Der Günstling. Helmut Stalder
hinwegsetzen, schliessen alleine Verträge und Bündnisse ab und entscheiden oft auch in militärischen Belangen eigenständig. Die begrenzte Zentralgewalt des Landrats und des Landeshauptmanns sowie die Rivalitäten unter den Zenden führen zu anhaltenden Reibereien, aber doch ist der Landrat – vergleichbar mit der eidgenössischen Tagsatzung – das Band, das den losen Walliser Staatenbund im Rhonetal zusammenhält.
Drei sich überlagernde und sich durchdringende Konflikte beherrschen das Geschehen und spitzen sich in den Jahren von Stockalpers Kindheit und Jugend zu: Aussenpolitisch ist es das Verhältnis der Landschaft Wallis zur Eidgenossenschaft, zu den benachbarten Orten und zu den angrenzenden Mächten Spanien-Mailand auf der einen, zu Savoyen sowie Frankreich auf der andern Seite. Innenpolitisch sind es die konfessionelle Spaltung und die Richtungskämpfe zwischen Reformierten und Katholiken. Und institutionell ist es die Auseinandersetzung um die fürstbischöfliche Landesherrschaft und die kommunale Herrschaft der Zenden, des Landrats und des Landeshauptmanns.
Seit Anfang des 15. Jahrhunderts ist das Wallis ein sogenannter Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft und mit ihr sowie den benachbarten Herzogtümern durch mehrere, zum Teil divergierende Bündnisse verbunden. Massgeblich für das Verhältnis zu den Nachbarn ist seit jeher die geostrategische Lage des Wallis zwischen den verschiedenen Einflusssphären.13 Gut zwanzig unterschiedlich intensiv begangene Pässe verbinden das Wallis mit seinen Nachbargebieten: Nach Osten führen der Furkapass in die katholische Zentralschweiz und der Nufenenpass über das Bedrettotal in die von den innerschweizer Orten beherrschte Leventina. Nach Norden ins reformierte Bern öffnen sich ein gutes halbes Dutzend Alpenübergänge, darunter der Grimselpass mit seiner Fortsetzung über den Brünig nach dem katholischen Luzern, der Lötschen-, der Gemmi-, der Rawil- und der Sanetschpass. Gegen Süden sind es sieben Passrouten: Der bedeutende Simplonpass sowie der Gries- und der Albrunpass münden ins Val d’Ossola und damit ins Herrschaftsgebiet des spanisch-habsburgischen Herzogtums Mailand, ebenso weiter westlich der Antrona- und der Monte-Moro-Pass. Und schliesslich ins piemontesische Aostatal und somit ins Gebiet des Herzogtums Savoyen führen der Theodulpass und der seit den Römern wichtige Grosse Sankt Bernhard. Auf der Längsachse, dem Lauf der Rohne folgend, bildet das Wallis mit dem Simplonpass im Osten und dem Genfersee im Westen eine direkte Verbindung von den Handelsplätzen Mailand und Venedig in Oberitalien nach Frankreich, Burgund und weiter nach Flandern an die niederländische Küste.
Lange lag die Simplonachse im Schatten der Weltgeschichte und wurde vom grossen überregionalen Warenaustausch weitestgehend gemieden. Doch mit dem Aufstieg Englands und vor allem der Niederlande zu Seemächten und mit der Öffnung neuer, globaler Meeresrouten verlagerten sich die Handelsaktivitäten in den Westen des Kontinents in Richtung Atlantik. Dadurch intensivierten sich die europäischen Verkehrsströme auf der westlichen Achse zwischen London und Antwerpen, zwischen den traditionellen Märkten und Messen in Flandern und der Champagne sowie in Norditalien mit den Handelsplätzen Mailand, Venedig und Genua.14
Um 1600 rücken die Alpenpässe in den Fokus der zwei europäischen Grossmächte Frankreich und Spanien. Auf der geostrategischen Landkarte kommt ihnen nun eine ähnliche Bedeutung zu wie den Meerengen, die es zu kontrollieren gilt. Insbesondere die Simplonroute auf der Achse Nordwest-Südost gerät in den Brennpunkt der beiden Rivalen. Seit dem Zerfall des Weltreichs Kaiser Karls V. und der Erbteilung 1557/58 gehören zur spanischen Linie des Hauses Habsburg: das Kernland Spanien auf der Iberischen Halbinsel, die Königreiche Neapel und Sardinien in Süditalien, das Herzogtum Mailand als stabile Machtbasis in der Lombardei sowie die spanischen Niederlande am Ärmelkanal. Dazwischen liegt die spanische Franche-Comté, die Freigrafschaft Burgund. Spanien kann den Provinzen in den Niederlanden zwar auf dem Seeweg Truppen zuführen, viele Heeresverbände werden jedoch in Italien rekrutiert und sind in Sizilien, Neapel und Mailand stationiert. So sind für Spanien die alpinen Landkorridore als Nachschub- und Verbindungslinien zwischen den Herrschaftsgebieten unerlässlich. Einerseits sind es die Pässe in Tirol, insbesondere die Bündner Pässe und der Sankt Gotthard, die Spanisch-Mailand mit den habsburgischen Stammlanden im Osten und den spanisch-habsburgischen Gebieten im Norden und Nordwesten verbinden und als »spanische Strasse« gelten.15 Von grossem Interesse ist aber auch der Simplon-Passweg, der via die Verlängerung über den Col du Jougne im französischen Jura die direkte Verbindung von Genua und Mailand in die spanische Freigrafschaft Burgund und weiter nach den spanischen Niederlanden ermöglicht.16
Frankreich unter der Herrschaft der Bourbonen seinerseits sieht sich von spanischen Gebieten eingekreist, sucht die spanische Dominanz zu brechen und will vom französischen Kernland aus auf angrenzende Gebiete ausgreifen. Im Norden gegen Flandern und Holland, im Osten gegen die Freigrafschaft Burgund, das Elsass und Schwaben, im Süden gegen Turin und Mailand. In Oberitalien ist Frankreich eine Koalition eingegangen mit der Republik Venedig, die sich von Bergamo im Westen bis nach Istrien im Osten erstreckt. Auch für Frankreich sind die Routen über die Alpenpässe von strategischer Bedeutung für seine Interessen in Oberitalien. Vom wichtigen Handelszentrum Lyon aus führt die »Route de Piémont« via Chambéry über den Mont Cenis sowie via Briançon über den Montgenèvre nach Turin. Ferner gibt es die »Route de Savoie« über Genf, das Chablais, den Kleinen Sankt Bernhard und das Aostatal nach Turin. Eine für Frankreich wichtige Route führt zudem von Lyon via Genf und das Unterwallis über den Grossen Sankt Bernhard und das savoyische Aostatal nach Turin, die andere durch das Wallis über den Simplon in die Lombardei und nach Venedig.
Die exponierte geostrategische Lage des Wallis spiegelt sich in den Verträgen und Allianzen, die es mit seinen Nachbarn über die Zeit geschlossen hat.17 Seit 1416 ist es durch ein Burg- und Landrecht mit den sieben katholischen Orten Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Luzern, Freiburg und Solothurn verbunden, ein bilateraler Vertrag zur Stabilisierung der Beziehungen und zur Sicherung der Freundschaft. Das Bündnis, das auch konfessionelle Fragen betrifft, wurde 1529 erweitert und seither immer wieder erneuert, so auch 1604 kurz vor Stockalpers Geburt. Dabei versuchten die katholischen Kantone vergeblich, das Wallis in ihr Bündnis mit Spanien-Mailand einzubeziehen, das neben Solddiensten vor allem den Truppendurchzug auf dem »Camino de Suizos« hauptsächlich über den Gotthardpass in verschiedenen Varianten nach Basel und den Rhein entlang nach den spanischen Niederlanden gewährleistete. Mit Spaniens Gegenspieler Frankreich ist das Wallis ebenfalls eng verbündet, seit es sich nach der Niederlage der Eidgenossen bei Marignano als Zugewandter Ort 1516 dem »Ewigen Frieden« zwischen Frankreich und der Eigenossenschaft angeschlossen hatte und 1521 auch Teil des Hilfs- und Soldbündnisses wurde; dieses Bündnis wird 1602 erneuert.
Mit dem Herzogtum Savoyen im Südosten besteht ein einigermassen stabiles Verhältnis, nachdem Herzog Emanuel Philibert von Savoyen alle Ansprüche im Wallis aufgegeben hat. 1536, als er Genf einnehmen wollte, hatte Bern die Waadt erobert und Genf besetzt. Und das Wallis hatte ungeachtet eines bestehenden Bündnisses mit Savoyen das Gebiet von Saint-Maurice bis Evian am südlichen Ufer des Genfersees eingenommen, um den Berner Truppen zuvorzukommen. 1569 im Vertrag von Thonon trat das Wallis Evian und das Tal von Abondance wieder an Savoyen ab, behielt aber das für den durchgehenden Transitverkehr wichtige Gebiet auf der linken Rhoneseite zwischen Saint-Maurice und dem Genfersee.18 Beschleunigt wurde die Einigung mit Savoyen auch durch ein Defensivbündnis, das Savoyen 1560 mit den katholischen Orten geschlossen hatte und seither immer wieder erneuerte. Mit dem reformierten Bern, das sich in diesem Eroberungszug am Ausgang des Rhonetals am rechten Ufer festgesetzt hatte, schloss das Wallis 1589 ein Bündnis, das 1602, 1618 und auch später wieder erneuert wurde, während Bern 1617 mit Savoyen ebenfalls in ein Bündnis trat. Bern schloss 1615 und 1618 zusammen mit Zürich seinerseits ein Bündnis mit der Republik Venedig. Diese war mit Frankreich verbunden und der Kopf der anti-habsburgischen Koalition in Oberitalien. Zudem bestand seit dem Jahr 1600 eine Allianz des Wallis mit den sich zusehends stärker reformierenden Drei Bünden im Osten, eine Alpenlängsverbindung der Zugewandten Orte also, die wiederum der beidseitigen Sorge vor einem Erstarken der Position Spaniens in Oberitalien entsprang.19
Damit befindet sich das Wallis um 1600 in einer ähnlich prekären Lage wie der andere Zugewandte Ort der Eidgenossenschaft, die Drei Bünde im Osten. Dort erlangen die Bündner Alpenpässe, insbesondere San Bernardino, Septimer, Splügen, Maloja, Julier, Bernina und Umbrail, ebenfalls geostrategische Bedeutung. Die bündnerischen Passrouten sind die kürzesten Verbindungen zwischen dem spanisch-habsburgischen