Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser
Tastatur zu erreichen und darauf klimpern zu können, muß der von Geburt Kleinwüchsige die Hände über den Kopf erheben. Noch am Tag darauf wird das »klingende Monstrum«, wie sich Mahler als erwachsener Mann erinnern wird, auf den Ochsenwagen geladen und nach Iglau transportiert. Bevor es dort in Betrieb genommen werden kann, müssen die Pedale mit Holzklötzen verlängert werden, die auf die kurzen Beine des Halbwüchsigen zugeschnitten sind.
Noten sind teuer, also bezieht man sie im Abonnement aus der Leihbibliothek. Kein Mangel besteht an Musiklehrern: Iglau hat ein florierendes Kulturleben. Eine Zeitlang nimmt sich der Kapellmeister des Stadttheaters des kleinen Gustav an, dann das eine oder andere Orchestermitglied, schließlich der mit der Familie Mahler befreundete Regens Chori von St. Jakob und Leiter des örtlichen Männergesangvereins, Heinrich Fischer.
Als unser Wunderknabe zehn ist, darf er sich zum ersten Mal vor Publikum produzieren: Die Lokalzeitung bescheinigt dem »künftigen Klaviervirtuosen« beachtlichen Erfolg und beanstandet nur die mangelnde Qualität des ihm zur Verfügung gestellten Instruments.
Seit kurzem besucht er das Deutsche Gymnasium in der Tiefen Gasse. Seine schulischen Leistungen lassen allerdings zu wünschen übrig: In den meisten Fächern bringt es der verträumte Knabe, der mit seinen Gedanken oft ganz woanders zu sein scheint als bei dem verordneten Lehrstoff, nur bis zum Mittelmaß, und auch in punkto Betragen muß er so manche Rüge einstecken. Als ihn einer der Professoren fragt, was er denn später einmal werden wolle, antwortet er: »Märtyrer.« Aus dem Munde eines Juden hört sich das für den bornierten Provinzpädagogen wie Blasphemie an. Die Folge: Der »Provokateur« wird abgestraft.
Vater Mahler, außer sich vor Enttäuschung über die mangelhaften schulischen Fortschritte seines Ältesten, versucht es mit einem »Gastjahr« in Prag. Doch das Experiment schlägt fehl: Von seinen dortigen Quartiergebern miserabel betreut, kehrt Gustav alsbald wieder ins Elternhaus zurück und schafft mit Ach und Krach – und erst nach zweimaligem Antreten – die Matura. Da er inzwischen einen weiteren Konzertauftritt absolviert hat, dessen Reinertrag er seiner Schule zum Ankauf von Lehrmitteln hat zukommen lassen, drücken die Professoren ein Auge zu und stellen ihm am 12. September 1877 trotz mehrerer »nicht genügend« das Reifezeugnis aus. Da zumindest Gustavs außerordentliche Musikalität außer Streit steht, will ihm niemand bei dem geplanten Wechsel ans Wiener Konservatorium im Weg stehen.
Auch aus familiären Gründen ist ihm Iglau seit einiger Zeit verleidet: Der Gerechtigkeitsfanatiker, der eines Tages eine reichgefüllte Geldbörse findet und bei der Polizei abliefert (was sogar in der Stadt ausgetrommelt wird) und der trotz seines knapp bemessenen Taschengeldes an keinem Bettler vorübergeht, mag nicht länger mitansehen, wie sein jähzorniger Vater Frau und Kinder schikaniert. Wenn die Mutter – wie so oft – mit Migräne daniederliegt, verweilt ihr Ältester stundenlang am Krankenbett und betet für ihre Genesung.
Worunter Gustav besonders leidet, ist der Verlust des Lieblingsbruders Ernst. Der zwei Jahre Jüngere (von den insgesamt zwölf Geschwistern eines der sechs, die überhaupt überleben) stirbt im April 1875 an einem Herzleiden. Gustav reagiert auf die Katastrophe mit den Mitteln der Musik und komponiert eine Oper, in der er das Schicksal der Titelfigur (»Ernst, der Herzog von Schwaben«) mit dem Gedenken an den geliebten Bruder verknüpft.
Die Weichen für seinen Weggang aus Iglau werden noch im selben Jahr während eines Ferienaufenthaltes auf dem acht Kilometer entfernten Landgut Rostov gestellt, wo der dortige Domänenverwalter auf die außergewöhnliche Begabung seines jungen Gastes aufmerksam wird. Dieser Gustav Schwarz, selber hochmusikalisch, ist es, der Vater Bernard Mahler sowohl mit brieflichen Appellen wie in persönlicher Vorsprache die Zustimmung abringt, seinen Ältesten zum Musikstudium nach Wien gehen zu lassen. Zum Vorspielen bei dem renommierten Konzertpianisten, Herausgeber der Schubert-Klavier-Sonaten und Professor am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, Julius Epstein, begleitet er ihn sogar persönlich in die Hauptstadt. Sein Einsatz lohnt sich: Spätestens, als der Kandidat nach dem Abspielen herkömmlicher Talentproben zum Intonieren eigener Kompositionen übergeht, erkennt Epstein, welches Genie er vor sich hat, und läßt Vater Mahler ausrichten: »Der wird Ihre Schnapsfabrik nicht übernehmen.«
Rasch ist ein Untermietzimmer für den angehenden Musikstudenten gefunden: Im 4. Stock des Hauses Margaretenstraße 7 hält der siebzehnjährige Gustav Mahler Einzug. Bei Franz Krenn belegt er die Fächer Komposition und Kontrapunkt, bei Robert Fuchs Harmonielehre, an der Universität besucht er die Vorlesungen von Anton Bruckner, und Julius Epstein, für die weitere Vervollkommnung am Klavier zuständig, ist und bleibt der große Gönner, der ihm auch zuredet, das wenig verlockend erscheinende Kapellmeisterengagement anzunehmen: beim Kurorchester in dem oberösterreichischen Thermalbad Hall. Kommentar des 28 Jahre Älteren: «Egal, wo Sie beginnen – Sie werden bald andere Stellungen finden.«
Gustav Mahler findet sie in Laibach, Olmütz, Prag und Leipzig. 1888 wird er Chef der Budapester Oper, 1891 erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater, 1897 Direktor der k.k. Hofoper in Wien.
In den ersten Jahren nach seinem Weggang aus Iglau kehrt er, so oft es ihm der Terminkalender erlaubt, besuchsweise ins Elternhaus zurück, verbringt daheim Feier- und Ferientage. Bei Konzertauftritten versucht er den Iglauern seine eigene Musik nahe zu bringen, ohne deswegen »Leichteres« zu verschmähen: Am 21. September 1882 dirigiert der Zweiundzwanzigjährige sogar eine Operette – es ist Franz von Suppés »Boccaccio«.
Auch seine erste Liebe absolviert er in Iglau: Der gleichaltrigen Josefa Poisl, Tochter des Vorstandes des örtlichen Telegraphenamtes, widmet der Achtzehnjährige gefühlvolle Briefe, Gedichte und Lieder. Eines davon, »Maitanz im Grünen«, erinnert daran, daß er von Kind an, als er noch an der Seite des Vaters die Wälder der Umgebung durchstreift, eine starke Liebe zur Natur empfindet. Auch davon, also von den Stimmen der Landschaft, der Bäume, der Vögel, des Himmels und der Erde wird in späteren Jahren so manches in sein Werk einfließen.
Als im Februar 1889 der Vater und acht Monate später die Mutter stirbt, nimmt er die Errichtung eines repräsentativen Grabmals in die Hand, löst das Familieneigentum auf, begleicht die angefallenen Schulden, kümmert sich um die Geschwister. Von der gesamten Hinterlassenschaft nimmt er nur den alten, schon zerschlissenen Lehnstuhl des Vaters nach Wien mit – vielleicht, um damit seine Entschlossenheit zu signalisieren, fortan die verantwortungsvolle Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen. Den Schwestern Justine und Emma ist er ein vorbildlicher Vormund, den musikalisch talentierten Bruder Otto holt er nach Wien und verschafft ihm einen Ausbildungsplatz am Konservatorium. Das Wohnrecht, das ihm die Stadt Iglau einräumt, wird er niemals aufgeben, auch wenn er davon keinerlei Gebrauch macht.
Gustav Mahler ist keine 51 Jahre alt, als er am 18. Mai 1911 in Wien stirbt; die Beisetzung erfolgt auf dem Grinzinger Friedhof. Auch wenn die Stadt seiner Kindheit und Jugend in den folgenden Jahrzehnten keine Gelegenheit auslassen wird, ihres großen Sohnes zu gedenken und zu den runden Geburts- und Todestagen Mahler-Konzerte, Feierstunden und Denkmalsenthüllungen zu veranstalten – die Iglauer Ehrenbürgerschaft, zuerst von den Nazis und nachher auch von den Kommunisten im Stadtsenat abgelehnt, erhält er erst 88 Jahre nach seinem Tod. Von den Ubikationen, die seinen Namen tragen, sind nur das im ehemaligen Elternhaus installierte »Café Mahler« und das zum »Hotel Gustav Mahler« umgewandelte Dominikanerkloster ganzjährig zugänglich. Die vorzügliche Dauerausstellung »Der junge Gustav Mahler und Iglau« ist zwischen November und April geschlossen. Dr. Alena Jakubicková, die ebenso kundige wie freundliche Kustodin, macht bei mir eine Ausnahme und geleitet mich trotz »Wintersperre« durch die sehenswerte Sammlung. Ganzjährige Öffnung, so gibt sie mir zu verstehen, lohne den Aufwand nicht: Die Zahl der Besucher, die nach Iglau kommen, um auf Gustav Mahlers Spuren zu wandeln, halte sich in engen Grenzen.
Aus: Die böhmische Großmutter, 2005
Dietmar Grieser auf den Spuren bewegender Schicksale
Eine Liebe in Wien
Nikolai Basilowitsch Kobelkoff
Die Zeiten, da Behinderte ihre Behinderung zum Beruf machen mußten, sie »ausstellen«, stilisieren und deren Bezwingung zur Zirkus-, Varieté- oder Schaubudennummer ummünzen,