Der Günstling. Helmut Stalder
der wenigen Einträge in seinen Geschäftsbüchern, in denen Gefühle zum Vorschein kommen.66
Ihren Tod behandelt er allerdings wie jedes andere Geschäft, ein frühes Zeichen für seine vollkommen emotionslose, rationalistische Beziehung zum Geld. So zieht er vom eingebrachten Frauengut, das seiner anderthalbjährigen Tochter Anna und bei deren Tod der Erbengemeinschaft Zum Brunnen zusteht, die Kosten für die Bestattung Magdalenas, für deren testamentarische Vergabungen und weitere Auslagen ab, sodass sich die Schuld gegenüber der Erbengemeinschaft reduziert. Die Güter veräussert er treuhänderisch für Töchterchen Anna, wobei er sich eine Provision zugesteht. Mit dem zinslosen Geld wirtschaftet er weiter wie mit dem eigenen.67
Lange trauert Stockalper nicht um seine innig geliebte Magdalena, nur wenige Wochen später ist er erneut auf Brautschau, denn die Nachfolge, insbesondere die männliche, soll gesichert werden. Wieder zieht er das Rhonetal hinauf, diesmal nach Münster. Sein Auge hat er auf eine junge Frau aus gutem Haus geworfen: Cäcilia von Riedmatten, Tochter einer angesehenen und wohlhabenden Familie, aus deren Reihen schon viele grosse Persönlichkeiten hervorgegangen sind – Offiziere, Richter, Landvögte, Landeshauptmänner, Bischöfe. Am 5. Mai wird Verlobung gefeiert, kaum zwei Monate nach dem Tod der ersten Frau schliessen Kaspar und Cäcilia den Bund der Ehe. »Am 20. Mai, am Dreifaltigkeitssonntag, feierte ich meine zweite Hochzeit mit der bescheidenen Cäcilia, der einzigen Tochter des hervorragenden und seligen Hauptmanns Peter v. Riedmatten, Bannerherrn des Zenden Goms und Landvogtes von Monthey, und der Cäcilia Im Ahoren. Ihr Vater war der Neffe des Bischofs Adrian und der Kleinneffe des Bischofs Hildebrand. Zu Glis hat Herr Adrian v. Riedmatten, Pfarrer von St. Leonhard, die Ehe eingesegnet in Gegenwart von sehr zahlreichen Verwandten sowohl von Sitten als von Goms und von Burgern von Brig; es waren mehr als 250 Personen. Ich war 28 ½, meine Frau 18 ½ Jahre alt.«68
Die Heirat mit Cäcilia von Riedmatten bedeutet für Stockalper in mehrerer Hinsicht grosses Glück. Sie bringt im Verlauf der nächsten Jahre dreizehn Kinder zur Welt. Obwohl neun von ihnen bereits im Kindesalter sterben und die Eltern auch die andern vier Nachkommen überleben werden, ist der Fortbestand des Geschlechts Stockalper mit einem überlebenden Enkel letztlich gesichert. Ausser ihre Gebährfähigkeit schätzt Stockalper noch andere Qualitäten an seiner Gattin. »Permodesta«, also züchtig und bescheiden, nennt er sie, und offenbar ist sie auch sehr geschäftstüchtig. Energisch führt Cäcilia den stetig grösser werdenden Hausstand, übernimmt bei den häufigen Auslandsabwesenheiten des Hausherrn die Leitung des ganzen Betriebs, die Verwaltung der Landgüter, die Führung der Handelssekretäre und Bergwerksleiter und berichtet über die sich stetig verzweigenden und unübersichtlichen geschäftlichen Dinge an ihren Gemahl.
Unmittelbar bedeutet die Heirat für Kaspar Stockalper zweierlei: Die Verbindung mit der Familie von Riedmatten mit ihrer langen Ahnenreihe von Bischöfen und Amtsträgern ist für Stockalper der definitive Schritt in die politische Führungsschicht des Wallis und erleichtert ihm, wie sich bald zeigen wird, den Zugang zu wichtigen Ämtern auf Landesebene. Wirtschaftlich ist Cäcilia wohl eine noch weit bessere Partie als seine erste Ehefrau Magdalena. Wie viel Frauengut Cäcilia in die Ehe einbringt, lässt sich aufgrund der Dokumente in Stockalpers Nachlass nicht eruieren, aber es dürfte erheblich gewesen sein.69
Zu Beginn seiner Karriere als Geschäftsmann und Politiker verfügt Stockalper somit über eine nicht allzu breite, aber solide Ausbildung, über die für die Handelstätigkeit mit unterschiedlichen Partnern und in wechselnden Rechtsordnungen höchst wertvollen Fremdsprachen, über ein geschäftliches Informationsnetz, über politische Beziehungen, vor allem aber über ein ansehnliches Startkapital. Zur Verfügung steht ihm von Anfang an der Ertrag aus seinem Anteil am väterlichen Erbe mit dem alten Stammsitz und weiteren Gütern und einiges an Wertgegenständen, wie das »Verzeichnus meines Silbergschirs« belegt.70 Hinzu kommen die Mitgift von Magdalena Zum Brunnen, die Mitgift von Cäcilia von Riedmatten sowie die Einkünfte aus dem anziehenden Transitgeschäft und bald auch aus der Eisenverhüttung. 1639 kommt es zu einer Übereinkunft, in der die vier Brüder Kaspar, Michael, Johann und Anton sowie das »Joderli«, Sohn des 1630 verstorbenen Bruders Crispin, das väterliche Vermögen per interim bis zum Tod der Mutter teilen. Ein Fünftel des väterlichen Erbanteils soll Kaspar zufallen, das »Joderli« will er »mit seiner Substanz zu handen« aufnehmen, sodass er mit dessen Anteil auf eigene Rechnung und gegen Entrichtung eines jährlichen Zinses wirtschaften kann.71 1640 stirbt Bruder Michael und Anfang 1642 Mutter Anna Im Hoff, auch deren Erbanteile werden in der Familie aufgeteilt. Insgesamt dürfte Kaspar Stockalpers Startkapital zu Beginn seiner Laufbahn einige 10000 Pfund oder gegen 1000 Kühe betragen haben.72 Auch wenn diese Mittel zum grossen Teil nicht liquid sind, kann er sie durch Schuldverschreibungen mühelos zu Spielgeld machen. Das braucht er jetzt. Denn wenige Tage vor seiner Hochzeit mit Cäcilia von Riedmatten ist etwas geschehen, das die Politik des Wallis grundlegend verändert und Kaspar Stockalper unverhofft politische und geschäftliche Möglichkeiten eröffnet.
»Annus prosperrimus«
Im Frühling 1638 stirbt der von Krankheit und Alter gezeichnete Grossunternehmer und Landeshauptmann Michael Mageran, der die Wirtschaft und die Politik des Wallis zwei Jahrzehnte dominiert hat. Jetzt ist der Weg frei für Stockalper. Er vermerkt das Ableben seines Konkurrenten in seinen »für künftige Jahrhunderte äusserst nützlichen Anmerkungen« mit drei dünnen Zeilen und kaum verhohlener Schadenfreude. »Anno 1638, die ~ may, obyt illustrissimus dominus ballivus Michael Mageran, multorum votis paucorum moerore.« – »Im Jahr 1638, am ~ Mai, starb der erlauchteste Herr Landeshauptmann Michael Mageran, auf den Wunsch vieler, zur Trauer weniger.«73
Nachdem also Mageran auf vielseitigen Wunsch das Zeitliche gesegnet hat, bricht die Ära Kaspar Stockalper an, in der sich dieser voll entfalten wird. Das Jahr 1639 ist für ihn das Jahr des Durchbruchs, wirtschaftlich wie politisch. Er wird es sein »annus prosperrimus«74 nennen, sein höchst vorteilhaftes, äusserst günstiges Jahr. Offenbar herrscht nun nicht mehr nur in seinem Zenden Brig, sondern auch auf Landesebene die Ansicht vor, er sei der kommende Mann. Gleich reihenweise werden ihm Privilegien zugehalten, Aufgaben anvertraut und Ämter übertragen, die ihn überall in Schlüsselpositionen bringen, sein Ansehen mehren und seine Geschäfte beflügeln.
In der Junisession bittet ihn der Landrat, das Transitmonopol im Wallis zu übernehmen, das Mageran innehatte, das aber seit mehreren Jahren brachliegt. Formal ist es die alleinige Befugnis, die Transitgebühren für Fuhren durch das Wallis einzuziehen. Dabei stellt der Landrat ihm frei, jährlich hundert Silberkronen pauschal an den Staatssäckel abzuliefern oder zwei Drittel der eingezogen Trattengebühren zu übergeben.75 In kühler Kalkulation wählt Stockalper in einem Vertrag über zwölf Jahre nicht die fixe Summe, sondern die mengenabhängige Variante, denn »in Anschaw, dass wan sich ein gutter Generalfriden (den uns Gott gnädig verliche) under den Potentaten tractirt, wurden die Kaufmannswharen in geringer Zahl hiedruch passieren«.76 So begrenzt er sein Risiko, falls der Krieg in Europa endet und die kriegsbedingte Konjunktur am Simplon zurückgeht. Der Dreissigjährige Krieg will jedoch nicht so bald enden, und damit auch nicht Stockalpers Profit an dieser Situation. Im ersten Jahr liefert er etwa hundert Kronen ab und fordert von seinen Geschäftspartnern auch rückwirkend die Trattengelder für die Zeit des Interregnums ein, später überantwortet er dem Staatssäckel bis zu 400 Kronen. Das Geschäft läuft, von einigen Baissen abgesehen, blendend. Von 1638 bis 1645 transportiert Stockalper rund 4100 Ballen, im Jahresdurchschnitt also gut 500 Ballen oder 33 Tonnen Ware, von Italien nach Frankreich. Umgekehrt von Frankreich nach Italien sind es insgesamt 8200 Ballen und damit im Schnitt 1000 Ballen pro Jahr. Allein im ersten Jahrzehnt, so ist errechnet worden, bringt ihm sein Speditionsgeschäft nach Abzug der Monopolabgabe Einnahmen von mindestens einer Million Franken nach heutiger Kaufkraft ein.77
Vor allem aber versetzt das Transitmonopol Stockalper in die Lage, die Verkehrsinfrastruktur von Gondo über den Simplon durchs Wallis bis an den Genfersee unter seine Kontrolle zu bringen, nach seinen Bedürfnissen auszubauen und den gesamten Verkehr für seine Zwecke zu reorganisieren. Mit dem Ziel, dass der Warenstrom kontinuierlich und reibungslos fliesst und Zölle, Weggelder und weitere Gebühren in seine Kassen spült, startet er, oft auf