wie er es sei, abkaufen. Dann solle er sich aber um nichts weiter kümmern, sondern sich mit dem Gelde schnell fortmachen. Der Mann führte nun den Esel zur nächsten Mühle, und nachdem der knausrige Müller noch einen Taler vom geforderten Kaufpreis abgehandelt hatte, wurde das Grautier sein Eigentum. Der Händler nahm das Geld – er hatte noch zwei Taler mehr bekommen, als seine Glaswaren gekostet hatten – und machte sich damit schnell aus dem Staube. Der Müller freute sich recht über den guten, billigen Kauf, führte das muntere Eselein in den Stall und gab dem Knechte den Auftrag, demselben Futter zu geben. Darauf ging er in seine Stube. Sogleich aber kam ihm der Knecht, vor Furcht und Entsetzen zitternd, nachgelaufen und sagte: »Herr, der neue Esel ist verhext! Ich habe ihm Heu gegeben, aber da rief er: ›Ich fresse kein Heu! Ich will Braten und Kuchen haben!‹« Der Müller wollte die Geschichte nicht glauben und ging mit in den Stall. Dort stand das Eselein ganz ruhig und still. Der Müller nahm nun eine Handvoll Heu, hielt es dem Tier hin und streichelte dasselbe. Der Graue aber nahm ihm das übel, schlug mit dem Vorderfuß nach dem Müller und rief wieder: »Ich will Braten und Kuchen! Ich will Braten und Kuchen!« Entsetzt wich der Müller zurück. Der Esel aber drehte sich um, gab ihm noch einen Tritt mit den Hinterbeinen, sodass er ins Heu kugelte, und sprang dann durch die offene Tür hinaus ins Freie, wo er bald verschwunden war. Nachdem der Knecht seinem Herrn wieder auf die Beine geholfen hatte, rieb dieser sich die schmerzenden Glieder und jammerte: »Hätte ich doch meine zwölf Taler wieder! Mein schönes Geld!« Dem Müller aber war recht geschehen, denn er war geizig und hartherzig und hatte noch am Tage vorher einen armen Bauern um zwölf Taler betrogen, und so hatte Rübezahl den Geizigen bestraft und dem braven Glashändler sein Tagwerk erleichtert.

       Hermann Weinert

       Die


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