Der gute Deutsche. Christian Bommarius
als solcher pochte er auf einen in Europa anerkannten Grundsatz: Pacta sunt servanda. Kein anderer Bewohner deutscher Kolonien hatte sich je derart laut zu Wort gemeldet; nicht nur von den Deutschen in Kamerun, sondern vor allem auch im Kaiserreich wurde er gehört und verstanden – denn dank seiner in Deutschland genossenen Ausbildung pochte er auf Deutsch. Und er bediente sich dabei einer Waffe, die – wie damals auch das Maxim-Maschinengewehr – nur Kulturvölkern zu Gebote stand, der Öffentlichkeit. Er schaltete deutsche Zeitungen ein, deutsche Anwälte sowie Abgeordnete des Berliner Reichstags und initiierte eine Kampagne, deren Botschaft so klar wie unbestreitbar war: Vertragstreue. Mit ihr pflegten Kolonialbeamte die Prügelstrafe am Bezirksgericht Duala zu begründen, die dort freitags sehr großzügig verhängt und samstags, am »Prügeltag«, vollstreckt wurde, hatten sich doch die Duala 1884 der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfen. Mit ihr rechtfertigten sie sogar die geplante Massenenteignung in Duala, denn auch die Verwaltung war im Sommer 1884 auf sie übergegangen. Es war also nicht abwegig, dass auch Manga Bell sich in Eingaben an die Kolonialregierung auf den Vertrag berief. Das allein hätten die Kolonialverwaltung in Kamerun, das Reichskolonialamt und die Reichsregierung vermutlich noch ertragen. Eingaben dieser Art waren in den Kolonien an der Tagesordnung und wurden in der Regel kaum beachtet, gelegentlich allerdings wurden die Petenten mit Prügelstrafe oder Verbannung belegt. Doch die Mobilisierung der deutschen Öffentlichkeit, die an der deutschen Kolonialpolitik erheblich zu zweifeln begann, warf ein besonderes Problem auf. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der Manga Bell vor aller Augen auf dem Recht bestand, machte jedermann klar, dass das vermeintliche Ziel des Kolonialismus – die kulturelle Hebung der sogenannten Eingeborenen – hier auf vollendete Weise erreicht worden war. Und seine Beharrlichkeit beseitigte alle Zweifel, dass Manga Bell den tiefsten Sinn des Rechts – die gewaltfreie Konfliktlösung – besser als seine deutschen Widersacher verstanden hatte.
Manga Bells friedlicher Kampf bedeutete für die deutsche Kolonialpolitik ein Dilemma. Wie alle Kolonialmächte beteuerte auch das Deutsche Reich, einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der afrikanischen Bevölkerung durch Beendigung der Sklaverei und der Willkürherrschaft, den Aufbau eines Gesundheitssystems und die Einrichtung von Schulen leisten zu wollen. In der Praxis diente dieser humanitäre Aspekt aber vor allem als Deckmantel der Gewalt, auf der die Herrschaft beruhte. Es ging nicht um Zivilisierung, sondern um absolute Unterwerfung zwecks Ausbeutung der wirtschaftlichen und humanen Ressourcen. Für Manga Bell aber war Zivilisierung kein Vorwand, sondern eine Tatsache und die Achtung des Rechts ihr bester Beweis. Indem er auf dem Recht der Duala bestand, hat die Kolonialmacht die Herrschaft über ihn verloren. Was blieb, war die Gewalt.
* Bei den Zitaten handelt es sich ausschließlich um Auszüge aus historischen Quellen, die nicht einzeln nachgewiesen werden. Im Literaturverzeichnis ab Seite 146 finden sich Angaben zu allen relevanten Quellen und Studien.
I.
DIE DEUTSCHEN KOMMEN. Zwei Dampfpinassen schieben sich langsam den Wuri hinauf, Landungsboote mit dreihundert Matrosen im Schlepptau. Admiral Knorr hat sie geschickt, dessen Fregatten Bismarck und Olga zu groß sind für die Fahrt auf dem Wuri und deshalb im Kamerunästuar liegen, einige Meilen vor Duala, einer Ansammlung benachbarter Dörfer. Es ist der 20. Dezember 1884. Max Buchner, seit Monaten der Vertreter Nachtigals, weil der nun auch in Bimbia, Malimba, Klein-Bantanga und Kribi an der westafrikanischen Küste die deutsche Flagge hissen muss, notiert in seinem Tagebuch: »Der Tag der Rache.« Bald nach der Unterzeichnung des Vertrags hatte sich nämlich herausgestellt, dass einige Vertreter der Duala den Vertrag lieber mit England geschlossen hätten. Kum’a Mbape beispielsweise, auch Lock Priso genannt, hatte den Vertrag nicht unterzeichnet; dennoch hatten die Deutschen unter Hochrufen und Gewehrsalven auch in seinem Dorf – Hickory-Town, wie die Engländer sagen, Bonaberi für die Duala – ihre Flagge entrollt. Lock Priso ist zwar kein King, aber immerhin Headman in Hickory-Town, zwar King Bell zur Gefolgschaft verpflichtet, aber im Herzen mehr auf der englischen Seite. Er hatte am 16. Dezember mit seinen Leuten die Siedlung King Bells – Bell-Town bzw. Bonanjo – überfallen und niedergebrannt, um den Deutschen Widerstand zu leisten. King Bell war geflohen, und Buchner – der King Bell für ein »überaus gutes Muster eines Negers« hält – hatte den mit seinem Geschwader vor der afrikanischen Westküste kreuzenden Admiral Knorr zu Hilfe gerufen. Jetzt landen dessen bewaffnete Matrosen am Strand von Hickory-Town, um, wie Buchner schreibt, »die Ehre der deutschen Flagge und die deutsche Oberhoheit durch grosses Schiessen zu erhärten«. Das gelingt. Hickory-Town wird niedergebrannt, und auch in Joss-Town, das sich mit Lock Priso gegen King Bell verbündet hatte, gehen die Häuser in Flammen auf. King Bell erscheint mit seinen Kriegern auf dem Schlachtfeld, um den Deutschen beim Plündern zu helfen. Aber Buchner kommt auch ohne ihn zurecht: »Das Haus des Lock Priso wird niedergerissen, ein bewegtes malerisches Bild. Wir zünden an. Ich habe mir aber ausgebeten, dass ich die einzelnen Häuser vorher auf ethnographische Merkwürdigkeiten durchsehen darf. Meine Hauptbeute ist eine große Schnitzerei, der feudale Kanuschmuck des Lock Priso, der nach München kommen soll.«
Das »große Schießen«, die erste Schlacht deutscher Soldaten seit dem deutsch-französischen Krieg vierzehn Jahre zuvor, ist für die Deutschen also ein voller Erfolg. Rechte Freude aber empfindet Buchner trotz der hübschen Beute nicht. Er fühlt sich seit der Abreise Nachtigals ein wenig verloren, vielleicht, weil er nicht ganz versteht, was er hier in Duala eigentlich soll, umgeben vom versumpften Mangrovengürtel, in diesem feuchtheißen Tropenklima, das dem gebürtigen Münchner so gar nicht behagt. Seine Aufgaben wurden ihm zwar von den Beamten in Berlin erklärt. Er soll im Schutzgebiet Kamerun, das vorläufig aus nichts anderem als den Dörfern Dualas und anderen Orten entlang der Küste besteht, die deutsche Flagge bewachen, zur Not die Gemüter beruhigen und insbesondere die deutschen Faktoreien der Hamburger Handelshäuser C. Woermann und Jantzen & Thormählen beschützen. Aber Schutz ist leichter gesagt als getan, wenn man der einzige Beschützer ist, versehen mit nur zwei Revolvern, einem Drilling, einem Repetiergewehr und der Kriegsflagge: »Für die Agenten der deutschen Firmen war ich eine Enttäuschung, und dass ich ohne Truppe zurückblieb, erregte eine Besorgnis.« Denn was soll er tun, »wenn die Neger rebellisch« werden? Von den einundzwanzig Mitgliedern der deutschen Kolonie, die meisten von ihnen Agenten, wäre im Ernstfall nur wenig Hilfe zu erwarten, schon gar nicht natürlich von den dreißig englischen Agenten in Duala, die noch immer hoffen, die Chiefs der Duala auf ihre Seite ziehen und den Deutschen die Kolonie entreißen zu können. Selbst auf den »vortrefflichen, starken« Peter kann sich Buchner nicht unbedingt verlassen. Den Jungen vom Stamm der Kru hat er sich von einem deutschen Agenten als »Burschen zum Hausbedarf« geliehen, »eine Perle, eine Zierde seines Geschlechtes, einer der wenigen besten Neger, die ich jemals gesehen habe«. Doch schon bald bemerkt Buchner: »Musterhaft ehrlich ist er nicht«. Er stiehlt, geschickt zwar und »fast mit Anmut«. Aber auch das verdient Strafe. Buchner lässt ihn also »ein wenig durchhauen«, wenngleich mit Bedauern.
Immerhin kommen Buchner, als es nach einigen Monaten tatsächlich ernst wird und die englandfreundlichen Duala gegen die deutschlandfreundlichen Duala die Waffen ergreifen, die Korvetten des Admirals Knorr zu Hilfe. Allerdings verschwinden sie gleich wieder und lassen den Interimistischen Vertreter des Deutschen Reichs an den Gestaden des Wuri zurück, der sich – untergekrochen in der Wellblechhütte des Woermann-Agenten – danach noch ein halbes Jahr durch den »wirren struppigen Ölpalmenwald« namens Duala quält, angewidert von dem »stinkenden Morast«, der die Schlucht zwischen Bell- und Akwa-Town füllt, und von Fieberschüben und der Ruhr zunehmend zerrüttet.
Vielleicht würde sich seine Stimmung aufhellen, wüsste Buchner von der wundersamen Vergrößerung der Kolonie in dieser Zeit. Denn während Nachtigal an der westafrikanischen Küste Kreuze unter Schutzverträgen sammelt und der einsame Buchner machtlos mit ansehen muss, wie die Duala »schnöden Wuchergewinn aus ihrem Handelsmonopol« einstreichen, den die deutschen Handelshäuser gerne selber hätten, treffen sich im Winter 1884/85 in Berlin auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck die europäischen Kolonialmächte und die Vereinigten Staaten von Amerika, um dem vor einigen Jahren gestarteten Scramble for Africa endlich ein paar ihnen nützliche Regeln zu geben. Da ist der Wettlauf eigentlich schon fast zu Ende, mit England und Frankreich auf den vordersten Plätzen. Denn bereits 1881 hat Frankreich Tunesien und das Gebiet der heutigen