Der Günstling. Helmut Stalder

Der Günstling - Helmut Stalder


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im kriegsverheerten Europa strategische Bedeutung zukommt und dass er in Brig an der Schlüsselstelle sitzt. Die westlichen Alpentransversalen in Tirol und den Drei Bünden sind zu dieser Zeit wegen der Kriegswirren als Handelsrouten praktisch ausgefallen, und auch am Sankt-Gotthard-Pass ist der Transit eingebrochen.36 Dadurch rückt das Wallis zwangsläufig verstärkt ins Kraftfeld von Frankreich und Spanien-Mailand. Diese geopolitisch und wirtschaftlich günstige Konstellation, die Stockalper in ihrer ganzen Tragweite erkennt, gilt es zu nutzen. Wenn es gelingt, die Simplon-Transversale in die Hand zu bekommen, den Handel zwischen Oberitalien und dem westlichen und nördlichen Europa auf diese kürzere und sicherere Route zu ziehen und das Handels- und Speditionsgeschäft zu kontrollieren, dann wären hohe Profite zu machen und grosser Einfluss zu gewinnen.

      1633 sattelt Kaspar Stockalper erneut sein Pferd und macht sich auf eine ausgedehnte, mehrmonatige Geschäfts- und Studienreise, offensichtlich mit dem Plan und dem genauen Ziel, die Voraussetzungen für den Einstieg ins Transitgeschäft zu schaffen. Er reist ins spanische Burgund, durch Frankreich, Belgien, in die spanischen Niederlande nach Flandern und Brabant bis an die Kanalküste, macht sich in den Zentren des Tuch- und Fernhandels mit den Marktverhältnissen und Finanzpraktiken vertraut und knüpft Geschäftskontakte. So geht er eine Partnerschaft mit dem Handels- und Transportkonsortium Johann Claus, Franz Doncquart von Flandern und Balthasar Mys von Antwerpen sowie dem assoziierten Handelshaus der Gebrüder Grimm in Solothurn ein. Urs Grimm handelt mit Salz und Tuch, steht für Frankreich als Hauptmann im Solddienst, hat dadurch gute Beziehungen zum französischen Hof und Interesse am Warenverkehr durch das Wallis.

      Die Firma Doncquart und Mys ihrerseits hatte sich mit tatkräftiger Unterstützung der Stadt Antwerpen um den Transit über den Sankt-Gotthard-Pass bemüht, war aber beim Schultheiss und dem Rat von Luzern aufgelaufen. Diese vergaben das Privileg für Warenlieferungen auf dem Gotthardweg zwischen den Niederlanden und Italien im Juni 1633 exklusiv an die Mailänder Spediteure Annoni, Volpi und Lorenzi. Da kommt Doncquart, Mys, Grimm und Konsorten dieser weltläufige und ehrgeizige angehende Kaufmann Kaspar Stockalper gerade recht. Er sitzt in Brig an der strategisch günstigen Stelle, bietet ihnen die ideale Ausweichroute zum Gotthardpass an und scheint auch über die nötigen Mittel und Möglichkeiten zur Sicherung der Simplonroute und zur Organisation der Warensendungen zu verfügen. Zusammen wollen sie nun den Warentransport auf der Achse Mailand – Simplon – Flandern abwickeln. Grimm führt die Transporte zwischen Lyon und Brig, Stockalper auf dem Teilstück Brig – Simplon – Domodossola und die Mys auf der Strecke Domodossola – Mailand.37 Diese Verbindungen sind eine zentrale Voraussetzung für den Start von Stockalpers Speditionsaktivitäten. Er integriert sich damit in ein Nachrichten- und Beziehungsnetz, das von Oberitalien bis an die Kanalküste reicht, wichtige Handelsplätze abdeckt und seinen Aktionsraum weit über den Simplon, Brig und das Wallis hinaus ausdehnt. Er ist entschlossen, seine Fähigkeiten rasch unter Beweis zu stellen und mit einem aufsehenerregenden Coup ins Transitgeschäft einzusteigen.

       Mit der Prinzessin über den Pass

      Der 25-jährige Kaspar Stockalper erhält dieser Tage vom Turiner Hof einen prestigeträchtigen Auftrag für einen adligen Begleitzug. Es geht um niemanden geringeren als Prinzessin Marie-Marguerite von Carignan, Comtesse de Bourbon, Gattin des Grafen Thomas Franz von Savoyen und im vierten Grad verwandt mit dem französischen König. Diese blaublütige Dame mit vier weiteren Prinzen und fünfzig Edlen im Gefolge soll er über den winterlichen Simplonpass bringen. Er trifft alle möglichen Vorbereitungen für eine sichere und standesgemässe Condutta und organisiert das logistische Grossunternehmen generalstabsmässig. Er bestimmt die Route, erstellt den Ablaufplan, beschafft Bewilligungen, trifft Absprachen, mietet Pferde, Begleitpersonal und Knechte, organisiert Verpflegung und Unterkünfte. Schliesslich sorgt er dafür, dass bekannt wird, welche hochgestellten Persönlichkeiten da so aufwendig reisen, und dass er, Kaspar Stockalper von Brig, die Verantwortung für das ganze Unternehmen trägt.

      Am 28. März 1634 ist es soweit. Die Prinzessin und ihre adlige Gefolgschaft treffen mit hundert Pferden, Kutschen und Gepäckwagen in Brig ein. Dort stehen 150 Reit- und Lastpferde für die Überquerung des verschneiten Simplon bereit. Emsiges Treiben der Begleiter, aufgeregte Schaulustige, Glockengebimmel, dampfende Rosse und der Geruch von Pferdedung erfüllen die Gassen. Stockalper lässt es sich nicht nehmen, den edlen Tross selbst anzuführen. Mit der Unterstützung von 200 Helfern bewerkstelligt er die Condutta über den schneebedeckten Pass nach Domodossola in zwei Tagen, zur vollsten Zufriedenheit der Prinzessin. Nach getaner Arbeit zurück in Brig, setzt er sich hin und hält das Ereignis fest. Sichtlich stolz schildert er auf den ersten Seiten seiner gerade begonnenen Buchhaltung im »Liber primus« den Erfolg seines Gesellenstücks als Transportdienstleister. Es ist ein ausladender, über sechzehn Zeilen arrangierter Satz in gediegenem Latein, in dem er Titel und Verwandtschaftsgrade der noblen Herrschaften ebenso hervorhebt wie die von ihm eingesetzten Mittel, seine immense Arbeit und die überwundenen Ängste und Gefahren. Wenig später übermittelt der Hof ein überschwängliches Dankesschreiben, dazu ein fürstliches Honorar von 200 Silberkronen, etwa der Realwert von siebzehn Kühen, sowie eine goldene Kette als Zeichen der persönlichen Wertschätzung.38

      Viel wichtiger als das kleine Vermögen, das ihm dieser Begleitzug einbringt, ist jedoch die Publizität, die er weitherum für sich und den Simplon erreicht. Er dehnt damit sein Beziehungsnetz schlagartig auf die französischen, savoyischen und lombardischen Fürstenhöfe aus, wird dort nun als wichtige und fähige Figur am Simplon wahrgenommen und kann mit Protektion rechnen. So verleiht ihm der Mailänder Hof nur einen Monat später das Postregal bis in die spanischen Niederlande. Damit erhält er im ganzen spanischen Hoheitsgebiet die Meistbegünstigung und kann so innerhalb von zwölf Tagen Direktfuhren Mailand – Brüssel befördern. Ähnliche Privilegien verschafft er sich bald auch beim französischen Hof und etabliert sich auf diese Weise bei den jeweiligen Entscheidungsträgern an den Ausgangspunkten seiner Route. Wie viel solche persönlichen Beziehungen an die Fürsten- und Königshöfe gelten, zeigt sich auch daran, dass Stockalper noch 1663, fast dreissig Jahre später, auf einer diplomatischen Mission der Eidgenossenschaft in Paris, von einer Nachfahrin der Prinzessin Marie-Marguerite zur Taufe ihres Kindes eingeladen werden wird.39

      Im Frühling 1634 setzen die ersten Warensendungen seiner Compagnons Doncquart, Mys und Grimm und bald auch anderer Handelspartner in Lyon und Mailand ein. Stockalper transportiert Vieh, Käse, Fleisch, Häute, Leder, Felle, Wein, Kerzen, Textilien und Luxusgüter aller Art. Insgesamt 14 Condutten mit 305 Ballen und einem Gesamtgewicht von 32 Tonnen führt er in seinem ersten Jahr über den Pass und stellt seinen Handelspartnern dafür 643 Silberkronen in Rechnung, etwa den heutigen Wert von 35 Kühen. Eine Magd im Hause Stockalper hätte für eine Kuh drei Jahreslöhne auf die Seite legen müssen, Stockalper erwirtschaftet ein Mehrfaches in einem knappen Jahr. Im darauffolgenden Jahr sind es wiederum 14 Sendungen mit 325 Ballen und Einnahmen von 661 Kronen.40 Allerdings ist immer noch Michael Mageran Inhaber des Transportmonopols, sodass Stockalper das Geschäft wohl als eine Art Subunternehmer mit dessen Einverständnis betreibt. Offenbar kommt es nun aber zu einem Interregnum, in dessen Verlauf Mageran das Monopol aufgibt. 1634 zieht er bei den Transporteuren noch die Durchfuhrzölle ein und führt die hundert Silberkronen Monopolgebühr an die Landeskasse ab, danach jedoch nicht mehr. Eine Verlängerung seines Transitvertrags ist aus den Landratsabschieden ab da nicht mehr ersichtlich. Mageran scheint sich nun vermehrt auf den Salzhandel zu konzentrieren; den entsprechenden Vertrag zur alleinigen Salzversorgung des Landes verlängert der Landrat ihm und seinen Söhnen 1637 für weitere zehn Jahre.

      In das sich öffnende Vakuum im Transitgeschäft stösst Stockalper hinein und übernimmt am Pass mehr und mehr den aktiven Part. »Nec tumide nec timide« – »Weder stolz noch furchtsam«, schreibt der Jungunternehmer als Motto seiner Handelstätigkeit auf die erste Seite seines Handels- und Rechnungsbuchs. So macht er sich für die Interessen seiner Kompagnons stark, als diese beim Weihnachts-Landrat 1634 eine Eingabe für die ungehinderte und günstige Benutzung des Simplonpasses machen. Der Landrat regelt daraufhin die Zölle und Gebühren zum Vorteil des Transportkonsortiums und ermahnt die Verantwortlichen der Zenden, die Strassen und Brücken zu unterhalten und auszubessern. Der Landrat verfolgt damit eine aktive Passpolitik, denn die Erleichterungen sollen dazu dienen,


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