Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser

Dietmar Grieser für Kenner - Dietmar Grieser


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Mahler kommt erst als Kleinkind von drei Monaten in die mit ihren 17 000 Einwohnern drittgrößte Stadt Mährens: Sein Geburtsort ist das 40 Kilometer entfernte Dorf Kalischt, wo Vater Bernard eine kleine Branntweinschenke betreibt. In späteren Jahren wird der inzwischen Arrivierte, mit der Bratschistin Natalie Bauer-Lechner im Böhmerland unterwegs, in dem nach wie vor unattraktiven Nest Station machen und seiner Seelenfreundin die Stätte seiner Herkunft zeigen:

      »Siehst du, in einem so armseligen Häusel bin ich geboren; nicht einmal Scheiben waren in den Fenstern. Vor dem Haus breitete sich ein Wassertümpel aus.«

      Heute, weitere 110 Jahre später, findet der Tourist die 1937 niedergebrannte Keusche nach den ursprünglichen Plänen wiederaufgebaut: Mit dem Autohersteller Opel und dem tschechischen Filmregisseur Miloš Forman als Sponsoren ist während der Präsidentschaft Václav Havels aus dem Mahler-Geburtshaus ein vielfrequentiertes Musikzentrum geworden.

      Gustav Mahlers Vater Bernard ist ein gutes Beispiel für den sowohl geschäftlichen wie sozialen Aufstieg der lange Zeit in ärmlichsten Verhältnissen lebenden jüdischen Minderheit. Seine Mutter, als Wanderhändlerin noch mit 80 Jahren zu Fuß unterwegs, um, den Korb auf dem Rükken, von Haus zu Haus ihre Tücher und Bänder feilzubieten, wird wegen unbewilligter Geschäfte von der Behörde aufgegriffen. Daß es ihr gelingt, eine Audienz beim Kaiser zu erwirken, und tatsächlich Straferlaß erreicht, mag schon ein erstes Indiz für jene unbändige Energie und Durchsetzungskraft sein, die später – und auf gänzlich anderem Gebiet – ihr Enkel Gustav entwickeln wird, dem seine Erfolge als Musiker, Dirigent, Theaterleiter und Komponist ja ebenfalls nicht in den Schoß fallen …

      Auch Vater Bernard Mahler fängt klein an: Er nimmt Gelegenheitsarbeiten in dieser und jener Manufaktur an, ehe er sich als Fuhrmann selbständig macht, und da er auf seinen Ausfahrten stets Lesestoff mit sich führt, sich sogar in französische Bücher vertieft (was ihm den Spitznamen »Kutschbockgelehrter« einträgt), findet er fallweise auch als Hauslehrer Verwendung. Wirklich sanieren kann er sich allerdings erst mit Hilfe seiner Frau: Die zehn Jahre jüngere Marie Hermann, Tochter eines begüterten jüdischen Seifensieders aus dem nahen Ledetsch, tritt mit einer Mitgift von 3500 Gulden in den 1857 geschlossenen Ehebund ein. Zwar passen die sanftmütige, von Geburt an mit einem Gehfehler behaftete Marie und der zu Jähzorn und Gewalttätigkeit neigende Bernard wie Feuer und Wasser zueinander, doch den Brauteltern scheint das zielstrebige Naturell des Bräutigams zu imponieren, und dieser wiederum hat es auf das Geld seiner Zukünftigen abgesehen.

      Das zweite der insgesamt 13 Kinder, die Marie Mahler, die fast ununterbrochen Schwangere, zur Welt bringt, ist Gustav. Isidor, der Erstgeborene, kommt, nur wenige Wochen alt, bei einem Unfall ums Leben. Mit Hilfe der Hermannschen Mitgift kann die dreiköpfige Jungfamilie 1860 den Sprung in die Stadt wagen: Am 22. Oktober – da ist Gustav dreieinhalb Monate alt – wird nach Iglau übersiedelt.

      Die nach Brünn und Olmütz drittgrößte Stadt Mährens, einst für ihren Silberbergbau, nun für ihr Tuchmachergewerbe berühmt, ist Sitz der Bezirkshauptmannschaft, verfügt über eine große Garnison und wird bald auch – freilich mit einer weitab vom Zentrum gelegenen Station – ans Eisenbahnnetz angeschlossen werden. Wandernde Handwerkergesellen haben im ausgehenden 16. Jahrhundert eine Meistersingerschule in Iglau gegründet, und im Gymnasium wird während der Reformationszeit nach den Lehrplänen des Kirchenreformers Melanchthon unterrichtet. Das Drei-Sparten-Theater (für Schauspiel, Oper und Operette) hat über 1000 Plätze; in der Pfarrkirche zu St. Jakob werden Mozarts Requiem und Rossinis Stabat mater aufgeführt. Der langgestreckte, von stolzen Patrizierhäusern umstellte Marktplatz ist der größte des Landes; die zu vier Fünfteln vorherrschende Umgangssprache ist Deutsch.

      Seitdem Kaiser Franz Joseph am 21. Oktober 1860 sein Manifest »An meine Völker« erlassen hat, das den habsburgischen Kronländern ein deutliches Mehr an Eigenständigkeit einräumt, ist auch die Niederlassungsfreiheit für die jüdische Minderheit gesichert; in einem eigenen Dekret wird ihnen das Recht zugestanden, Grundbesitz zu erwerben.

      Einer der ersten, die davon Gebrauch machen, ist der siebenundzwanzigjährige Bernard Mahler: Mit Gattin Marie und Söhnchen Gustav richtet er sich in dem Haus Pirnitzergasse Nr. 264 ein. Die von der Behörde erteilte Konzession zur Herstellung von Spirituosen erlaubt ihm die Gründung eines Kleinbetriebes, dem er den etwas hochtrabenden Namen »Rum-, Punsch-, Rosoglio-, Liqueur- und Essenzenfabrik« gibt; im Parterre eröffnet er außerdem einen Ausschank für seine Produkte. Die Wohnräume befinden sich im ersten Stock: die für die Familie bestimmten straßenseitig, die fürs Gesinde nach hinten hinaus, Richtung Hof. Hat sich unser Jungunternehmer während der Jahre auf dem Lande noch mit der zu mancherlei Schikanen neigenden Obrigkeit herumschlagen müssen, die ihm unberechtigten Verkauf von Brot, Alkoholausschank an dafür nicht zugelassenen Orten sowie willkürliche Überschreitung der Sperrstunde vorhielt, so ist er im liberaleren Iglau sein eigener Herr, dem sehr bald auch das Bürgerrecht verliehen wird und der außerdem in der örtlichen Judengemeinde eine wichtige Funktion übernimmt.

      Seine Geschäfte – der Verbrauch von Kartoffeln, Gerste, Anis und Kümmel für die Schnapsherstellung nimmt stetig zu – entwickeln sich so prächtig, daß Bernard Mahler nach einigen Jahren das Nachbarhaus hinzukaufen kann. Da stehen auch die Chancen für Sohn Gustav gut, daß er, wenn es einmal so weit ist, mit einer erstklassigen Ausbildung rechnen kann. Mit sechs tritt er in die k.k. Hauptschule in der Brünnergasse ein; der Kontrabassist der Iglauer Stadtkapelle, Jakub Sladký, erteilt dem Vierjährigen den ersten Klavierunterricht.

      Das musikalische Talent des Heranwachsenden meldet sich übrigens schon früher. Er hat noch kaum laufen gelernt, da kann er jedes Lied, das er aufschnappt, jeden Gassenhauer, den die Dienstboten vor sich hinträllern, fehlerlos nachsingen, und als er mit drei Jahren sein erstes eigenes Instrument erhält, eine Ziehharmonika, zeigen sich sowohl die Gäste in Vaters Branntweinschenke wie die Marktfrauen an ihren Verkaufsständen entzückt, wenn sich der Kleine vor ihnen mit seinem »Maurerklavier« produziert. Als er einmal vom Vater in die Synagoge mitgenommen wird, kommt es beinah zum Skandal: Mit den Worten »Aufhören, das ist ja furchtbar!« bringt er die singende Gemeinde zum Schweigen und stimmt seinerseits ein altes böhmisches Volkslied an. Gotteshäuser haben es ihm überhaupt angetan: Da er eine Zeit lang im Kirchenchor von St. Jakob mitsingt, ist er mit der Liturgie der Katholiken (zu deren Glauben er zur Zeit seines Wiener Dirigentendebüts 1897 übertreten wird) besser vertraut als mit den Ritualen des jüdischen Bethauses.

      Zumindest, was die Weckung seiner musikalischen Talente betrifft, ist Iglau für den heranwachsenden Gustav Mahler ein wahres Paradies: Wenn früh morgens die Militärmusik am elterlichen Haus in der Pirnitzergasse vorbeizieht, kann ihn nichts, auch wenn er noch im Nachthemd steckt, davon abhalten, aufs Trottoir zu stürzen und den Soldaten hinterherzulaufen. Auch das Fiedeln der Straßenmusikanten, die Melodien des Leierkastenmannes und die Trompetenstöße beim Morgen- und Abendappell vor der Kaserne oder auf dem Exerzierplatz ziehen ihn magisch an – und zwar mit solcher Nachhaltigkeit, daß in späteren Jahren so manches davon in seine eigenen Kompositionen eingehen wird. Wenn musiziert wird, vergißt er alles andere, was rund um ihn vorgeht: Einmal macht er angesichts einer Militärkapelle, deren Märschen er lauscht, sogar in die Hose, und eine Passantin, deren feine Nase den Vorfall registriert hat, stellt den »Missetäter« zur Rede und fordert ihn auf, eilends den Heimweg anzutreten.

      Als ihn die Eltern mit sechs Jahren ins Photoatelier mitnehmen, wird als Requisit für Gustavs Konterfei ein Fauteuil gewählt, auf dessen Sitzfläche ein Notenblatt liegt. Tatsächlich datieren aus dieser Zeit seine ersten eigenen Komponierversuche; es sind ein Trauermarsch, der in eine Polka übergeht, sowie ein Lied, für das ihm das Lessing-Gedicht »Die Türken haben schöne Töchter« als Textvorlage dient. Bei beidem handelt es sich um »Auftragsarbeiten«: Die Mutter hat ihm zwei Kreuzer versprochen, falls es ihm gelänge, das kostbare Notenpapier von Tintenklecksen freizuhalten. Wen kann es da wundern, daß der Dreikäsehoch, der gerade erst schulpflichtig geworden ist, selbst die ersten Klavierschüler um sich schart? Gustav ist ein strenger Lehrer: Bei jedem falschen Ton setzt es eine Ohrfeige, und wenn sich der Kandidat weiter als ungelehrig erweist, kann ihm auch eine zünftige Strafarbeit blühen: hundertmaliges Abschreiben des Satzes »Ich soll cis spielen und nicht c«.

      Daß Gustav schon vor seinem Schuleintritt über ein eigenes Klavier verfügt,


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